Im Ungewissen
„Lizzy, komm mal kurz her.“
Das junge Mädchen blickte überrascht auf, sie war gerade damit beschäftigt gewesen, Katharina mit einem provisorisch angefertigten Tuch, genauer gesagt, einem Teil ihres T-Shirts, die erhitzte Stirn zu kühlen. Jana winkte sie mit einer Hand zu sich. In dem kleinen Raum herrschte Aufbruchsstimmung, alle hatten sich die neue Kleidung übergezogen und versucht, eine möglichst arrogante und selbstsichere Miene aufzusetzen. Es war ihnen nur halb gelungen, viel zu groß war ihre Angst vor dem, was geschehen könnte. Nach einer weiteren unglaublich ermüdenden Diskussion war es Jana schließlich gelungen, auch Nils davon zu überzeugen, dass es angesichts der Umstände ihre einzige Möglichkeit war, ins Imperias zu gehen. Wortlos band Jana Lizzys Locken zu einem großen Knoten zusammen. Niemand der Parasiten würde auf die Idee kommen, mit so wüsten Haaren herumzulaufen und das schien Jana dann doch ein wenig zu gewagt. Ihr ganzer Plan war gewagt, wobei man kaum von einem Plan sprechen konnte. Sie wussten nicht, wie es innerhalb des Imperias aussah, sie wussten nicht, was sie erwartete. Sie begaben sich blind in die Höhle des Löwen.
Schließlich standen sie alle, bereit, so gut es ihnen eben möglich war, neben der Tür. Nils schien immer noch vor Wut darüber zu kochen, dass er nicht derjenige war, der bestimmen konnte, was gemacht wurde, während Lizzy geradezu enthusiastisch wirkte. R ließ sich nichts anmerken, es war Jana unmöglich, zu erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging.
„Dann… wollen wir mal.“
Mit einem letzten Blick zurück verließ sie hinter allen anderen den Raum und fragte sich still, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
Es war kein großes Kunststück gewesen, das Imperias zu finden. Die gesamte Stadt war in einer Art Kreis um es herum angeordnet, es war sehr schwierig, an dem großen Komplex vorbeizulaufen. Der Himmel hatte sich zugezogen, es machte den Eindruck, als würde es sehr bald beginnen, zu regnen. Jana, Nils, Lizzy und R standen nun vor einem der Eingänge des Imperias, der lediglich aus altem Holz zu bestehen schien, mitsamt altmodischem Türklopfer aus Messing. Ohne ihr Zutun ballten Janas Hände sich an ihren Seiten immer wieder zu Fäusten und entspannten sich wieder. Innerlich bebte sie vor Nervosität, aber ihr Stolz und ihre Angst, dass sie dies erst recht verraten würde, gaben ihr die Kraft, das zu verbergen. Sie hörte, wie Lizzy unruhig auf dem Pflaster auf und ab sprang. Doch bevor sie etwas sagen konnte, zischte Nils durch zusammengebissene Zähne, und Lizzy hörte sofort auf. Angespannt biss Jana sich auf die Unterlippe, dann streckte sie zögernd die Hand nach dem Türklopfer aus, so langsam, dass man meinen könnte, sie hätte Angst, dass er sie beißen könnte. „Komm schon, der griff ist nicht giftig“, fuhr Nils sie in diesem Moment auch schon an. „Du bist diejenige, die diese hirnrissige Idee hatte, erzähl mir jetzt nicht, dass du diejenige bist, die im entscheidenden Moment kneift.“
Jana nahm sich nicht die Zeit, ihm über die Schulter einen giftigen Blick zuzuwerfen, diese Genugtuung wollte sie ihm dieses Mal nicht gönnen. Dann klopfte sie an die Tür. Ein lautes hallendes Dröhnen ertönte, als hätte sie nicht an Holz, sondern an einen gigantischen Gong geschlagen. Daraufhin kehrte wieder Stille ein. Jana spürte ihr Herz unglaublich schnell schlagen, es fühlte sich an, als würde es ihr jeden Moment aus der Brust springen. Nach gefühlten Ewigkeiten öffnete sich eine kleine Klappe etwa auf Augenhöhe, die bis dahin gar nicht zu erkennen gewesen war. Eine Frau mit hagerem Gesicht starrte sie an. „Ja?“
