⌜Fynns Zimmer⌝
Manchmal sollte man auch geschlossene Türen wieder aufreißen
und nicht einfach auf die nächste warten,
die sich öffnet.
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║ A L I C I A ║
Die Woche ging viel zu schnell vorbei.
Zumindest für Nate; ich sah es in seinem Blick, als er mir die Tür öffnete.
Heute trafen wir uns, wie so oft in der vergangenen Woche, bei ihm Zuhause.
Aber diesmal würden wir die gemeinsame Zeit nicht auf dem Sofa essend und Filmeschauend verbringen.
Nein.
Denn wir hatten uns vorgenommen, heute erneut das Rätselbuch aufzuschlagen und Fynns achtes Rätsel zu lösen.
Die einwöchige Fynn-Pause hatte nun offiziell ihr Ende gefunden und als ich Nate gegenüber auf seinem Bett saß und ihn dabei beobachtete, wie er mit fast schon zittrigen Händen über den Einband des roten Notizbuches strich, legte ich meine Finger über seine.
„Hey", sprach ich beruhigend und drückte sanft seine Hand. „Alles ist in Ordnung."
Er hob den Blick und für einen kurzen Moment sahen wir uns an. Ich konnte die Unruhe in seinem Gesicht erkennen, genauso wie die dunklen Augenringe unter seinen Augen. Er hatte nicht gut geschlafen. Davon zeugten auch seine ungemachten Haare und das Schlappertshirt, das er trug.
Er seufzte auf und schüttelte dabei leicht den Kopf, bevor er stockte und schließlich dazu überwechselte zu nicken. „Du hast ja Recht", sprach er und schenkte mir ein leichtes Lächeln, bevor er tief einatmete und dann das Notizbuch aufschlug.
Das achte Rätsel strahlte uns bereits entgegen, so als hätte es nur darauf gewartet, endlich geöffnet und gelesen zu werden.
Nun schlug auch mein Herz etwas höher und schnell rutschte ich so nah an Nate heran, dass sich unsere Schultern berührten. Gemeinsam beugten wir uns über das Buch, um Fynns Worte besser lesen zu können.
Achtes Rätsel:
Wenn sich Türen schließen, öffnen sich irgendwo neue.
Aber manchmal ist es nicht gut, wenn eine Tür zu lange verschlossen bleibt.
Und auch wenn man sich weigern möchte, sollte man den Türknauf drehen und sich dem Zimmer dahinter stellen.
Und dem Chaos, das sich daran befindet.
Denn genau das ist es, in dem man manchmal alle Antworten findet.
Ich hoffe, dass ihr meine Tür findet, sie öffnet und die Lösung beim Aufräumen in meinem ganz persönlichen Chaos findet.
Denn das ist es, was ich nicht mehr alleine geschafft habe.
Ich starrte auf Fynns Worte.
Las sie immer und immer wieder.
Ich kam nicht umher, festzustellen, dass sich seine Rätsel nach und nach verändert hatten. So waren sie zu Beginn teilweise noch wie richtige Rätsel aufgebaut, ja beinahe mathematisch – waren sie jetzt beinahe persönliche Nachrichten an uns.
Aber dennoch sprach er in Rätseln.
„Was meint er mit den Türen, hinter denen das Chaos wartet? Warum sollten wir solch eine Tür öffnen wollen?", fragte ich schlussendlich und wendete mich wieder Nate zu.
Der noch immer auf Fynns Worte in dem Buch starrte. Langsam hob er den Blick und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht... Zumindest noch nicht."
Urplötzlich stand er auf, drückte mir Fynns Notizbuch in die Hand und holte das Whiteboard unter dem Bett hervor, mit dem wir bereits öfter Fynns Rätsel gelöst hatten.
Flink schrieb er mit einem Marker Fynns Worte auf die Tafel und trat dann einen Schritt zurück, um es skeptisch betrachten zu können.
„Ist es als eine Art Metapher gedacht?", fragte ich nach, während ich das Buch auf Nates Tagesdecke ablegte und mich neben ihn hinstellte.
