⌜Fynns Silvester⌝
Er oder Sie.
Familie oder Liebe.
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║ A L I C I A ║
Silvester.
Es war das erste Mal, dass ich mich nicht zusammen mit meinen Freundinnen fertig machte und es fühlte sich komisch an, nicht das vertraute Gebrabbel meiner Freunde um mich herum zu haben, während ich in mein Kleid schlüpfte, das ich für den heutigen Abend aus den Schrank hervorgekramt hatte.
Ich musste zugeben, dass ich es etwas vermisste, doch bevor meine Gedanken zu trübselig werden konnten, zwang ich mich dazu, mich voll und ganz darauf zu konzentrieren, meinen Lockenstab einzuschalten und mich nicht an dem heißen Eisen zu verbrennen.
Ich hatte keine Ahnung, ob ich nicht vielleicht schon zu overdressed war, doch da Nate seit seiner Absage weiterhin wortkarg geblieben war und wir somit kaum Kontakt gehabt hatten, wusste ich auch nicht, was mich heute Abend erwarten würde.
Das einzige, was ich wusste, war, dass wir uns um 19 Uhr im Joey's treffen würden und da es auf dem Weg zu der Party, bei der meine Eltern eingeladen waren, lag, hatte ich glücklicherweise auch eine Mitfahrgelegenheit.
Kaum saßen wir im Auto, überfiel mich eine ungewohnte Nervosität. Im Radio dudelten noch immer Weihnachtslieder und mit einer Hand fischte ich mein Handy aus meiner kleinen Handtasche, um Nate zu schreiben, dass ich auf dem Weg war.
„Du musst hier gleich abbiegen", merkte ich an, als ich bemerkte, dass wir das Diner beinahe schon erreicht hatten.
„Bringt Vany dich nachher nach Hause?", fragte mich Dad, während er den Blinker setzte und auf den Parkplatz des Diners fuhr. Leicht zuckte ich zusammen, bevor ich den Kopf schüttelte und die Tür öffnete, um aussteigen zu können.
„Nein, aber einer von den anderen. Danke, hab euch lieb und guten Rutsch ins neue Jahr!", sprach ich und schlug hastig die Autotür wieder zu, bevor sie weiter nachfragen konnten. Denn wenn ich ehrlich war, wollte ich ihnen nicht erklären müssen, wieso ich nicht mit meinen alten Freunden Silvester feierte.
Ich winkte meinen Eltern noch zu, als sie wieder vom Parkplatz fuhren und machte mich dann mit meinem wie wild klopfenden Herzen dazu auf so schnell es ging in das Diner zu gelangen. Denn die Kälte kroch bereits durch den dünnen Stoff meiner Strumpfhose.
So wie es schien, waren wir nicht die einzigen gewesen, die die Idee hatten, bei Joey in das neue Jahr reinfeiern zu wollen.
Denn das gesamte Diner war bis auf den letzten Platz gefüllt. Zwei Tische waren zusammengeschoben, sodass ein reichlich gefülltes Buffet Platz fand. Girlanden hingen von der Decke und Ballons waren an einzelne Stühle festgebunden. Im Hintergrund lief wie immer die Jukebox und ich konnte Joeys Ehefrau Trudy hinter der Theke herumwuseln sehen.
An unserem üblichen Stammplatz konnte ich bereits die anderen sitzen sehen, sodass ich mich durch den Trubel an Menschen zu ihnen schob. Ich erkannte viele andere Schüler meiner Schule vom Sehen wieder, aber auch die ältere Generation war nicht weniger vertreten, sodass ein völlig gemischtes Publikum entstand.
Ich winkte Trudy zur Begrüßung zu, als ich am Tresen vorbeilief und begeistert lächelte sie zurück, bevor sie sich wieder zu Joey umdrehte, der gerade dabei war, Konfettikanonen aus Pappe aus einem Karton zu heben.
„Da bist du ja endlich!", rief Emily über den Lärm hinweg, als ich unseren Tisch erreicht hatte. Sofort sprang sie auf und umarmte mich zur Begrüßung. „Schick siehst du aus! So fein." Sie selbst trug einen dünnen Pullover, doch bevor ich mich in meinem Kleid unwohl fühlen konnte, sah ich, dass Erin auch einen Rock trug.
„Danke, kann ich nur zurückgeben", meinte ich, während mein Blick zu den Jungs glitt. Ethan bemerkte ich nur am Rande, zur Begrüßung lächelte er mir zu.
