╚ Sechs 4/8 Rätsel zuvor╝
Sechs 4/8 Rätsel zuvor
Es gibt keine Schicksalstage.
Auch der neunte November ist keiner.
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║ F Y N N ║
Während Mathe mein Fach war, war Nate ein Geschichtstalent.
Er war ein Genie in allem was Daten und Vergangenes betraf und meist überließ ich es ihm, von all den großen vergangenen Ereignissen zu sprechen.
Wenn er davon sprach, hörte ich ihm gerne zu.
Er war der erste, der mir von dem berühmten neunten November erzählt hatte.
Ich musste damals noch um einiges jünger gewesen sein und hatte die Zusammenhänge nicht verstanden.
Doch dafür saß ich heute im Geschichtsunterricht und hörte voller Faszination meiner Lehrerin zu, wie sie uns von diesem Geschichtstriefenden Tag erzählte.
Hochkonzentriert kaute ich auf dem Ende meines Bleistiftes herum, während Erin sich auf dem Platz neben mir dazu zwingen musste, nicht einzuschlafen.
„Ich hasse Geschichte", murmelte sie, als ihr Kopf ein weiteres Mal beinahe aus ihrer Handfläche rutschte. Sie gähnte einmal und rieb sich über ihre Augen, während sie mich von der Seite aus betrachtete.
Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie sich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete, bevor sie ihren Kopf schüttelte.
„Ich glaube, mir ist entfallen, dass Geschichte seit neustem auch zu deinen Lieblingen gehört. Hey, wechselst du jetzt ins Nate-Lager? Denn wenn ja, muss ich mir schleunigst einen neuen Sitznachbarn suchen, der regelmäßig mit mir schwänzt."
„Ich habe noch nie mit dir geschwänzt, Erin", antwortete ich abgelenkt und versuchte mich wieder auf Mrs. Raymson zu konzentrieren, die gerade dabei war, eine Zeitleiste auf dem Whiteboard zu zeichnen.
„Dann wäre die nächste Geschichtsstunde ja eine passende Gelegenheit damit anzufangen, oder etwa nicht? Du schuldest mir eh noch einen Kaffee und zudem vermisse ich die legendären Käsesandwiches."
Nun schlich sich doch ein Grinsen auf mein Gesicht und ich schüttelte meinen Kopf. „Ich lade dich gerne ein, aber moralisch kannst du mich nicht zu dir in die Hölle ziehen: Ich schwänze nicht, denn ich möchte meinen Abschluss mit guten Noten bekommen."
„Hier in der Hölle lebt es sich aber leichter, Fynni. Und außerdem wirst du alleine wegen deiner Mathe-Note hundertfach ausgezeichnet werden, dafür lege ich meine Hand ins Feuer und mein neues Charm-Armband gleich mit. Also wer braucht da dann noch Geschichte?"
Sie lehnte sich etwas in meine Richtung und klimperte mit ihren Augen, während ich weiterhin versuchte, meinen Lachanfall zu unterdrücken. Amüsiert schüttelte ich den Kopf und als sie mir spielerisch den Ellenbogen in die Seite stieß, meinte ich: „Frag Ethan, ob er die nächste Stunde mit dir schwänzt, er hat in diesem Block Physik und wir wissen beide, dass er sein Neugeborenes verkaufen würde, um einer Stunde Quantenphysik entkommen zu können."
Nun drehte ich mich doch zu Erin um, doch dies war ein Fehler.
Denn so konnte ich sehen, wie ihr Lächeln verschwand und sie unbehaglich meinem Blick auswich.
Ich runzelte die Stirn, warf einen prüfenden Blick zu unserer Lehrerin, die noch immer nichts von unserem Gespräch mitbekommen zu haben schien und legte dann meine volle Aufmerksamkeit wieder auf Erin.
„Was ist los?"
„Ach nichts", tat sie mit einer einfachen Handbewegung ab und täuschte nun Interesse am Unterrichtsstoff vor. Sie nahm ihren Kugelschreiber und fing hastig damit an das Tafelbild abzuschreiben, während ich sie nur misstrauisch musterte.
„Was ist mit Ethan?"
Sie seufzte auf und hörte auf zu schreiben. Den Blick hob sie jedoch nicht, als sie zögerlich antwortete: „Er hat die letzten Stunden schon öfter geschwänzt..."
„Oh, das ist doch nichts Neues oder-"
„... mit Kyran und den anderen aus dem Eishockeyteam", unterbrach sie mich und augenblicklich schloss ich meinen Mund und verkrampfte meine Hand um die Tischplatte.
„Das wusste ich nicht", meinte ich nur knapp, während ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Einmal atmete ich tief ein und drehte mich wieder in die Richtung der Tafel. Ich hatte viel verpasst abzuschreiben.
„Ich weiß, dass du Kyran nicht sonderlich magst, Fynn..."