„Es klingt eher wie eine Aufgabe... wie eine Aufforderung...", setzte Nate an und legte leicht den Kopf schief. „Wobei die Frage nun ist, ob er wortwörtlich meint, dass wir eine Tür öffnen sollen, oder ob es wieder nur seine verzwickte Art ist..."
Ich griff nach dem Stift in seiner Hand und kniete mich entschlossen vor die kleine Tafel. Wir würden dieses Rätsel heute lösen, komme was wolle.
„Also...", setzte ich an. „Er redet davon, eine Tür, die man lieber verschlossen hält, zu öffnen, sich dem Chaos zu stellen und aufzuräumen, richtig?" Ich unterstrich die Worte Tür, Chaos und aufräumen bevor ich leicht den Kopf schüttelte: „Mensch, Fynn zwingt uns zu all den Sachen, die ich nicht mag: Joggen und nun putzen..."
„Warte", sprach Nate, ohne auf meinen lahmen Witz einzugehen. „Er spricht nicht von irgendeiner Tür, sondern von seiner Tür, also..." Nate stockte mitten im Satz und als ich mich fragend zu ihm umdrehte, konnte ich sehen, wie er erstarrte und kreidebleich wurde.
Im nächsten Moment ging er in die Hocke und fing an seinen Kopf zu schütteln.
„Nein", keuchte er. „Das kann nicht sein Ernst sein."
Verwirrt sah ich ihn an, doch mir war nach einer weiteren Sekunde klar, dass er verstanden hatte, was Fynn wollte. „Nate?" Ich legte meine Hand auf seinen Arm, doch er starrte einfach weiter auf das Rätsel auf dem Whiteboard und schüttelte seinen Kopf, sodass seine Haare hin und herflogen.
„Verdammt!" Urplötzlich sprang er auf und überrascht davon, zuckte ich zusammen. „Das kann er doch nicht wirklich wollen. Shit, Fynn!"
Unruhig tigerte er auf seinem Teppich herum und fuhr sich immer wieder durch die Haare. Noch immer schüttelte er den Kopf, so als könnte er nicht begreifen, was er soeben herausgefunden hatte.
Doch verdammt nochmal, was wusste Nate, was ich noch nicht herausgefunden hatte?
Bevor ich erneut nachfragen konnte, fiel Nates Blick auf mich und er schien zu realisieren, dass ich noch immer im Dunkeln tappte. Er blieb stehen, atmete tief ein und sprach, mir dabei tief in die Augen blickend: „Er meint es wortwörtlich, Alicia. Er meint seine eigene Zimmertür..." Er verkrampfte leicht seine Hände und ging erneut in die Hocke. „Und er fordert uns auf, das Rätsel zu lösen, indem wir sein Chaos beseitigen... Sein Zimmer ausräumen..."
Seine Worte trafen mich und raubten mir die Luft zum Atmen. Mehrmals musste ich blinzeln, bevor ich vollständig realisierte, was er damit meinte.
Und was für eine schwere Aufgabe Fynn uns, aber besonders Nate damit stellte.
So schnell es mir möglich war, hockte ich mich neben Nate und schlang meine Arme um ihn. Sofort lehnte er sich an mich. „Du weißt, dass ich das nicht kann, oder Alicia? Ich werde das nicht machen."
Ich spürte, seinen Atem an meinen Hals und die Spitzen seiner Haare, als er weiterhin den Kopf schüttelte. Es schien beinahe so, als würde er sich damit selbst überzeugen wollen.
„Es ist aber Fynns Wunsch, Nate...", murmelte ich leise.
„Ich habe schon sieben anderen Wünschen von ihm Folge geleistet, Alicia, aber ich werde verdammt nochmal nicht einfach das Zimmer meines Bruders leerräumen, damit ich ihn irgendwann vergesse und einfach so tun könnte, als hätte es ihn nie gegeben!"