Mein Blick war jedoch schnell nur auf Nate fixiert, der zwischen Erin und Ethan auf der Sitzbank saß und für mich somit gefühlt unerreichbar war.
Er trug ein Hemd, hatte jedoch die Ärmel hochgekrempelt. Er erwiderte meinen Blick und als ich das leichte Lächeln auf seinem Gesicht sah, entspannte ich mich merklich.
„Hey", meinte ich nur, bevor ich mich auch auf die Bank schob und meine kleine Tasche auf den Tisch legte. „Hättest du Bescheid gegeben, dass du es doch noch schaffst, hätte ich dich ja auch wie die anderen abholen können. Bist du selbst gefahren?", fragte Emily, während sie an dem Strohhalm ihres Milchshakes saugte.
Leicht verwirrt runzelte ich die Stirn.
Wie meinte sie das?
„Mom und Dad haben mich vorbeigebracht, aber warum hätte ich es denn nicht-"
Nate fiel mir ins Wort, bevor ich zu Ende sprechen konnte: „Wollen wir uns nicht etwas vom Buffet holen? Ich bin am verhungern und wie ich Trudy und Joey kenne, haben sie für später auch noch Spiele geplant..."
Mein Blick huschte zu ihm und ich sah, wie er unruhig zwischen Emily und mir hin und her sah. Misstrauisch runzelte ich die Stirn. Irgendetwas stimmte hier doch nicht und noch immer wollte ich wissen, wie Emily es gemeint hat, dass ich es vielleicht nicht hätte schaffen können. Davon war doch nie die Rede gewesen, oder?
Doch bevor ich erneut nachhaken konnte, stimmten die anderen Nate zu und standen auf. Auch Nate beeilte sich zu dem Buffet zu kommen und ich versuchte mit ihm Schritt zu halten. In der Schlange am Buffet stand ich zwar hinter ihm, aber er war die ganze Zeit in einem Gespräch mit Ethan vertieft und schien mich nicht einmal zu bemerken.
Meine Laune sank immer mehr und missmutig stocherte ich in meinen Bratkartoffeln herum, während die anderen sich unterhielten. Andere Bekannte und Schüler von unserer Schule gesellten sich schließlich zu uns.
Tische wurden zusammengeschoben, alle möglichen Partyspiele vorgeschlagen.
Schlussendlich endeten wir nach Pantomime und Stopptanz bei dem Spiel Reise nach Jerusalem.
Jung und Alt beteiligten sich, selbst Joey versuchte sein Glück.
Und ich versuchte mit jeder weiteren Stunde, die verging, die Tatsache zu ignorieren, dass Nate nicht einmal zwei vernünftige Sätze mit mir reden konnte, ohne die Flucht zu ergreifen.
Bei dem Spiel wurden es schnell immer weniger Stühle und als Emily sich kreischend auf mich stürzen wollte, weil ich vor ihr den letzten Stuhl ergatterte, lachte ich zum ersten Mal an diesem Abend wieder.
Doch meine gute Laune verflüchtigte sich schnell, als ich realisierte, dass ich mich zusammen mit nur noch zwei anderen und Nate im Spiel befand.
Ich versuchte mein Bestes und nach zwei weiteren Minuten standen Nate und ich uns gegenüber. Zwischen uns befand sich der letzte Stuhl.
Herausfordernd hob ich mein Kinn an und stemmte meine Hände in die Seiten. Nate ließ mich nicht aus den Augen.
„Na, dann, das der bessere gewinnt", sprach ich schließlich aus, als Trudy erneut die Musik anstellte und Nate und ich uns um den Stuhl wie Raubkatzen im Kreis bewegten.
Von allen Seiten aus feuerten sie uns an, doch der Lärm erreichte meine Ohren nur wie durch Watte. Stattdessen war ich vollkommen auf Nate fixiert und auch er ließ mich nicht aus den Augen. Sofort schlug mein Herz bis zu meinem Hals. Nates intensiver Blick aus seinen grünen Augen stellte mal wieder alles weit in den Hintergrund, sodass ich viel zu spät mitbekam, dass die Musik stoppte.
Nate hätte es ohne Mühe geschafft, sich gemütlich auf den Stuhl hinzusetzen, doch stattdessen blieb er einfach stehen und starrte mich an.
Somit saß ich zuerst und um mich herum ging das Gejohle los.
