Ausweg
Dann war es still. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten. Langsam und zitternd atmete Jana aus. Ihre sämtlichen Muskeln schienen sich verkrampft zu haben. Bebend ließ sie ihre Knie los. Ihr Kopf erschien ihr wie mit einem seltsamen Nebel gefüllt, der verhinderte, dass sie klar denken konnte. „Also... irgendeine Idee?“ Ihre Stimme klang heiser als hätte sie mehrere Stunden lang nicht gesprochen. Im Keller war es mittlerweile dunkel geworden und sie konnte Jaspers Gestalt nur noch als einen schwarzen Scherenschnitt vor dem dunkelblauen Hintergrund der Kellerwand erkennen.
Er gab ihr auf ihre Frage keine Antwort. Jana spürte, wie sich langsam Verzweiflung in ihr breit machte. Sie hatten keine Zeit und keinen Plan. Wenn ihnen nicht bald etwas einfallen würde, würden sie im Gefängnis des Imperias enden. Zwar glaubte sie nicht eine Sekunde an das, was ihnen der Präsident versprochen hatte, aber nachdem sie eine weitere Stunde schweigend auf dem Sofa gesessen hatte, schlug Jana halbherzig vor: „Vielleicht sollten wir uns doch einfach ergeben.“
Einen kurzen Augenblick herrschte Stille, dann sagte Jasper: „Nein. Nein, es muss einen Ausweg geben.“
Jana lachte bitter auf. „Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du vor ein paar Tagen noch gesagt hast, im echten Leben gäbe es nun einmal nicht immer ein Happy End.“
Eine erneute Schmerzwelle durchzuckte ihren Oberarm, der eigentlich den ganzen Tag nur vor sich hin gepocht hatte und Jana schnappte mehr erschrocken als vor Schmerzen nach Luft. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, drang Jaspers besorgte Stimme durch die Dunkelheit zu ihr. Doch Jana antwortete nicht sofort. Eine Idee begann, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen, eine wahnwitzige, verrückte Idee, aber die einzige Lösung, die ihr einfiel.
„Jasper...“, sagte sie gedehnt, noch am Überlegen, ob der Einfall es überhaupt wert war, erklärt zu werden. „Der Präsident hat doch gesagt... Er hat doch gesagt, ich wäre vermutlich lebensbedrohlich verletzt.“ Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Nur wir beide wissen, dass ich nicht ernstlich verletzt bin. Es war nur ein Streifschuss, eine Fleischwunde und wir haben die Splitter entfernt. Eigentlich muss ja nur noch die Haut wieder zusammen wachsen.“
Jasper nickte zu den aufgezählten Tatsachen. Jana holte noch einmal tief Luft und erläuterte dann ihre Theorie: „Also, was wäre, wenn wir so tun würden, als ob ich an dieser Verletzung wirklich gestorben wäre?“
Jasper seufzte und lehnte sich mit einem Knarren des Sofas gegen die Lehne. „Ach, Jana. Ich dachte schon, du hättest eine echte Idee.“
Enttäuscht stieß sie die Luft zwischen den Zähnen aus.
„Das ist eine echte Idee. Da...“
„...gibt es so viel, was schief gehen kann.“, griff er ihren begonnen Satz auf. „Zuerst einmal, sobald die Polis sehen, dass nur der obere Ärmel deines Pullis blutig ist, werden sie daraus schließen, dass du nicht verblutet sein kannst und Hilfe bekommen hast. Der Präsident ist außerdem viel zu schlau, als dass er seine Polis nicht einmal deinen Puls überprüfen lassen würde. Das wäre leichtsinnig. Und wie du dir vielleicht vorstellen kannst, können wir diese Kleinigkeit nicht abstellen. Außerdem...selbst wenn sie uns das abkaufen würden, wie stellst du dir das vor? Mich würden sie immer noch gefangen nehmen. Und dich, beziehungsweise deine angebliche Leiche verbrennen. Das wäre kein guter Deal für uns.“
Betreten blickte Jana zu Boden. Der kleine Funken Hoffnung, der in ihr aufgeglommen war, als ihr die Idee gekommen war, war wieder erloschen. Missmutig hob sie die halb leere Dose mit Pfirsichen vom Boden auf und fischte die letzten drei Hälften heraus. Wortlos bot sie eine davon Jasper an, der sie, ebenfalls stumm, annahm. „Trotzdem...“, nuschelte sie mit vollem Mund, „...ich würde den Polis zutrauen, dass sie vergessen, meinen Puls zu überprüfen.“
„Was?“ Jasper blickte sie verwirrt an. Offenbar hatte er sie pfirsichbedingt nicht verstanden. Jana verdrehte die Augen, darauf vertrauend, dass es inzwischen dunkel genug war, dass er es nicht mehr sehen konnte, kaute fertig und wiederholte dann ihren Satz.
Jasper seufzte. „Du machst dir falsche Hoffnungen. Selbst wenn, woran solltest du gestorben sein? Wenn sie den Verband abnehmen, sehen sie doch, dass die Wunde soweit gut verheilt. Die Polis sind vielleicht Dummköpfe, aber so blöd sind sie auch wieder nicht.“
Jana schwieg. „Du könntest ihnen weis machen, dass du meine Leiche für sie aus der Stadt bringst.“ Aber langsam wurde ihr klar, dass sie sich albern anhörte.
Jasper ersparte sich den Kommentar.
Eine Weile starrten beide wortlos in die Dunkelheit, dann brach Jana erneut das Schweigen. Sie hatte eine Idee, und sie wollte diesen Strohhalm nicht wieder los lassen, so lange es eine noch so kleine Wahrscheinlichkeit gab, dass er ihnen das Leben retten konnte.
„Eigentlich... dann können wir uns doch gleich ergeben.“ Dieses Mal versuchte sie es mit einem Appell an Jaspers Stolz. „Wir werden einfach wie in die Enge getriebene Tiere mit eingezogenen Köpfen aus unserem Loch kriechen und uns dem Präsidenten unterwerfen. Wir werden es tatenlos über uns ergehen lassen, dass er uns einsperrt. Wir werden uns ohne Gegenwehr in ein kleines Gefängnis sperren lassen, wo wir dann seelenruhig unser Ende erwarten werden. Kann es das sein, was du willst!?“
Ihre Rechnung ging auf. Sie konnte Ärger in Jaspers Stimme heraus hören, als er antwortete: „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich gerne vom Präsidenten eingefangen werden würde?“
„Warum lehnst du es dann so strikt ab, wenigstens einen Versuch zu wagen? Es ist eine Idee, und es ist immer noch besser, als aufzugeben und uns widerstandslos dem Präsidenten zu unterwerfen.“
Jasper seufzte. Einige Sekunden lang war es still. „Ich weiß es nicht, Jana. Vielleicht... vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass... dass wir jeden Tag, jede Stunde darum kämpfen, am Leben zu bleiben und jetzt, jetzt wollen wir auf einmal so tun, als wärst du gestorben, um die Freiheit zu bekommen. Ich weiß nicht... es ist nicht nur, dass so viel schief gehen kann und es kaum funktionieren wird, auch wenn das der Hauptgrund ist. Es ist einfach...“ Er machte eine kurze Pause, in der er mit den Worten rang. „Es kommt mir makaber vor. Irgendwie lässt mein Hirn diese Möglichkeit, diesen Plan nicht zu. Albern, was? Du hast solche Probleme nie.“
Jana antwortete nicht. Im Keller war es nun völlig finster geworden, sie konnte Jasper kaum noch erkennen, geschweige denn sein Gesicht.
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