Seil
Zögerlich folgte Jana Katharina auf das Stück vielversprechende Freiheit zu. Nur, um dann enttäuscht stehen zu bleiben. Sie befanden sich sicherlich drei Meter über der Stadtmauer, die Jana schon vorher kennen gelernt hatte, die Scherben glänzten und glitzerten in einer Art grausamer Schönheit in der aufgehenden Sonne. Hinter der Mauer war der Boden von scharfkantigen Steinen übersäht. Dahinter zog sich eine Wüste, wie Jana sie bisher nur aus Geschichten gekannt hatte, sandig und mit vielen rauen Steinen, die in der aufgehenden Sonne in einem sanften orangenen Licht beinahe zu glühen schienen.
„Ich weiß, was du denkst“, murmelte Katharina leise. „Aber hier kommen wir nicht weg. Es sind nicht nur die Steine und die Scherben, auch wenn es so den Eindruck macht. Die Stadt ist nicht nur sichtbar umzäunt.“ Sie hob einen kleineren Stein vom Boden auf, wog ihn kurz prüfend in der Hand und warf ihn dann mit ein wenig Schwung in die Luft. Für einen Moment wunderte Jana sich, was genau sie ihr zeigen wollte, dann zischte es und der kleine Stein ging vor ihren Augen zischend in Flammen auf und verschwand in der Dauer eines Wimpernschlags, vielleicht zwei oder drei Meter von der Mauer entfernt. „Eine Elektrizitätssperre.“, sagte Jana leise. „Aber wie kommt dann der Präsident aus der Stadt?“
„In seinem Hubschrauber. Die Sperre ist nicht sehr hoch, nur gerade so hoch, dass man nicht mehr darüber springen oder klettern kann“, antwortete Katharina bereitwillig. „Er fliegt einfach darüber hinweg.“
„Willst du noch lange da herumstehen und philosophieren oder können wir langsam mal reingehen?“, kam Nils´ scharfe Stimme von hinten.
Katharina warf ihm einen verächtlichen Blick zu, antwortete aber nicht. Mit einem unwirschen Brummen drängte der junge Mann sich an den beiden Mädchen vorbei und wandte sich nach links. Für einen Moment dachte Jana entsetzt, er wollte an der Seite hinunter springen, dann entdeckte sie das Seil, das nicht weit von der Hauswand entfernt über dem Boden gespannt war, von genau der gleichen Art wie das, mit dem sie überhaupt erst in den Spalt gelangt war. Jana schluckte heftig. „Wir müssen da nicht drüber, oder?“
Katharina zuckte nur mit den Schultern und überquerte das Seil hinter Nils, die Hauswand kaum berührend. „Na komm“, rief sie und lächelte aufmunternd. „So schwer ist es nicht. Halt dich einfach an der Wand fest und lehn dich zur Seite.
„Du hast ja leicht reden“, murmelte Jana missmutig. Erneut spielte sie mit dem Gedanken, einfach wegzugehen. Ihr war klar, wie genial dieses Versteck war und wie gut die Idee mit dem Seil. Es war dick genug, um einen Menschen zu tragen, doch sie bezweifelte, dass es auch einen Polis halten könnte. Gerade dieser Fakt war es, der Jana wieder misstrauisch machte. Es war beinahe zu gut.
„Na komm schon“, kam Katharinas Stimme von der anderen Seite.
Jana war klar, dass das hier vermutlich vorerst ihre letzte Chance war, einfach abzuhauen. Aber sie war unglaublich müde und jetzt, wo die Sonne aufging, war es wahrscheinlich sowieso nicht so günstig, alleine auf der Straße umherzulaufen. Alleine. Jasper. Was wohl mit ihm geschehen war? Ein Stich schlechten Gewissens durchfuhr Jana. In den ganzen Geschehnissen hatte sie ihren besten Freund beinahe vergessen. Sie konnte nicht einfach herum sitzen und Däumchen drehen, während er wahrscheinlich in Lebensgefahr schwebte. Jana trat einen Schritt von dem Seil zurück. „Ich kann nicht.“
„Was soll das heißen? Es ist nur ein Seil!“
„Nein, du verstehst nicht. Ich bin noch nicht lange alleine. Ich kann meinen Freund nicht alleine lassen.“
„Deinen Freund?“ Katharinas Augenbrauen wanderten ihre Stirn nach oben. „Wo ist er?“
„Im Imperias. Wir… ich bin in eine Falle gegangen aber er ist es, den es erwischt hat. Ich muss ihn da rausholen. Ich habe keine Zeit, mich hier bei euch auszuruhen.“
„Du willst alleine ins Imperias? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.“
„Es ist nicht so, dass ich eine großartige Wahl hätte!“
„Du hast eine Wahl. Du hast immer eine Wahl.“ Jana stöhnte auf. Es war ihr, als hätte sie diesen Satz heute schon einmal gehört. „Du könntest jetzt einfach über dieses Seil kommen, und wir überlegen uns gemeinsam, was wir wegen deinem Freund anstellen können. Einverstanden?“
Jana biss sich nervös auf die Unterlippe. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Und Katharina hatte Recht, sie hatte keine großen Chancen, wenn sie versuchen wollte, alleine ins Imperias zu gehen. Winzige, beinahe nicht existente Chancen, um genau zu sein. Trotzdem… irgendetwas in ihr sagte ihr, dass etwas hier nicht stimmte. In dem Moment, als sie die endgültige Entscheidung treffen und sich wegdrehen wollte, ging eine schmale Tür hinter Katharina, durch die Nils vor mehreren Minuten verschwunden war, wieder auf und er blickte eindeutig gereizt nach draußen. „Was dauert den hier bei dir so lange? Traust du dich nicht, kleines Mädchen?“
Andererseits konnten einige Stunden Pause ihr sicherlich nicht schaden. Vorsichtig setzte Jana einen Fuß auf das Seil, das sofort begann, unter ihrem Gewicht hin und her zu schwanken. Sie spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, hörte ein verächtliches Schnauben und dass die Tür hinter Nils wieder geschlossen wurde.
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