Reue
Vollkommen verwirrt folgten die fünf ihrer stummen Führerin, die sie zügig durch die Gänge des Gefängnisses führte. Jeder Schritt ließ neue Wellen des Schmerzes durch Janas Körper schießen, doch sie ignorierte sie geflissentlich, sie spürte, dass sie sich auf dem Weg in die Freiheit befand, irgendwie. Das Licht war hier draußen heller und so hatte sie wenigstens die Gelegenheit, ihre Befreierin immerhin von hinten ein wenig ausgiebiger zu betrachten. Ihre Kleidung war modern, trotz ihres Alters, das, wie Jana nun erkannte, schon über siebzig liegen musste, und ihre grauen Haare hatte sie im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengebunden. Die Frau bewegte sich noch so, als wäre sie dreißig und nicht siebzig, diesen Teil von ihr hatte die Zeit anscheinend nicht beeinflussen können.
Es dauerte nicht lange, und sie hatten den Park, der im Zentrum des Imperias´ lag, erreicht. Lauwarme Nachtluft schlug Jana entgegen, und der zarte Duft von Blumen hing in der Luft. Der Park war völlig ausgestorben, offensichtlich hatten sich alle Parasiten in ihre Wohnungen zurückgezogen. In der Mitte des Platzes sprudelte ein Springbrunnen, sein Wasser glänzte silbern im Licht des blassen Mondes, der über dem Komplex hing. Endlich drehte die alte Frau sich um und blickte den fünf natürlichen Kindern in die Augen. Prüfend musterte Jana ihr Gesicht. Es war nur von wenigen Linien durchzogen, aber irgendwie hatte sie das seltsame Gefühl, dass die wenigsten dieser Falten vom Alter herrührten. Ein sanfter Ausdruck lag in ihren dunklen Augen, die in dem schwachen Licht beinahe schwarz erschienen. „Die Überwachungskameras sind abgeschaltet, ich konnte den Techniker, der nachts bedienen soll… ablenken. Er schläft jetzt, aber ich weiß nicht wie lange, und ich weiß auch nicht, wie lange er brauchen wird, bis er bemerkt, was geschehen ist. Ihr habt nicht allzu viel Zeit. Ihr müsst gehen. Und bringt möglichst schnell möglichst viel Abstand zwischen euch und diesen Ort.“
Wortlos starrte Jana die Frau an, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben musste, um ihnen diese Chance zu ermöglichen. „Wer sind Sie?“, wisperte sie. „Warum tun Sie das für uns?“
Statt einer Antwort drehte ihre Retterin ihnen den Rücken zu und blickte hinaus in den kleinen Park. „Das ist wunderschön, nicht wahr?“
Aus dem Konzept gebracht, blickte Jana in die angegebene Richtung, jedoch nicht, ohne vorher mit den anderen vorher einen irritierten Blick zu tauschen. Und die Frau lag nicht ganz falsch, der verlassene Park im Mondlicht hatte etwas, das vage an eine Märchenlandschaft oder einen halb vergessenen Traum erinnerte. Trotzdem gab keine eine Antwort.
„Diese Schönheit kann nur bestehen bleiben, weil diejenigen, die sie geschaffen haben, morden, foltern und unterdrücken, um sie aufrechtzuerhalten. Rechtfertigt das Schönheit?“
Noch immer gab ihr keiner der fünf Jugendlichen eine Antwort.
„Es ist meine Schuld…“, wisperte die Frau schließlich, ihre Stimme war so leise geworden, dass sie kaum noch zu vernehmen war. „Es ist meine Schuld, dass es jemals so weit kommen konnte. Ich war einer der zwei Menschen, die den haupten Beitrag dazu geleistet haben, dass es die künstlichen Menschen überhaupt gibt, zusammen mit meinem Kollegen Dominik.“
Es fiel Jana wie Schuppen von den Augen, und plötzlich wurde ihr klar, wen sie vor sich hatte, und warum diese Frau sie befreit hatte, warum sie dieses Risiko auf sich genommen hatte. Es war Reue. Und dennoch konnte sie nicht umhin, sich von ihr ein wenig abgestoßen zu fühlen, schließlich stand sie der Frau gegenüber, die einen großen Teil der Schuld daran trug, dass die Situation so war, wie sie heute war. Auf den Gesichtern ihrer Freunde las sie den gleichen Ausdruck… bis auf dem von Lizzy. Sie sah die alte, von schlechtem Gewissen gebeugte Frau mit nichts als einem Ausdruck tiefen Mitleids an.