Ich schluckte und versuchte die Tränen zu unterdrücken, indem ich meine Arme noch enger um Nate schlang und mein Gesicht in seine Schulter drückte.
Er hatte Recht.
Ich konnte ihn so gut verstehen.
Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, konnte ich auch Fynn nachvollziehen.
Er hatte sich auch bei diesem Rätsel etwas gedacht und auch wenn es im ersten Moment so unfassbar falsch wirkte, wusste ich, dass es eine tiefere Bedeutung haben würde.
Doch auch wusste ich, dass Nate jetzt erst einmal Zeit brauchte.
Er wurde von Fynns Aufforderung überfahren.
Es traf ihn frontal wie ein LKW und er musste erstmal wieder zu Atem kommen, um ohne die Panik Fynns Worte realisieren zu können.
„Ich will Fynn nicht einfach ausradieren und ihn zusammen mit seinen Sachen wegschmeißen, Alicia."
Ich konnte an seiner Stimme hören, dass er den Tränen nahe war und genau deswegen tat ich das einzige, mit dem ich ihn in dieser Situation zumindest etwas hoffentlich helfen konnte:
Ich strich über seine Haare, drückte einen Kuss hinter sein rechtes Ohr und flüsterte: „Ich weiß und das musst du auch nie, Nate."
Ich wusste nicht, wie lange wir dort auf seinem Teppich kniend uns in den Armen hielten und versuchten, den jeweils anderen Trost zu spenden. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, doch irgendwann lösten wir uns von einander und tapfer versuchte Nate zu lächeln, als er einmal die Nase schniefte und mit seinen Händen über seine Augen wischte.
„Ich muss langsam nach Hause...", meinte ich, obwohl ich ihn am liebsten nie wieder los gelassen hätte.
Doch manchmal brauchte man Zeit für sich, um in Ruhe nachdenken zu können.
Er nickte, rappelte sich auf und streckte mir die Hand entgegen, um auch mir aufzuhelfen.
Dankbar nahm ich sie an und als er mich auf die Beine gezogen hatte, blieben wir uns gegenüber stehen. Ich gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange, bevor ich sprach: „Egal was ist, melde dich bei mir und ich bin sofort da, okay?"
Er lächelte leicht, bevor er nickte. „Danke, Al."
Ich hatte nicht einmal die Tür hinter mir zugezogen, geschweige denn meine Schuhe von meinen Füßen gestreift, als ich die Vibration meines Handys in meiner Hosentasche fühlen konnte.
„Na, bist du schon wieder zurück?", rief mir Mom aus der Küche zu, doch anstatt ihr sofort zu antworten, zog ich mein Handy hervor.
Ich hatte eine neue Nachricht.
Sie war von Nate.
Nate: Kannst du zurückkommen?
Bevor ich antworten konnte, folgten bereits die nächsten Nachrichten:
Nate: Ich meine... sofort?
Nate: Tut mir Leid. Ich habe Angst, dass ich meine Meinung wieder ändere, wenn ich zu lange darüber nachdenke.
Nate: Lass uns in Fynns Zimmer gehen.
„Alicia?" Mom erschien im Küchentürrahmen. „Hm?", machte ich nur und hob den Kopf. Dann blinzelte ich und schüttelte den Kopf. „Sorry und auf deine Frage; Ja ich bin wieder zurück, muss jetzt aber wieder los. Wir sehen uns nachher, okay?" Schnell drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich umdrehte und mich zurück auf den Weg zu Nate machte.
Von unterwegs schrieb ich ihm, dass ich in zehn Minuten da wäre.
Ich schaffte es in acht.
„Okay", sprach Nate langsam und ich konnte hören, wie er tief Luft holte. Zusammen standen wir vor der so unscheinbar wirkenden Tür, doch wir beide wussten, was sich dahinter befand.
Fynns Zimmer.
Von der Seite aus betrachtete ich Nate. Er war angespannt und nervös knetete er die Hände.