Während gejubelt wurde und die Musik zum Tanzen wieder angemacht wurde, beugte Nate eine leichte Verbeugung an. „Herzlichen Glückwunsch zum Sieg, Alicia", sprach er, bevor er sich umdrehte und in der Menge verschwand.
„Halt, warte!", rief ich ihm hinterher, doch er hörte nicht auf mich. Als ich aufspringen wollte, um ihm hinterher zu rennen, griff Trudy nach meinen Arm und drückte mir lachend eine Schokolade als Siegespreis in die Hand. „Mein Mädchen, da hat dich jemand ja gewinnen lassen, aber keine Sorge, Sieg ist Sieg und die Schokolade gehört dir!"
Sie lenkte mich ab und hastig bedankte ich mich, doch als ich mich wieder in die Richtung umdrehte, in der Nate verschwunden war, konnte ich ihn nicht mehr sehen.
Verdammt.
Wo war er hin?
Und wieso zur Hölle hatte er mich einfach gewinnen lassen?
Selbst ein Blinder mit einem Krückstock hätte sehen können, dass er absichtlich verloren hatte.
Um mich herum fingen die anderen Gäste an zu tanzen und bevor ich vollkommen in dem Pulk aus glücklich tanzenden Menschen untergehen konnte, drängelte ich mich zurück zu unserem Tisch, an dem Erin, Emily und zwei andere Mädchen Snacks essend saßen.
„Wo ist Nate hin?", fragte ich sie, bevor auch sie mir noch zum Sieg gratulieren konnten.
Erins Blick wanderte zu ihrer Armbanduhr und während sie sich zwei weitere Nüsse in den Mund schob, meinte sie achselzuckend: „Es ist nicht mehr lange bis Mitternacht und Joey hatte die Jungs vorhin gefragt, ob sie nicht das Feuerwerk vorbereiten könnten, da er es mit seinem Bein nicht mehr schafft... Vielleicht musst du draußen mal schauen... Hey, wo willst du denn so schnell hin?"
Bevor ich ihr überhaupt antworten konnte, hatte ich mich wieder durch die Menschenmasse gedrängelt und war auf den Weg zum Hinterausgang.
Den ganzen Abend schon hatte Nate sich mir gegenüber ganz anders und vollkommen abweisend benommen und ich wollte mich keine Sekunde länger damit abfinden.
Verdammt, wenn es ein Problem gab, sollte er mit mir reden!
Kaum trat ich nach draußen, wurde mir bewusst, wie stickig es in dem kleinen Diner gewesen und wie unglaublich kalt es hier draußen war. Mein Atem bildete kleine Wölkchen vor meinem Mund und als die Tür hinter mir wieder ins Schloss fiel, erreichte mich die Musik von Drinnen nur noch gedämpft.
Die Außenbeleuchtung war angeschaltet, sodass der kleine, zugefrorene See gut zu erkennen war.
Genauso wie Ethan, Nate und ein weiterer Junge von unserer Schule, die gerade dabei waren, Raketen in leere Sektflaschen zu stecken.
Ohne länger darüber nach zudenken, setzte ich mich in Bewegung und ging mit großen Schritten durch den Schnee auf die Jungs zu.
Ethan bemerkte mich zuerst: „Hey, Alicia, willst-"
Ich beachtete ihn gar nicht erst. Ich ließ ihn nicht einmal ausreden, denn sobald Nate sich zu mir umdrehte und mich endlich bemerkte, sprach ich ihn direkt an: „Warum hast du mich gewinnen lassen?"
Er blinzelte mich leicht überrumpelt an, bevor sein Blick schließlich zu den anderen beiden wanderte.
Ich jedoch stellte mich provokativ direkt vor ihm auf und stemmte meine Hände in die Seiten.
„Alicia..."
„Ich habe dir eine Frage gestellt", meinte ich nur und presste meine Lippen aufeinander, während ich ihn nicht aus den Augen ließ. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie Ethan nur entschuldigend die Arme hob. „Ich glaube, wir lassen euch kurz alleine. Tom, wollen wir eben Joey fragen, wo wir noch mehr Sektflaschen herbekommen?"
Nates Gesichtsausdruck veränderte sich und beinahe verzweifelt schien er seinen Freund hierherzublicken, als dieser uns alleine ließ.
„Also, Nate...", setzte ich erneut an und bekam somit wieder seine Aufmerksamkeit. Seufzend wendete er sich wieder mir zu und als sein Blick auf meinen traf, fuhr er sich einmal durch seine Haare.
„Müsstest du das denn nicht wissen, Alicia?"