„Wir wollten niemals, dass es so weit kommt.“, fuhr Nadja fort, das Gesicht immer noch von den fünf abgewandt. „Wir hatten große Ziele, wir wollten die Welt zum Positiven verändern, wir wollten den Weltfrieden herbeiführen und noch viel mehr. Dominik hat uns ganz am Anfang als Gottheiten bezeichnet. Und genau so haben wir uns auch aufgeführt, wir haben uns allmächtig gefühlt, schließlich konnten wir den Menschen nun die Eigenschaften geben, die sie brauchten, um friedlich miteinander zu leben.“ Sie stockte kurz, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. „Wir mussten feststellen, was schon viele andere vor uns feststellen mussten und was doch nur ganz wenige bisher wirklich verstanden haben. Dass Frieden nicht so einfach ist, wie er immer aussieht, und das es nicht reicht, einige Menschen mit den richtigen Eigenschaften in die Welt zu setzen. Unsere Entdeckung, unser ganzer Stolz hat sich gegen uns gewandt, und ihr seid nun diejenigen, die die Folgen tragen müssen. Ich kann euch nicht sagen, wie leid es mir tut, und ich wünschte so sehr, dass ich mehr für euch tun könnte.“
Danach herrschte einige Sekunden lang Stille, während in Janas Innerem Chaos ausbrach. Der rationale Teil von ihr sagte ihr, dass sie Mitleid haben sollte, dass sie versuchen sollte, Nadja zu verstehen, doch der andere, größere Teil, der von ihren Emotionen geleitet wurde, der war dagegen. Dieser Teil wollte, dass die alte Frau dafür büßte, was sie getan hatte, wollte, dass sie am eigenen Leib erfahren musste, was sie ausgelöst hatte in ihrem Größenwahn.
Endlich drehte sich Nadja wieder zu ihnen um, Tränen standen in ihren Augen, auch wenn ihre Gesichtszüge kühl und beherrscht wirkten. „Ich habe noch etwas für euch. Vorhin habe ich gehört, wie der Präsident sich mit dem Verräter unterhalten hat“ Ein scharfer Stich durchfuhr Jana. Unten in ihrer Zelle, frei von jeder Hoffnung, war Nils´ Verrat auf eine seltsame Art und Weise leichter zu ertragen gewesen als hier oben an der frischen, duftenden Luft, nur wenige Schritte von der Freiheit entfernt, „und er hat ihm von eurer verletzten Freundin berichtet. Es gibt nur wenige Gifte, die so zu bekommen sind, gegen die diese Tablette nicht wirken sollte. Gebt sie ihr und sie sollte bald wieder auf den Beinen sein.“
Wortlos streckte Nadja die Hand aus. Eine kleine, harmlos aussehende Pille lag auf ihrer Handfläche, bläulich im Licht des Mondes. Vorsichtig, als könnte sie sich bei der kleinsten Berührung in nichts auflösen, nahm Jana sie an sich und verbarg sie fest in ihrer Faust.
„Danke.“, war alles, was sie sagen konnte, alles, was sie in diesem Moment sagen wollte. Sie spürte, dass Nadja auf etwas hoffte, das ihr einen kleinen Teil der Schuld von den Schultern nahm, doch Jana war nicht bereit, ihr diese Worte zu geben, noch schienen es die anderen zu sein.
Ruckartig wandte sie der alten Frau den Rücken zu und ging davon, zurück zu dem Eingangstor, durch das sie das Imperias vor so unendlich langer Zeit betreten hatte. Zügig ging sie weiter, hörte die anderen hinter sich, und verließ so das Imperias, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen.
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