„Dann wollen wir mal dieses Rätsel erfüllen." Leicht lachte er auf, bevor er anfing den Kopf zu schütteln.
Selbst ein Blinder mit Krückstock hätte bemerkt, wie unglaublich schwer dies hier für ihn war und gerade als er die Hand hob, um sich mit seinen Fingern durch die Haare zu fahren, griff ich nach seiner Hand und erlangte somit seine Aufmerksamkeit. „Hey...", meinte ich sanft und ließ ihn nicht aus meinen Augen, als er unruhig meinen Blick erwiderte. „Wir machen das gemeinsam, okay? Ich bin hier..."
Er stieß die Luft aus, die er angehalten hatte und auch seine Schultern sackten etwas nach vorne, bevor er den Blick wieder zu der Tür gleiten ließ und anfing zu nicken.
„Und dafür bin ich dankbar", murmelte er im gleichen Moment, als ich meine und seine Hand zusammen auf den Türknauf legte.
„Bereit?"
Sein Blick traf erneut auf meinen. „Ob man das jemals ist?", stellte er die Gegenfrage, doch anstatt auf eine Antwort zu warten, drehte er sich wieder ab und drehte mit einer nicht vorher dagewesenen Entschlossenheit den Türknauf.
In einer einzigen Bewegung öffnete sich die Tür zu Fynns Zimmer und für einen kurzen Moment war ich wie erstarrt.
Nate überschritt zuerst die Türschwelle.
Mit einem mulmigen Gefühl trat ich einen weiteren Schritt nach vorne, sodass ich nun im Türrahmen stand. Auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob dies hier alles seine Richtigkeit entsprach.
Wollte ich mich in dem Zimmer eines Toten aufhalten?
Doch dann zog mich Nate hinter sich in das Zimmer und es gab kein Zurück mehr.
Ich befand mich in Fynns Zimmer.
In seinem Reich.
Und wenn ich ehrlich war, fühlte es sich so an, als würde er jeden Moment wiederkommen.
Als wäre er eben nur kurz nach unten in die Küche gegangen, um sich etwas Neues zu Trinken zu holen.
Dabei war das Glas auf seinem Schreibtisch doch noch halbvoll...
Das Sonnenlicht spiegelte sich leicht in dem Wasserglas und ließ den Staub in der Luft tanzen.
Zudem waren auf seinem Schreibtisch mehrere Zettel ausgebreitet und Buntstifte lagen fein ordentlich nach Farbe sortiert am Rand.
Mein Blick glitt über das ungemachte Bett und den vielen T-Shirts, die zerknittert auf den Boden lagen, bis hin zu dem großen Bücherregal, in dem viele unterschiedliche Bücher seinen Platz fanden.
Das Fenster war ein Spaltbreit geöffnet und die dünnen Gardinen bewegten sich in dem leichten Luftzug hin und her. Sofort fragte ich mich, ob jemand anderes dieses Fenster erst nachträglich geöffnet hatte, oder ob es noch Fynn an jenem schicksalshaften neunten November gewesen war und es seither offen stand.
„Ich habe Umzugskartons vom Dachboden geholt. Sie liegen im Flur...", meinte Nate.
Ich nickte. „Okay, ich hole sie."
Schnell machte ich mich auf den Weg und griff mir zwei von den besagten Umzugskartons. Als ich mich jedoch wieder umdrehte und in das Zimmer zurückgehen wollte, stockt ich für einen kurzen Augenblick.
Nate stand mit hängenden Schultern in der Mitte von Fynns Zimmer und hatte den Blick starr an die Decke gerichtet. Leicht unsicher legte ich die Kartons auf den Boden ab und trat hinter Nate.
„Hey...", sprach ich leise und legte eine Hand auf seine Schulter.
Noch immer sah er an die Decke, als er genauso leise erwiderte: „Weißt du, ich habe es beinahe vergessen, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Siehst du die Flecken an der Decke? Wir haben sie versucht über zu streichen, aber genau jetzt sehe ich sie deutlicher als je zuvor."
