Zuhause
Nachdem die Staubwolke und ihr Hustenanfall sich weitest gehend gelegt hatten, öffnete Jana langsam ihre Augen und richtete sich langsam auf. Sie befand sich in einem kleinen, beengten Kellerraum, vielleicht 20 Quadratmeter groß. Die Wände waren rau und unverputzt, an einigen Stellen hingen aus kreisrunden Löchern Kabel heraus, deren Nutzen nicht zu erkennen war. Ein winziger Kühlschrank und ein völlig zerrissenes Sofa bildeten die gesamte Einrichtung. Wie die beiden Gegenstände in den Raum gekommen waren, schien unerklärlich, denn das schmale Fenster, durch das Jana gestürzt war, bildete den einzigen Eingang zu dem kleinen Raum. Nur dem genauen Betrachter fiel ein rechteckiger Fleck an der Wand auf, an dem früher eine Tür gewesen sein konnte.
Diese Tür war zugemauert worden, als die Parasiten, wie die künstlich erschaffenen Menschen von den natürlichen Kindern meistens genannt werden, vom Präsidenten darüber informiert wurden, dass die so genannten „natürlichen Kinder“, welche nicht in einem Reagenzglas konstruiert worden waren, sondern auf gewöhnlichem Wege auf die Welt kamen, eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ darstellten. Das Zumauern des Eingangs war sehr hektisch geschehen, die Parasiten bemerkten erst im Nachhinein, dass sich die zwei Gegenstände noch in dem Raum befanden. Genau so hatten sie vergessen, dass es noch einen anderen, wenn auch umständlichen Weg gab, in den Keller zu gelangen. Das schmale Fenster zwischen Bürgersteig und Hauswand, gerade breit genug, einen schmalen Menschen einzulassen.
Jana konnte sich noch gut daran erinnern, was es für ein Gefühl gewesen war, als Jasper und sie den kleinen Raum entdeckt hatten. Es war ihr wie ein kleines Wunder vor gekommen. Der Kühlschrank war kein richtiger Kühlschrank, da der Strom, den er zum Kühlen brauchte, schon lange abgestellt war, und der Raum war so klein wie eine Toilette in den Häusern der Parasiten. Doch Jana hatte sich sofort wohl gefühlt. Jasper war dagegen gewesen, den Raum als ihr neues Zuhause anzuerkennen, aber am Ende hatte Jana ihn überredet. Zwar war es gefährlich, ein Versteck so nahe am Stadtzentrum zu haben, doch diese Tatsache verkürzte auch die Wege erheblich, die sie zurück legen mussten, um an Nahrung zu kommen. Das war vor zwei Jahren gewesen. Nur wenige Tage, nachdem der Präsident das neue Gesetz verabschiedet hatte, in dem es hieß, die natürlichen Kinder seien eine Gefahr für die Allgemeinheit. Seitdem war der kleine Kellerraum ihr Zuhause, oder zumindest das, was so etwas in der verqueren Welt, in der sie lebten, am nächsten kam.
Ein wenig verlegen blickte Jana nach oben in Jaspers Gesicht, das einen vorwurfsvollen Ausdruck zeigte. „Es tut mir leid.“, murmelte sie leise. „Ich erkläre es dir später.“
Seine Züge wurden ein wenig weicher. Die sandfarbenen Haare, die Jana regelmäßig mit einer mehr oder weniger stumpfen Scherer kürzte, hingen ihm ins Gesicht und seine Wangenknochen stachen hervor. Seine braunen Augen musterten sie nun besorgt.
„Was ist mit deinem Arm passiert?“
„Nichts. Bin irgendwo hängen geblieben.“
Sie wandte den Blick ab. Sie wollte nicht auch noch dafür umsorgt werden, dass sie so blöd gewesen war, sich von den Polis erwischen zu lassen. Vorsichtig stand Jana auf und ging zu dem kleinen Kellerfenster und schlug es mit ihrem unverletzten Arm energisch zu. Auch wenn die Polis viel zu massig waren, um durch den schmalen Spalt zu ihnen durchzudringen, so wollte sie doch das Risiko nicht eingehen, durch ein offenes Fenster erschossen zu werden. Kurz fiel ihr Blick auf ihr leicht verzerrtes Spiegelbild in der Plexiglasscheibe. Es zeigte ein dünnes Mädchen von sechzehn Jahren, dessen braune Haare ihr wie ein dunkler Vorhang um das schmale Gesicht fielen. Ihre Gesichtszüge waren fein und hätten vielleicht hübsch sein können, hätte sich dort nicht eine Härte eingeschlichen, die ihm eine leichte Kälte verliehen. Hunger und Entbehrung hatten die mädchenhaften Züge vertrieben, die ihr Gesicht in früheren Jahren ausgemacht hatten. Ihre Augen waren von einem Blaugrau, wie ein Herbsthimmel, an dem sich ein Sturm zusammen braut.
Jana wandte den Blick ab. Sie mochte das Bild nicht. Es zeigte ihr keine Person, die sie mochte.
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