Erloschen
Schließlich war es R, der die Initiative ergriff. Er deutete auf ein erleuchtetes Fenster am anderen Ende des Gangs, das Jana kilometerweit entfernt vorkam, wusste sie doch, dass sie an all diesen Türen würde vorbeigehen müssen, wenn sie es erreichen wollte. Schweigend ging sie hinter R her und versuchte, die grauenhaften Türen nicht anzusehen, doch sie kam nicht umhin, zu bemerken, dass an ihnen allen kleine Zettel in Plastikhüllen angebracht waren, die Namen und Art des Verbrechens des jeweiligen Insassen angaben. Zwischendurch gab es immer wieder Zellen, wo die Namen derjenigen, die darin eingesperrt waren, nicht bekannt waren und wo bei Verbrechen nur ein einzelnes, großes A stand, dessen Bedeutung sich Jana nicht ganz erschloss. Dennoch war es keine Frage, was für Menschen hinter diesen bestimmten Türen saßen und es versetzte ihr einen schmerzhaften Stich in die Magengegend, jedes Mal, wenn sie diese Beschriftung sah. So viele, die so waren wie sie, und doch stand es außer Frage, dass sie sie nicht alle befreien konnten, nach wie vor sah sie auch noch nicht so ganz, wie ihr das überhaupt nur bei Jasper gelingen sollte. Der Plan, ins Imperias zu gehen, kam ihr immer mehr wie die fixe Idee vor, die er auch in Wirklichkeit gewesen war, doch nun konnte sie nicht mehr umkehren, es war zu spät, um wieder zu gehen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu hoffen und auf ihr Glück zu vertrauen, dass ihnen bisher unwahrscheinlich gewogen gewesen zu sein schien.
Die kleine Gruppe war schließlich an dem Fenster angekommen, dass sich bei ihrem Näherkommen als ein kleines Büro entpuppte, in dem einer der Parasiten mit einem ziemlich gelangweilten Gesichtsausdruck stand und sie ausdruckslos anstarrte, als sie näherkamen. Trotzdem schob er, wenn auch mit offensichtlichem Widerwillen, ein kleines Fenster auf, durch das sie sich verständigen konnten.
„Was wollt ihr?“, fragte er barsch. „Das hier ist kein Ort für Minderjährige.“
Janas Gehirn schien die Arbeit zu verweigern. Sie wusste, dass sie schon längst eine Idee im Kopf haben sollte, was sie sagen wollte, doch irgendwie schien dieser Ort ihre Gedanken zu lähmen. Zu ihrer Überraschung war es jedoch Nils, der nach vorne drängte und in ruhigem Ton erklärte: „Wir sind Psychologiestudenten mit einem Schwerpunkt auf Neurologie von außerhalb. Als uns die Nachricht erreichte, dass hier einige der natürlichen Kinder zu finden sind, konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, hierher zu reisen. Wir wollen eines von ihren Exemplaren“ Jana konnte sich in letzter Sekunde davon abhalten, ihm einen entsetzten Blick zuzuwerfen. Exemplare? Sie waren doch keine Tiere, die man wie in einem Zoo bewundern konnte. „…sozusagen ausleihen, um einige Untersuchungen mit ihm durchzuführen.“
Misstrauisch zog der Parasit in dem Büro die Augenbrauen zusammen. Jana konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn ratterte. Nils´ Erklärung war genial gewesen. Er hatte ihnen nicht nur einen Vorwand geliefert, die Zellen zu öffnen, sondern auch dafür, Jasper mit nach draußen zu nehmen. Schließlich zuckte der Mann hinter der Glasscheibe gleichgültig mit den Schultern. „Na schön. Sucht euch einen aus.“
Er reichte Nils einen großen Schlüssel durch das kleine Fenster. Ungläubig starrte Jana ihn an. Nicht einmal nach einem Ausweis hatte der Mann gefragt.
Ruckartig wandte sie sich ab und ging mit zackigen Schritten auf die Zellen zu. Jede von ihnen hatte in der Tür eine kleine Klappe, durch die man in die eigentliche Zelle hineinsehen konnte. Auch wenn sie wusste, was sie erwartete, ging es doch fast über ihre psychischen Kräfte, die Klappen immer wieder zu schließen, wenn sie erkannte, dass es nicht Jasper war, der hinter der Tür auf sie wartete. So viele hoffnungslose Augen starrten sie an, ohne, dass sie nur das Geringste tun konnte, um ihnen zu helfen.
Doch schließlich fand sie ihn. Durch eine der Klappen konnte sie den unverwechselbaren sandfarbenen Haarschopf erkennen, auch wenn Jasper die Beine angezogen und das Gesicht nach unten gewandt hatte. Ungeduldig gab sie Nils ein Zeichen, riss ihm den Schlüssel aus der Hand, als es ihr nicht schnell genug ging. Das Schloss war eingerostet und der Schlüssel ließ sich nur unglaublich schwer drehen, dann aber klickte es hörbar und mit einem leisen Quietschen ging die Tür einen Spalt breit auf. Ohne noch auf irgendein Wort von den anderen drei zu warten, quetschte Jana sich hindurch. Unendlich langsam hob Jasper den Kopf, als er die Bewegung hörte. An der Wand rechts von ihm saß noch ein anderes Mädchen auf einer schmalen Pritsche, doch für den Moment beachtete Jana sie gar nicht. Innerhalb von dem Bruchteil einer Sekunde spielten sich die unterschiedlichsten Emotionen auf Jaspers Gesicht ab. Überraschung, Ungläubigkeit, bis er schließlich bei einem ungläubigen Lächeln hängen blieb. Jana stürzte auf ihn zu und wollte ihn eigentlich umarmen, bis sie den Ausdruck in seinen Augen sah, über den kein Lächeln hinwegtäuschen konnte. Sie wirkten leer und ausdruckslos, als könnten sie Jana gar nicht wirklich sehen. Das leicht schelmische Glitzern, an das Jana sich so gewöhnt hatte, und das zu Jasper gehören zu schien wie seine wüsten Haare, war verschwunden. Was haben sie ihm angetan?, schoss es Jana durch den Kopf. Doch dann schloss sie ihren Freund doch noch in die Arme, und eine Welle der Glückseligkeit durchschoss sie. Erst jetzt bemerkte sie richtig, wie sehr er ihr gefehlt hatte. „Jana…“ Jaspers Stimme klang schwach und leise. „Was tust du hier?“
Aber noch bevor sie auf die Frage mit der offensichtlichen Antwort reagieren konnte, ertönte ein leiser Schrei von der Tür. Dann stürzte Lizzy mit wehenden braunen Locken ebenfalls in die Zelle, dich gefolgt von R, sie rannten zu dem blonden Mädchen, das Jana bisher so geflissentlich ignoriert hatte, und begannen, es mit Fragen zu überschütten. Nils stand noch an der Tür, die Hand noch außen am Türgriff, doch er wirkte wie versteinert. Eine Ahnung machte sich in Jana breit. „Jasper…Wer ist das?“
Er wirkte mindestens genauso verwirrt wie sie. „Das ist Marie…“ In seiner Antwort war eine unausgesprochene Frage, doch Jana kam nicht dazu, sie zu beantworten. Schon als die Zelle schlagartig und rapide dunkler zu werden begann, begriff sie, dass etwas unglaublich falsch lief. Dann fiel die Tür mit einem lauten, endgültigen Schlag ins Schloss.
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