Löcher
Die Tür hatte sich schon lange hinter den Jugendlichen geschlossen, doch der Präsident starrte sie noch immer an. Er zweifelte wie so oft in den vergangenen Tagen an der Richtigkeit seiner Entscheidungen. Was würde es mit den Menschen im Imperias anstellen, wenn sie bemerkten, dass er einigen natürlichen Kindern Asyl gewährte und sie sogar mit ihm zusammenarbeiteten? Sie alle standen unter erhöhtem Druck, unter diesen Umständen konnte die Spannung zwischen ihnen sich jederzeit entladen. Das durfte nicht geschehen. Sie konnten nicht ewig an diesem Ort bleiben, das Imperias war kein Flüchtlingslager, doch es gab in dieser Stadt keine Alternativen. Die neue Rasse verbarg sich noch, sie war unerkannt und verhielt sich nach keinen erkennbaren Mustern. Sicherlich hatten sie ihre Leute bereits im Imperias. Überprüfungen. Sie brauchten Überprüfungen der Identität der Menschen, die sich in seiner nächsten Nähe aufhalten durften. Und er musste möglicherweise tatsächlich Kontakt zu den Menschen aufnehmen, die 200 Kilometer entfernt von hier lebten. Sie würden sich sicherlich bereit erklären, sie in der sich anbahnenden Krise zu unterstützen.
Ein greller Blitz erleuchtete den tiefschwarzen Himmel. Gereizt betätigte der Präsident einen Knopf an seinem Schreibtisch und dunkelte die Scheiben der Kuppel über seinem Büro ab. Einen praktischen Nutzen hatten sie nicht davon, das Wetter so zu manipulieren, es war eine Machtdemonstration und nagte nur an seinen ohnehin strapazierten Nerven. Wäre die Zeit da, könnte er einige hochintelligente Menschen erschaffen lassen, die, als IT Spezialisten ausgebildet, das Problem sicherlich lösen könnten, doch er hatte keine 15 Jahre. Wie es aussah, hatte er nicht einmal mehr Wochen.
Der Präsident griff nach dem Telefon auf seinem Tisch und wählte eine Nummer.
„Das werde ich unter gar keinen Umständen anziehen.", stellte Lizzy kategorisch fest und warf das Stoffstück, das sie in der Hand hielt und das Jana noch nicht genau hatte erkennen können, in hohem Bogen auf das Bett. „Es hat Löcher."
Jana verbiss sich ein Grinsen. „Vielleicht soll es verhindern, dass du mitten in der Nacht wegrennst."
Lizzy schnaubte nur. „Ja sicher. Jetzt, wo die Chancen gut stehen, dass es innerhalb von fünf Minuten hagelt, die Temperatur auf 40 Grad im Schatten ansteigt und alles mit einem Schneesturm abgerundet wird, kann man sich nur falsch anziehen. Da machen die Löcher auch keinen Unterschied mehr."
Es war spät geworden. Der Himmel über der Stadt war nicht mehr nur von den dunklen Wolken schwarz, sondern die Dunkelheit der Nacht tat nun ihr Übriges. Sebastian hatte Jana, Lizzy, Jasper und R in einen der Wohnbereiche des Imperias geführt, der aber offensichtlich noch größtenteils leer stand. ‚Anscheinend brauchen wir Sicherheitsabstand', hatte Jana zynisch gedacht. Die Mädchen und die Jungen waren in getrennten Zimmern untergebracht und dann alleine gelassen worden. Sie hatten sich müde voneinander verabschiedet, denn der Tag war lang und anstrengend gewesen. Eigentlich hatten Jana und Lizzy direkt ins Bett gehen wollen, doch dann waren ihnen die für sie bereitgestellten Kleidungsstücke aufgefallen, und sie waren seitdem aus dem Lachen kaum noch herausgekommen.
Dasselbe Lachen blieb Jana jedoch in der Kehle stecken, als sie nun selber die Kleidung betrachtete, die sie, wie der Präsident es formuliert hatte, „präsentabler" aussehen lassen sollte. „Das ist ja wohl ein Witz." Mit hochgezogenen Augenbrauen versuchte sie, dem Gebilde einen Sinn abzugewinnen. „Wo ist da oben und unten?"
Jetzt, wo es nicht mehr um seltsame Löcher ging, amüsierte Lizzy sich köstlich. „Vielleicht musst du es seitlich versuchen und der ganze Stoff hängt einfach nur an der Seite herunter?"
„Ha ha."
Jana hielt etwas in der Hand, das je nach Betrachtungsweise eine Tunika oder ein Kleid sein konnte, da aber nirgends eine Hose zu sehen war, nahm sie an, dass es ein Kleid darstellen sollte. Allerdings überschnitten die Teile sich so sehr und waren so raffiniert aneinander gefügt worden, dass sie bei bestem Willen nicht erkennen konnte, wie man so etwas tragen sollte. Waren alle Kleidungsstücke der Parasiten so kompliziert und man sah es nur nicht mehr, sobald sie einmal getragen wurden?
„Es endet damit, dass wir alle entweder in unseren alten, zerrissenen Sachen morgen beim Präsidenten aufkreuzen, weil wir uns nicht alleine anziehen konnten, da bin ich mir sicher.", bemerkte Jana trocken. Lizzy kicherte.
„Entweder das oder wir gehen nackt." Mit überraschender Treffsicherheit ahmte sie den Tonfall des Präsidenten nach. „Damit wir alle außergewöhnlich präsentabel aussehen und unter den gewöhnlichen Menschen nicht mehr so herausstechen." Dann, nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Du hast deine Schuhe noch nicht bewundert."
Für den schimmernden Stoff, mit dem die Schuhe bezogen waren, hatte Jana kaum Augen. „Absätze. Das sind mal mindestens 7 Zentimeter. Wozu soll das gut sein? Um mich am Weglaufen zu hindern?"
Mit Schwung warf Lizzy sich auf eines der riesigen, weiß bezogenen Betten in dem großräumigen Zimmer. „Das wird lustig morgen.", bemerkte sie trocken. „Vielleicht solltest du üben, oder es könnte passieren, dass du rückwärts die Treppe runterfällst, wenn wir zu dem Präsidenten hochgehen. Und ich hätte wirklich keine Lust, die ganze Strecke noch einmal zu gehen."
„Witzig." Jana tat es Lizzy noch und ließ sich ebenfalls in die weichen Laken sinken. Ein leises Seufzen wich über ihre Lippen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals so bequem gelegen zu haben. Eine Welle der Müdigkeit übermannte sie plötzlich. „So einige Vorteile hat das Leben im Imperias ja schon..."
„Ja, wenn sie nicht gerade versuchen, einen umzubringen, können sie ganz nett sein, diese Parasiten", flachste Lizzy.
Mit diesen Worten noch im Ohr schlief Jana langsam ein.
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