Nun war ich es die verwirrt die Stirn runzelte. „Was sollte ich wissen?"
„Warum ich dich gewinnen lassen habe. Das war doch deine Frage, oder etwa nicht?", entgegnete er, während er seine Hände in die Hosentasche schob. Leicht legte er den Kopf schief und sein Blick wanderte über mein gesamtes Gesicht, als er weitersprach: „Denn du hast selbst gesagt; möge der Bessere von uns beiden gewinnen... Und das bist du, Alicia. Du bist die bessere Person von uns beiden."
Zittrig holte ich tief Luft und versuchte gleichzeitig zu begreifen, was er damit sagen wollte.
Ich wusste, dass er sich längst nicht mehr auf das Spiel bezog.
Doch wenn ich ehrlich war, wollte mir die Lösung nicht einfallen. Auch sein Gesicht, seine Augen verrieten mir nichts.
„Wie meinst du das, Nate?", fragte ich schlussendlich nach, wobei ich selbst die Unsicherheit in meiner Stimme hören konnte.
Für eine Sekunde unterbrach er den Blickkontakt und er hob den Blick gen Himmel. „Damit meine ich, dass dich keine Schuld trifft. Ich bin der Schuldige, du hast ihn nicht gekannt, aber ich... ich habe mit ihm mein Leben geteilt. Sein Leben..."
Fynn.
Es war klar, dass er über Fynn sprach und auf einmal überkam mich eine Gänsehaut.
Doch sie kam nicht von der Kälte.
Sondern von einer Erkenntnis, die ich weigerte anzunehmen.
„Nate?" Ich legte meine Hand auf seine Schulter, doch als er leicht zurückzuckte, wurde mir speiübel. „Warum bist du so zurückweisend?"
Ich kannte die Antwort.
Aber gleichzeitig hoffte ich so sehr, dass ich sie nicht kennen würde.
Dass ich mich täuschen würde.
Dass alles nur ein riesen Missverständnis war.
Er hob wieder den Blick an und diesmal wünschte ich mir, mich einfach nur in seinen grünen Augen verlieren zu können, ohne auf seine Worte hörten zu müssen. „Es war ein Fehler." Er holte tief Luft und sein Blick wanderte wieder von mir weg, so als könnte er es nicht ertragen, mir in die Augen zu sehen. „Es war ein Fehler, Alicia."
Mein Herz blieb stehen, während sich mein Magen um 180 Grad zu drehen schien. Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter und auf Hochtouren versuchte mein Gehirn eine mögliche andere Erklärung für seine Worte zu finden.
Doch es gab keine.
Er hatte sich unmissverständlich ausgedrückt.
„Wir sind also ein Fehler, meinst du das, Nate?" Meine Hand rutschte von seiner Schulter und zittrig holte ich Luft. Doch ich hatte weiterhin das Gefühl, dass nicht genügend Sauerstoff in meinen Lungen ankam und ich kurz vor dem Ersticken stand.
Sein Blick traf erneut auf meinen und ich erkannte in ihm so viel Schmerz. Aber auch die Bestätigung, die mir das Gefühl gab, endgültig den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ich ging automatisch einen Schritt zurück, so als könnte ich so verhindern, dass all dies hier Wirklichkeit wurde.
„Ja."
Wenn ich gedacht hatte, dass ich nicht noch mehr Schmerz spüren könnte, hatte ich mich getäuscht. Denn mit nur diesem einen Wort, das seinen Mund verließ, zersplitterte mein Herz.
Mein Blick fiel hinter ihn auf den See und sofort musste ich daran denken, wie wir vor nicht allzu langer Zeit Schlittschuh gelaufen waren.
Ich dachte an unsere Treffen.
Wie er mir in Geschichte geholfen, mich von der Party abgeholt und mir die Haare zurückgehalten hatte.
Ich sah vor meinem inneren Auge, wie wir wieder zusammen auf der Hollywoodschaukel saßen und die Sterne beobachteten.
Wie wir Nudeln essend versuchten die Rätsel zu lösen und versuchten, nicht beim Joggen zu sterben.
Und natürlich erinnerte mich mein Herz auch an den Abend, an dem wir uns zum ersten mal geküsst hatten.
Viel zu intensiv wusste ich noch jedes noch so kleine Detail.
Wie er mich angesehen hatte.
Wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt hatten.
Und auf einmal war es nicht mehr das Schlimmste, dass er dies alle für einen Fehler hielt, sondern die Frage, ob er vielleicht anders auf all diese Momente zurückblickte.