Ich folgte seinem Blick und er hatte Recht. Man konnte den kläglichen Versuch, die dunklen Stellen verschwinden zu lassen, erkennen.
„Es war dennoch ein schöner Tag gewesen." Nate senkte seinen Blick und als er über seine Schulter zu mir blickte, lächelte er sogar leicht. Ich schluckte, doch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er bereits mit neuer Energie in die Hände geklatscht und meinte: „Nun, dann wollen wir mal Fynns Dreckarbeit erledigen, oder? Denn genau das ist es; Fynn war schon immer ein kleiner Chaot und hat es mal wieder geschafft, sich erfolgreich vor dem Aufräumen zu drücken."
Wir fingen bei seinem Bücherregal an.
Buch für Buch zogen wir aus den Regalen und stapelten sie in einem Karton.
Am Anfang fühlte es sich noch falsch an, doch mit jedem weiteren, das ich an Nate weiterreichte, desto leichter wurde es.
Weitgehend arbeiteten wir still, doch ab und an konnte ich beobachten, wie ein leichtes Lächeln auf Nates Gesicht erschien, wenn er ein bestimmtes Buch in den Händen hielt.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, aber es wurde bereits dunkel, als wir schlussendlich einen Schritt zurück machten und vor einem leeren Regal standen. Ich stemmte meine Hände in die Seiten und blickte zu Nate hoch.
„Das wäre schon mal geschafft. Unglaublich, dass man so viele Bücher besitzen kann." Ich machte eine Handbewegung in Richtung der zwei randvoll mit Büchern gefüllten Umzugskartons und entlockte somit ein Lachen von Nate.
Kopfschüttelnd meinte er: „Das war Fynn. Ich glaube, er hat sein Geld für nichts anderes als Bücher und chinesische Nudeln ausgegeben."
Als ich mich leicht an seine Seite lehnte, seufzte er auf und legte seinen Arm um meine Hüfte, um mich noch etwas dichter an ihn zu ziehen. Ich blickte zu ihm hoch und als seine grünen Augen auf meine trafen, sah ich nichts mehr von der Nervosität oder der Angst, die noch in ihm geherrscht hatte, bevor wir dieses Zimmer betreten hatten. Stattdessen strahlte er eine unglaubliche Wärme und Ruhe aus, die mich sofort zu erfüllen schien und die ich nie wieder missen wollte.
„Wollen wir mit seinem Schreibtisch weitermachen?", fragte ich und Nate öffnete den Mund, um mir zu antworten.
Doch er kam nicht mehr dazu, denn wir wurden unterbrochen.
„Was macht ihr hier?"
Nate und ich zuckten beide zusammen und sofort drehte ich mich um.
Nate und Fynns Mom, Lisa, stand in der Tür und ließ ungläubig ihren Blick durch den Raum wandern, bis sie uns wieder ansah. Man konnte regelrecht den Schock und die Flut an den verschiedensten Gefühlen in ihrem Gesicht erkennen.
Ich suchte nach den richtigen Worten, doch selbst wenn ich sie gefunden hätte, hätte mich der Kloß in meinem Hals daran gehindert, sie auszusprechen.
„Mom...", setzte Nate an, doch erneut unterbrach sie ihn, indem sie ihre Hand hob und erneut mit zittriger Stimme anfing: „Nate... Was macht ihr in Fynns Zimmer?"
Was sollte man ihr sagen?
Was konnte man einer trauernden Mutter erwidern?
Dass man einfach so beschlossen hatte, das Zimmer ihres toten Sohnes leerzuräumen?
Mir wurde speiübel, als ich mir vorstellte, wie ich mich fühlen würde, wenn ich an ihrer Stelle nun dort im Türrahmen stehen würde.
Nate ging einen Schritt auf seine Mutter zu.
„Loslassen, Mom." Seine Stimme war fest. „Loslassen, denn das ist es, was Fynn sich für uns gewünscht hat."
Ich konnte sehen, wie zuerst Lisas Hände anfingen zu zittern. Dann ihre Arme. Und sie diese schlussendlich um ihren eigenen Oberkörper schlang, so als würde sie sich selbst umarmen und stützen wollen.
„Fynn hätte nicht gewollt, dass hier jahrelang seine Sachen einstauben und wir somit immer wieder daran erinnert werden, was wir verloren haben." Er ging noch einen Schritt auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Arme. „Wir sollen nicht daran denken, was wir verloren haben, sondern uns daran erinnern und wertschätzen, was wir durch ihn gewonnen haben, Mom."
Bei seinen Worten überkam mich eine Gänsehaut und Tränen traten in meine Augen. Lisa ging es nicht anders und ruckartig fing sie an ihren Kopf zu schütteln, bevor sie einen Schritt zurückging. Nates Hände glitten von ihren Armen und gerade, als Nate wieder nach ihrer Hand greifen wollte, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und meinte mit einem Blick auf das leere Bücherregal: „So können wir es aber nicht hinterlassen. Seht ihr etwa nicht, wie staubig die Regale sind? Ich hole aus der Küche Lappen..." Sie machte eine Pause, bevor sie mit einem Finger auf die Kartons mit den Büchern zeigte. „Außerdem befüllt man Umzugskartons nie bis ganz oben. Wir werden es niemals schaffen, diese schweren Ungetümer auf den Dachboden zu tragen."
Bevor wir ihr antworten konnten, hatte sie sich schon umgedreht und das Zimmer verlassen. Nate und ich sahen uns an und ich trat wieder an ihn heran.
„Du hast Recht, Nate."
„Womit?"
Ich griff nach seiner Hand. „Fynns achte Rätsel: Loslassen."
Nate zog mich an sich, sodass meine Hände auf seiner Brust lagen. „Das ist die Lösung für sein Rätsel." Langsam fing er an zu nicken und kurz ließ er den Blick durch das Zimmer wandern, bevor sein Blick wieder auf mich fiel. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen und ich konnte in seinen Augen sehen, wie er über etwas nachdachte.
„Woran denkst du?", fragte ich ihn, während ich meine Arme um seinen Hals schlang.
Sein Lächeln blieb, als er mir antwortete: „Was für ein schlechter Mensch ich sein muss und wie moralisch verwerfbar es ist, dass ich gerade nichts anderes machen möchte, als dich hier und jetzt zu küssen."
Mein Herz schlug höher, doch bevor ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um seine Lippen mit meinen zu erreichen, erwiderte ich: „Dann müsste ich eine ebenso schlechter Mensch sein, Nate."
Uns blieben noch zwei weitere Minuten, bevor Lisa mit mehreren Lappen, Müllsack und einem Putzeimer wieder kam. Sie hatte ihre Haare zu einem Dutt zusammengebunden und die Ärmel ihrer Bluse hochgekrempelt.
Und so fingen wir zu dritt an Fynns Zimmer zu entmisten und auszuräumen. Als wir die Hälfte des Schreibtisches bereits geschafft hatten, verschwand Nate für einen kurzen Moment und kam kurz darauf mit einer Bluetooth-Anlage wieder. Er spielte Musik ab und ich erkannte die Playlist, die er auch bereits bei der ersten Fahrt zu Joeys Diner abgespielt hatte. Es waren Fynns Lieblingslieder.
Ab und an fanden wir Sachen von Fynn, die Lisa und Nate dazu brachten, laut aufzulachen. Sie fingen an, mir die lustigsten Momente dazu zu erzählen und so langsam veränderte sich die Atmosphäre in Fynns Zimmer.
Es gab kein erdrückendes Gefühl mehr, keine Traurigkeit, kein Verlust.
Als Nate und seine Mom sich zusammen über ein altes Familienfoto beugten, das sie in einen der Schubladen gefunden hatten, trat ich einen Schritt zurück und betrachtete sie für einen kurzen Moment mit einem Lächeln.