Sie hatte so leuchtend grüne Augen, dass Jana sich sicher war, dass sie unter keinen Umständen echt sein konnten, sie schienen sie regelrecht zu durchleuchten, als könnten sie ganz deutlich die natürlichen Kinder unter der gestohlenen Kleidung und der mehr als dürftigen Verkleidung erkennen. Jana fühlte sich nackt und entblößt, sofort war sie sich sicher, dass ihr Plan nur daneben gehen konnte. Trotzdem, nun gab es kein Zurück mehr, auch wenn sie es nicht zugeben wollte, hatte Nils in gewisser Hinsicht Recht. Es war ihre Idee gewesen, nun durfte sie sich nicht mehr zurückziehen, so sehr ihre Instinkte auch danach schrien. Mühsam zwang sie einen gehetzten Unterton in ihre Stimme, das Zittern kam von ganz alleine, auch wenn sie hoffte, dass die Frau nicht den wahren Grund dafür erkennen würde. „Wir kommen aus einem Stadtteil weiter aus dem Osten, wir haben den Brief des Präsidenten bekommen. Wir fühlen uns nicht mehr sicher, die Kinder könnten uns jederzeit angreifen, sie könnten einfach unsere Haustür eintreten und uns ausrauben oder Schlimmeres.“ Die Worte fühlten sich so falsch an, sie schienen Janas Mund von innen zu verbrennen, doch sie hoffte, dass es genau die Worte waren, die ihnen Eintritt ins Imperias gewähren würden. „Ich flehe Euch an, bitte gewährt uns für eine gewisse Zeit Unterschlupf, bis die Gefahr gebannt ist.“
Die unnatürlich grünen Augen der Frau starrten Jana unerbittlich an, als würde sie in ihren Gedanken lesen wollen. Schließlich, nach scheinbaren Ewigkeiten, antwortete sie: „Es steht mir nicht zu, ohne nähere Beratung mit dem Präsidenten eine solche Entscheidung zu treffen, auch wenn die Tore des Imperias natürlich jedem Hilfe suchenden offenstehen. Auch das Imperias muss sich schützen. Ich bitte Sie, einen Augenblick zu warten.“
Damit schloss sich die Klappe wieder und ließ Jana, Lizzy, R und Nils drauß0en im Ungewissen stehen.
·
Der Präsident saß schweigend an seinem Schreibtisch, die Hände wie zum Gebet aneinander gelegt und vor sich hinstarrend, als es plötzlich energisch an seiner Tür klopfte. Mit einem leisen Anflug von Überraschung rief er denjenigen herein. Völlig außer Atem trat eine Frau herein, in der er meinte, eine der Torwächter zu erkennen. Eine Angestellte, weder mit hoher Intelligenz noch sonstigen Vorzügen ausgestattet. Eine Bedienstete, mehr nicht. Jedoch war es eine Bedienstete, die in sein Büro gekommen war, ohne aufgehalten worden zu sein. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte der Präsident den ungebetenen Besuch an. „Herr Präsident…“ Sie musste inne halten, um nach Luft zu schnappen. „Am Osttor. Eine Gruppe von Menschen, die um Asyl bittet. Soll ich sie einlassen?“
Eigentlich war das keine diskussionswürdige Frage. Jeder, der Schutz suchte, bekam ihn vom Imperias gewährt. Aber irgendetwas an diesen Besuchern musste anders sein. Der Präsident wandte sich seinem Computer zu. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er die Bilder der Überwachungskameras, die versteckt im Mauerwerk des Imperias angebracht waren, aufgerufen. Und er erstarrte. Vor dem Tor standen vier Jugendliche, anscheinend in einen hitzigen Streit verwickelt, doch das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit fesselte. Bei den Vieren handelte es sich ohne jeden Zweifel um natürliche Kinder. Er sah es an dem Ausdruck in ihren Augen, er sah es an der Art, wie sie sich bewegten, wie sie standen, immer wachsam, immer bereit zur Flucht. Zwei von ihnen waren ihm bekannt. Und sie wollten Einlass ins Imperias. Der Präsident traf seine Entscheidung innerhalb von Sekunden. „Lass sie ein. Sobald sie ihre Absichten erkennen lassen, kehrst du hierher zurück und erstattest mir Bericht. Vorher werden keine Entscheidungen getroffen. Ist das klar?“
Mit einer Verbeugung und einem unterwürfigen Nicken verschwand die Frau wieder.
Die Miene des Präsidenten zeigte nun eine leichte Anspannung, als er sich mit zusammen gezogenen Augenbrauen wieder dem Bildschirm widmete.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro