Die ältliche Frau auf dem Stuhl saß in sich zusammen gesunken da, den Blick hielt sie auf den Boden gerichtet. Ihre viel zu früh ergrauten Haare hatte sie im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammen gebunden, aus dem sich jedoch einige Strähnen gelöst hatten und ihr ins Gesicht fielen, doch sie kümmerte sich nicht darum. Der Raum, in dem sie saß, hatte keine Fenster, nur eine schwach glimmende, nackte Glühbirne an der kahlen Decke spendete ein wenig spärliches Licht. Die Wände waren nicht verputzt und hatten genau die gleiche Farbe wie der Boden, ein dunkles Grau, das dem Raum ein höhlenartiges Aussehen verlieh. Die einzige Tür im Raum war aus ebenfalls grauem Stahl und offensichtlich fest verschlossen. Ein widerwärtiger Gestank nach Abwasser und etwas Schlimmerem, vielleicht faulendem Fleisch, hing in der Luft. Die Frau auf dem Stuhl schien das alles gar nicht wahrzunehmen oder sich schon daran gewöhnt und damit abgefunden zu haben.
Plötzlich erklang von der anderen Seite der Tür ein metallisches Klirren und ein Schlüssel wurde in das Schloss der Tür gesteckt und herum gedreht. Nadja fuhr zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag versetzt bekommen. Hektisch strich sie sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und streckte den Rücken. Sie sah erbärmlich aus. In den letzten Wochen hatte sie viel Gewicht verloren. Unter ihrer altmodischen Kleidung und in ihrem Gesicht zeichneten sich die Knochen ab. Doch in ihren Augen blitzte etwas auf, das man als einen kleinen Rest Kampfesgeist bezeichnen konnte. Vielleicht war es aber auch einfach nur Trotz. Ein hoch gewachsener Mann betrat den Raum und zog die Tür sanft hinter sich ins Schloss. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, auch wenn sein Gesicht den seltenen Eindruck von Alterslosigkeit erweckte. Je nachdem, auf welches Detail man mehr achte, wirkte es schon sehr alt oder noch ziemlich jung. Was einem sofort in die Augen stach, waren seine Augen. Sie waren von einem dunklen Blaugrau und von so einer eisigen Kälte, dass einem schon allein vom Hinsehen eine Gänsehaut über den ganzen Körper lief. Er bewegte sich mit einem Selbstbewusstsein, wie es nur Menschen eigen ist, die über viel Macht und Einfluss verfügen. Sein noch dichtes Kopfhaar war schlohweiß.
In Nadjas Augen flackerte Angst auf. Dieser Mann hatte etwas an sich, das einen einschüchterte. Er brauchte keine Worte dafür, nur seine Ausstrahlung.
„Guten Abend, Frau Roth.“, begrüßte er Nadja, die seinen Blick kühl erwiderte, sonst aber nicht reagierte. Allein das war schon ein Kunststück, das nur wenige beherrschten. Obwohl er einen munteren Plauderton angeschlagen hatte, war es unüberhörbar, dass hinter dieser Fassade etwas Anderes, Gefährliches lauerte.
„Wozu diese Höflichkeit?“, fragte Nadja kalt. „Es besteht kein Anlass, mir vorzuspielen, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Immerhin sitze ich in einem Gefängnis, Herr Präsident.“
Sie spuckte den Titel aus, als wäre er ein Schimpfwort, oder als würde er ihr einen bitteren Geschmack auf der Zunge verursachen.
„Angewohnheit.“, gab der Präsident trocken zurück, der sich nicht im Geringsten von ihrem bissigen Tonfall beeindrucken ließ. „Ich brauche Ihre Dienste.“
„Sie siezen mich sogar? Ich bin beeindruckt.“ Nadja hielt sich kerzengerade. Einem außen stehenden Betrachter könnte es so vorkommen, als wären sie und der Präsident auf der gleichen Position, auch wenn die Wirklichkeit ganz anders aussah. „Wie kommt... Ihr überhaupt auf die Idee, dass ich Euch helfen würde? Ihr haltet mich seit Wochen hier gefangen.“
Ein schmales Lächeln stahl sich auf die Lippen des Präsidenten, so schmal, dass es kaum zu sehen war.
„Aus genau diesem Grund. Sie bekommen ihre Freiheit zurück, zu großen Teilen jedenfalls, möchte ich behaupten. Außerdem...“
„Nein. Dann bleibe ich lieber hier in diesem Raum, bis ich sterbe.“ Der Blickkontakt aber war gebrochen. Auch wenn sie nicht, wie zuvor, auf den Boden sah, vermied Nadja den stechenden Blick ihres Feindes.
„Außerdem dürfen Sie in der Stadt bleiben.“
Das erste Mal zeigte das Gesicht der alten Frau eine Regung. Verwirrt blickte sie den Präsidenten an. „Und das soll ein Versprechen sein?“
„Allerdings. Im Umkreis von fünfzig Kilometern befindet sich nichts außer Wüste. Steine und Sand. Ihr Freund Herr Hacker kann davon berichten, sollte er jemals zurück kehren.“
Das Blut wich aus Nadjas Gesicht.
„Ihr habt Dominik aus der Stadt verwiesen?“ Ihre Stimme zitterte.