Sie sahen glücklich aus und als Lisa den Kopf in den Nacken warf und anfing zu lachen, weil Nate behauptete, sie würde auf dem Foto aussehen wie eine Schildkröte, beschloss ich, dass dieser Rest des Rätsels Nate und seiner Mom gehören sollte.
Ich wusste nicht, wie ich mich bemerkbar machen sollte, doch gerade, als ich Nate ansprechen wollte, drehte er sich leicht zu mir um und schien zu bemerken, dass ich gehen wollte.
Unsicher wippte ich auf meinen Fußballen vor und zurück, doch mit einem einzigen Lächeln brachte er die Unsicherheit in mir wieder zum Erliegen.
„Es ist wirklich schon spät. Warte... ich suche hier eben nur den Müll zusammen, dann bringe ich dich zu deinem Auto, okay?"
Ich nickte und er beeilte sich das Altpapier von dem Boden aufzuheben. Ein Zettel war halb unter Fynns Bett gerutscht und als er sich danach bückte, stockte er mitten in seiner Bewegung.
Gerade, als ich ihn fragen wollte, was los war, fing er an schallend zu lachen. Er griff nach etwas und richtete sich dann wieder auf. Als er sich wieder zu mir und Lisa umdrehte, konnte ich erkennen, was er in seiner Hand hielt und sofort musste auch ich anfangen zu grinsen.
„Hat jemand Hunger auf zwei Monate alte Nudeln in süß-saurer Soße?" Er schnupperte an der offenen Take-away-Box, die er in der Hand hielt und rümpfte kurz darauf die Nase. „Es kommt sogar in der special-Edition a la vergammelt."
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(07.09.2019)
Storytime!
Als meine Mama heute mit meiner Oma telefoniert hat, hat sie meinen jetzigen Lebenszustand als 'Künstler' bezeichnet, da ich bereits nur noch im Schlapperlook, ungewaschenen Haaren, Kaffeetasse (Latte Macchiato genau genommen) und in meinem heiß geliebten Morgenmantel den ganzen Tag herumschleiche, wenn ich mich nicht gerade in meinem Zimmer verschanzt habe, um hier Parallel Lines zu ende zu bringen.
Außerdem hätte ich sehr gut Schokolade gebrauchen können. Ungefähr zehn Tausend Male, als ich dieses Kapitel geschrieben habe. Leider hatten wir keine einzige Süßigkeit im Haus, bis auf Zitronensorbet, das ich nicht mag.
Aber ja, dieses Kapitel hat mich in der Mitte etwas die Nerven gekostet. So sehr, dass ich sogar einmal einfach nur "Dann fuhr ich los. Fuhr gegen eine Laterne und starb' geschrieben und an eine Freundin geschickt habe, um sie zu fragen, ob ich es einfach so enden lassen könnte und was sie denken würde, wie die Leser reagieren würden.
Natürlich habe ich das so nicht stehen gelassen, haha, wie ihr hier seht.
Stattdessen habe ich zuerst einmal alle Fynn-Kapitel geschrieben (da sie für mich in dem Moment deutlich einfacher waren, als diese Szene, wo sie das achte Rätsel lesen).
Umso glücklicher bin ich jetzt, dieses Kapitel tatsächlich fertig gebracht zu haben, ohne in meinem Morgenmantel von meinem Balkon zu hüpfen. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich zum Schluss richtig gut reingekommen und nun mit dem Verlauf auch zufrieden.
Ich hoffe, ihr auch.
(Storytime ende)
Nun ja, gibt es so viel zu diesem Kapitel zu sagen?
Das achte Rätsel ist gelöst - sie müssen loslassen. Irgendwie mag ich es selbst sehr, dass auch Fynns und Nates Mom hier nochmal mit einbezogen wird. Denn auch für sie ist es unglaublich schwer. Als Mutter kann man, denke ich, nie ganz loslassen.
Aber Fynn wollte, dass alle einen Neustart bekommen.
Bis ganz ganz bald!
Alles Liebe,
Merle und ihr blauer Morgenmantel
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