╚ Sieben 1/3 Rätsel zuvor╝
Sieben 1/3 Rätsel zuvor
Das Ganze der Welt
war ein Rätsel
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║ F Y N N ║
Ob morgen die Sonne aufgehen würde war ungewiss.
Ob sie morgen jedoch nicht aufgehen würde, war genauso anzweifelbar.
Für beide Möglichkeiten gab es Argumente.
Sie hoben sich gegenseitig auf, zeigten, dass man sich anscheinend nichts sicher sein konnte.
Sahen wir wirklich alle die Farbe blau als blau?
Oder dachten wir nur, dass unser blau, der Farbe glich, die der andere zwar als blau gelernt hatte, wir aber als gelb einstufen würden?
Wer sagte, dass sich unsere Sinne nicht täuschten und wir einfach nur aus der Erfahrung unterschiedlicher Tatsachen, die wir für die gleiche hielten, gelernt haben?
Philosophie war unglaublich spannend.
Die Erkenntnistheorie hielt mich bereits den ganzen Tag mit all seinen Unterkategorien in seinem Griff.
Empirismus.
Rationalismus.
Skeptizismus.
Es schien, als würde ich auf diese Art und Weise des Denkens Antworten bekommen, die vorher im Verborgenen lagen.
Denn vielleicht zweifelte ich an meine Lebensbestimmung,
an dieser Welt,
an Alicia
und an mich selbst,
aber da die wahrhaftigen Zweifel nicht anzweifelbar waren, bedeutete dies, dass man existierte.
Ich denke, also bin ich, sagte einmal Descartés.
Es war die Bestätigung, die mir Hoffnung gab.
Denn dies bedeutete, dass ich, Fynn Reeves existierte.
Und nicht nur irgendwo, sondern in einer Welt, in der auch Alicia Clarkson lebte.
Und auch wenn man alles andere anzweifeln konnte und laut hundert Jahre alter Philosophen es auch tun musste, so wusste ich, dass ich auch dann noch glücklich wäre, wenn das ganze Abbild dieser Erde nur eine weiße Illusion wäre und wir in Wirklichkeit irgendwo zwischen Zeit und Raum festhingen.
- Solange ich wusste, dass auch Alicia nicht anzweifelbar wäre.
Während alles in der Erkenntnistheorie in Frage gestellt werden konnte, so bildete Mathematik eine Ausnahme.
Während unsere Sinne uns täuschen könnten, so entsprang Mathe unserem Verstand.
Eine Eins würde immer eine Eins bleiben.
Und eine Dreikommavier immer eine Dreikommavier.
Es gab Zahlen in keiner natürlichen Form in unserer Welt.
Keiner, zumindest keiner, der gerade nicht auf LSD oder sonstigen Drogen war, hatte schon einmal eine Zahl über eine Wiese hüpfen sehen.
Vielleicht war dies ein weiterer Grund, warum ich an diesem Sonntag auf dem Holzboden meines Zimmers saß und vor mir einen Dutzend Zettel ausgebreitet hatte, die ich versuchte zu sortieren.
Denn die Philosophie der Erkenntnis gab zu, dass die Grundlagen der Mathematik nicht anzweifelbar und sie somit Existenz waren.
Es zeigte, dass ich meine Welt mit etwas erklärte, dass nicht widerrufen werden konnte.
Solange ich keinen Fehler in meinem Rechenweg machen würde, könnte mir niemand die Lösung wegnehmen.
„Fynn, Mom hat das Essen gleich fertig." Nates Stimme riss mich aus meinen Gedanken und kurz blickte ich hoch.
Nate lehnte gegen meinem Türrahmen und beobachtete skeptisch das Ausmaß des Chaos, dass ich in meinem Zimmer angestellt hatte.
Er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und seine Haare fielen ihm unordentlich ins Gesicht. Seiner Jogginghose und dem verwaschenen Tshirt nach zu urteilen, hatte er sich bisher auch zum ersten Mal aus dem Bett bewegt.
„Was wird das, wenn es fertig ist?", fragte er und hockte sich neben mich.
„Das weißt du ganz genau, Nate", entgegnete ich trocken und begann damit, die Blätter übereinander zu schieben.
„Erzählst du uns gleich von diesem Rätsel?" Nate klang interessiert, doch ich schüttelte meinen Kopf.
Ich hatte das Rätsel noch nicht gelöst, ich konnte davon noch niemanden berichten.
Auf meine stille Antwort nickte Nate nur und stand wieder auf.
Er wusste, dass er mich bei den Rätseln nicht überreden oder zwingen konnte und für sein Verständnis war ich dankbar.
Ich verfolgte ihn mit meinen Augen, als er aus meinen Zimmer trat. Bevor er hinter sich die Tür schloss, meinte er über seine Schulter hinweg: „Sei in fünf Minuten unten, Fynn. Es gibt Schweinebraten und du weißt, wie viel Mühe sich Mom immer damit macht. Also lass dein Rätsel für ein paar Minuten einfach ein Rätsel sein und leiste mir Beistand, indem wir zusammen so tun, als würde das Fleisch nicht nach geschmolzenen Autoreifen schmecken."
Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht und ich schüttelte den Kopf.
Mein Blick fiel dabei auf die halb aufgegessene Take-away-Box vom Chinesen, die ich unter meinem Bett versteckt hatte, damit Mom sie nicht entdecken würde.
Es schien bereits Gewohnheit geworden zu sein, dass ich mir auf dem Weg zum Bus Box Nr. 3 mit gebratenem Hühnerfleisch kaufte.
Zwar trieften die Nudeln nur in Fett und die Pappe der Box wurde nach nur kurzer Zeit wabbelig, aber dennoch war ich süchtig nach diesen Dingern geworden.
Zumindest konnte ich so Mom sagen, dass ich den Braten nicht aß, weil ich keinen Hunger hatte und nicht, weil er so schmeckte, als hätte jemand das arme Tier eigenhändig überfahren und die nächsten Stunden im Radkasten mitgenommen.
Summend häufte ich einige Blätter aufeinander.
Es waren alles verschiedene Theorien von verschiedenen Philosophen.
Als mein Blick auf das oberste Blatt fiel, stockte ich.
Mein Summen verstummte und stattdessen wurde mein Hals von einer überraschenden Trockenheit durchzogen.
Denn während der Philosoph Locke meinte, dass wir alle als ein unbeschriebenes Blatt zur Welt kommen würden, wir also keine angeborenen Ideen hätten und uns alles aneignen müssten, so musste man beim Rationalismus alles anzweifeln, bis auf die Zweifel selbst.
Es wäre kein Problem für mich, solange Alicia in meiner Welt wäre.
Denn wenn ich ein unbeschriebenes Blatt wäre, würde sie mich prägen. Sie wäre nicht nur ein Kapitel, sondern gleich das gesamte Buch meines Lebens.
Doch dies würde auch heißen, da nichts angeboren wäre, dass wir nicht parallel wären – und das war nicht anzweifelbar.
Alicia und ich waren parallele Linien.
Es war schon immer so und würde immer so bleiben.
Vielleicht mochte ich Mathe deswegen lieber als Philosophie.
Denn während Mathe mir einfach nur sagte, dass Alicia und ich parallel waren, so entriss Philosophie mir mein Herz.
Denn wenn ich nach Descartes gehen würde, musste ich davon ausgehen, dass Alicia nur eine Täuschung meiner Sinne war.Und auch wenn ich mein Leben, meine ganze Welt über Mathe definierte, wusste ich, dass eine Welt ohne Alicia trist und grau wäre.
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(18.05.2017)
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