„Er verweigerte mir seine Dienste. Die gleichen Dienste übrigens, die ich nun von Ihnen verlange.“
Störrisch verschränkte Nadja die Arme vor der Brust. „Das kommt nicht in Frage, was auch immer Ihr von mir wollt. Ich werde Euch niemals helfen, auch nicht, wenn es um mein Leben ginge. Was macht ihr, wenn ich Euch nicht helfen will? Dann habt Ihr niemanden mehr.“
„Da würde mir schon etwas einfallen. Hören Sie sich doch erst einmal an, was ich Ihnen vorschlage.“
Der Präsident streckte wie ein Redner vor einem großen Publikum, das es zu überzeugen gilt, die Arme zur Seite und begann, sein Anliegen zu erklären: „Es gibt noch immer Gewalt in dieser Stadt. Auch wenn Ihre Erfindung durchaus bessere Zustände geschaffen hat, ist die Gewalt doch immer noch nicht aus unserer Welt und besonders dieser Stadt verschwunden.
Niemand von uns würde jedoch Gewalt ausüben, und das haben wir Ihnen und Herr Hacker zu verdanken.“ Er hielt inne und blickte zu Nadja herunter, die seinem Blick jedoch abermals auswich. „Doch es gibt immer noch... sagen wir, Querschläger in unserer Gesellschaft, die sich weigern, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.“
„Ihr redet von den natürlichen Kindern.“, unterbrach Nadja ihn. „Menschen wie ich. Meistens noch im Jugendalter. Von den älteren hört man nichts mehr. Ich kenne die Zustände.“
Der Präsident nickte zustimmend. „Wie ich sehe, haben Sie das Problem ebenfalls erkannt.“
„Problem? Ich sehe da kein Problem. Das sind alles fast noch Kinder!“ Die Hände der gealterten Chemikerin bebten, wie von einem inneren Kampf. Oder Reue.
„Sie können eine ernsthafte Gefahr für uns darstellen.“, meinte der Präsident, dessen Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde. Er war es nicht gewohnt, dass jemand ihn unterbrach, geschweige denn ihm widersprach. Nadja gehörte zu den wenigen, die das überhaupt noch wagten. „Deswegen“, fuhr er fort, „habe ich beschlossen, ein neues Gesetz zu verabschieden. Diese natürlichen Kinder sind unnatürlich.“
„Das ist ein Widerspruch in sich!“, warf Nadja ein, doch er ignorierte sie.
„Ich werde nicht weiter akzeptieren, dass sie in dieser Stadt ihr Unwesen treiben. Es wird nur Unglück über uns und unsere friedvolle Gesellschaft bringen, was Sie doch eigentlich am besten wissen müssten. Haben sie nicht einst unter ihnen gelebt? Diese... Schmarotzer müssen eingefangen werden. Eingefangen und unter Kontrolle gebracht.“
Auf Nadjas Gesicht zeichnete sich nun blankes Entsetzen ab. „Das kann nicht Euer Ernst sein!“
Nun riss dem Präsidenten doch noch endgültig der Geduldsfaden und er gab die gekünstelte Höflichkeit, die er bis jetzt an den Tag gelegt hatte, auf. Mit zwei großen Schritten war er bei der alten Frau, packte sie mit zwei Fingern am Kinn und zwang sie so, ihm in die Augen zu sehen.
„Ich habe das beschlossen, weil ich das für das beste für unsere Gesellschaft halte. Und was ich beschließe, wird befolgt. Das hier ist meine Stadt und ich habe hier das Sagen. Klar!?“
Nadja war kreidebleich geworden. Ihre Hände zitterten von Neuem heftig, obgleich sie das zu verbergen suchte. „Nichts wird mich davon abhalten, dieses Gesetz durchzusetzen. Aber um es auch durchzuführen, also die sogenannten natürlichen Kinder einzufangen, brauche ich eine Polizei. Die war bis jetzt nicht nötig, aber nun wird sie es. Und du wirst mir helfen, eine Polizei zu schaffen!“
Mit einem Ruck ließ er sie los und ging zurück zur Tür, als würde er seinen Ausbruch bereuen. „Ich will, dass du eine Gruppe von Menschen kreierst, mutig, schnell und gehorsam. Sie müssen auch zu Gewalt bereit sein, anderenfalls haben sie keine Chance. Das ist alles, andere Charaktereigenschaften wirst du ihnen nicht verleihen.“
„Aber...“ Nadja rang sichtlich nach Worten. Dieser Auftrag war so ungeheuerlich, dass sie sich die Auswirkungen, die so etwas haben konnte, nicht einmal in Gedanken ausmalen wollte. „Diese Polizei...“
„Ich werde sie Polis nennen.“, warf der Präsident ein. „Nur eine Kurzform von Polizei. Sie sind eine eigene Gruppe von Wesen, keine normalen Menschen, die diesen Beruf ergriffen haben.“
„Aber sie werden keine Gefühle haben!“, rief Nadja verzweifelt. „Keine Skrupel. Keine... Menschlichkeit.“
Ein kleines Lächeln erschien auf dem Gesicht des Präsidenten. Es war kein angenehmes Lächeln und es konnte seine Augen nicht erreichen, geschweige denn erwärmen. „Das ist es, was ich will. Was ich nicht will, ist eine Dienerin, die mir widerspricht. Ich bleibe bei meinem Angebot von vorhin. Du kommst aus dieser Zelle und musst die Stadt nicht verlassen.“ Er streckte in gespielter Höflichkeit eine langfingerige Hand aus, als würde er Nadja eine Wahl lassen. „Sind wir uns einig?“
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