Ich unterbrach sie, denn ich konnte seinen Namen kein weiteres Mal hören, ohne rot zu sehen: „Ethan soll nur aufpassen, dass er sich nicht zu viele Fehlstunden anhäuft, denn dann fliegt er aus der Schülermannschaft."
Ich wollte das Thema wechseln und glücklicherweise schien Erin zu bemerken, dass es besser war, nun nichts mehr zu sagen.
Vor meinen Augen schienen die Buchstaben an der Tafel an zu verschwimmen und ich musste mehrmals tief einatmen, um diese angespannte innere Unruhe einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.
Ich wusste, dass Ethan sich nun auch mit seinen Mitspielern aus dem Eishockeyteam angefreundet hatte, aber uns deswegen jedoch niemals links liegen lassen würde.
Aber dennoch...
Er war mein bester Freund und ich hasste dieses egoistische Gefühl der Eifersucht und Angst.
Ich fokussierte meinen Blick wieder nach vorne auf den Unterricht, der sich diese Stunde mit der deutschen Geschichte befasste und starrte die unterschiedlichen Schlagwörter auf der Zeitleiste so lange an, bis ich das Gefühl hatte, dass sie sich in meine Netzhaut eingebrannt hatten.
9. November 1848. Hinrichtung Robert Blums – Märzrevolution.
9. November 1918. Das Ende der Monarchie.
9. November 1923. Hitlerputsch.
9. November 1938. Reichspogromnacht.
9. November 1989. Fall der Berliner Mauer.
Ich malte mit meinen Fingern Kreise auf meinem Tisch und war erleichtert, als es zur Pause klingelte.
Schnell schob ich alle meine Unterlagen übereinander und stopfte sie in meine Tasche. Ich bemerkte, wie Erin zögerlich auf mich wartete.
„Du kannst schon mal vorgehen, ich muss Mrs. Raymson noch etwas fragen", log ich, ohne selbst zu wissen, warum ich dies tat.
Erin nickte nur, schulterte ihre Tasche und strich sich ihre Haare aus dem Gesicht, während sie zusammen mit den anderen Schülern den Raum verließ.
Ich blieb der letzte und seufzend sortierte ich auch meinen Bleistift in mein Etui weg. Mrs. Raymond blickte einmal kurz von ihrem Block auf und lächelte mir zu. Das Seufzen schien sie als Reaktion auf ihren Unterricht zu deuten, denn sie sprach: „Reeves, was ist los? So betroffen wegen diesen Schicksalshaften Tag?"
Ich zuckte die Schultern und mein Blick wanderte zu der Tafel, als ich meine Tasche in die Hand nahm.
„Der neunte November ist nicht vom Schicksal geprägt, Mrs. Raymson."
Sie blickte mich über ihr Brillengestell hinweg lange an, bevor sie leicht ihren Kopf schief legte und nachfragte: „Und warum bist du dir da so sicher?"
Ich schob meinen Stuhl an den Tisch. „Mathematisch gesehen, kann man ausrechnen, in wie vielen Jahren etwas Außergewöhnliches oder Bedeutsames an einem neunten November passiert ist und in wie vielen nicht. Wir haben hier eine Zeitspanne von über hundert Jahren mit fünf bedeutsamen Ereignissen. Alle anderen 136 neunte November sind im Vergleich unbedeutend, oder etwa nicht? Es wurde pauschalisiert, erhoben zu einem Schicksalstag, obwohl genauso gut an einem anderen Tag auch mehrere wichtige Ereignisse passiert sein könnten."
Ich schnappte mir meine Jacke von meinem Platz und warf sie mir über die Schulter. Doch Mrs. Raymson schien mich mit dieser Aussage nicht einfach gehen lassen zu wollen, denn sie hob die Hand und brachte mich somit kurz vor der Tür zum Stehen. „Vielleicht hast du Recht, dies hier ist auch nur eine Auswahl - aber gibt es nicht auch persönliche wichtige Ereignisse, die auf einen neunten November fallen können?"
Erneut zuckte ich die Schultern. Ich erinnerte mich an nichts Besonderes, das an den letzten neunten Novembern passiert war.
„Sicherlich sogar, Mrs. Raymson. Jeder Tag wird für irgendjemanden zum Schicksalstag, aber mein November ist immer typisch..." Ich stockte, als mir etwas bewusst wurde und auch meiner Lehrerin schien meinen veränderten Gesichtsausdruck zu bemerken.
Doch bevor sie etwas sagen konnte, hob ich zum Abschied schnell die Hand und sprach hastig: „Tschüss, Mrs. Raymond!", während ich den Klassenraum verließ.
Denn mathematisch passte es nicht in meine Gleichung, dass der November untypisch werden würde.
Dieser neunte November würde sich nicht in die Reihe der bedeutsamen Ereignisse einreihen.
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(28.12.2017)
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