Ich wandte mich ihm wieder zu und versuchte meine Stimme unter meine Kontrolle zu bekommen. Tief holte ich Luft, bevor ich den Mund zum Sprechen öffnete: „Ich habe eine wichtige Frage an dich...", Kurz setzte ich aus, bevor ich weitersprach: „Wenn du könntest, würdest du die Zeit zurückspulen, zu der Nacht, in der wir uns geküsst haben?"
Für einen kurzen Moment blieb es still zwischen uns und wir starrten uns nur schweigend an.
Wie in Zeitlupe öffnete er den Mund, um zu antworten und für einen Augenblick war das schnelle Schlagen meines Herzens das einzige, was ich hören konnte.
„Ja..." Nate räusperte sich und fügte hinzu: „aber nicht, um es ungeschehen machen zu können, Alicia..."
Mein Blick hüpfte von seinem einen Auge zu seinem anderen, in der Hoffnung, so aus seinen Worten schlau werden zu können. „Warum dann? Warum dann, Nate?"
Ich selbst konnte die Verzweiflung und die Verwirrtheit in meiner Stimme heraushören und ich verfluchte mich selbst dafür.
Nate kam einen Schritt auf mich zu und leicht zuckten seine Arme, so als hätte er mit den Gedanken gespielt, die Hände nach mir auszustrecken, sich schlussendlich aber doch dagegen entschieden. „Nur, damit ich es ein zweites Mal erleben könnte, Alicia. Und genau deswegen fühle ich mich schlecht."
Nun hatte ich wirklich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
Denn mit diesen Worten gab und nahm er meinem Herzen zur gleichen Zeit Hoffnung.
Er bestätigte mir, dass es ihm ähnlich wie mir ging, dass er es eigentlich wollte.
Aber gleichzeitig vernichtete er sie auch, indem er es dennoch als ein Fehler bezeichnete.
Auf einmal wurde mir klar, wieso er nicht mehr die Rätsel lösen wollte.
Er hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Fynn.
Fynn, der uns die Rätsel hinterlassen hatte.
Fynn, der Nate und mich erst miteinander bekannt gemacht hatte.
Fynn, der eine Schwäche für mich gehabt hatte.
Fynn, der jetzt nicht mehr unter uns Weilte.
„Nate, Fynn ist tot."
„Sag das nicht, Alicia." Er schüttelte den Kopf und ich tat es ihm gleich. Tränen schossen mir in die Augen und ich konnte es nicht verhindern.
„Doch, Nate. Fynn ist tot. Und wir können nichts daran ändern. Deswegen sind wir noch lange keine Fehler...Wir sind nicht schuld."
„Verdammt, doch, Alicia!" Nate warf urplötzlich seine Arme in die Luft und von der Intensivität seiner Stimme zuckte ich kurz zusammen. Aufgeregt fuhr er sich durch die Haare und ich konnte sehen, dass auch er den Tränen nah war. „Eben doch, Alicia. Fynn hat dich vergöttert und uns diese Rätsel hinterlassen und dann komme ich... und ich versau' alles." Sein Blick traf wieder auf meinen, bevor seine Hände zu Fäusten ballte und einen kurzen Schrei ausstieß. „Denn mir fällt nichts Besseres ein, als mich in dich zu verlieben... Aber ich will dich Fynn nicht wegnehmen, du warst alles, was ihm noch geblieben ist."
Dachte ich vor wenigen Minuten noch, dass ich nicht schlimmer fühlen konnte, so wurde mir jetzt bewusst, dass ich mich getäuscht hatte.
Konnte ein Herz wirklich mehrmals brechen?
Zumindest lag meines in Tausenden von Splittern irgendwo auf dem Boden und zerfetzte mich von innen heraus. Ich bekam keine Luft mehr, alles drehte sich und ich hatte das Gefühl jeden Moment umzufallen.
Nate hatte sich in mich verliebt.
Er hatte diese Worte ausgesprochen.
Aber in einem grässlichen Zusammenhang.
„Du kannst nichts dafür, wirklich nicht. Aber du bist wie Gift, wie eine Droge, die mich vergessen lässt. Aber dann, sobald du weg bist, kommen all die Erinnerungen wieder... Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Denn weißt du, was das Schlimmste ist, Alicia?" Ich konnte sehen, wie seine Hände zitterten und er wieder anfing den Kopf zu schütteln: „Das Schlimmste ist, dass zwar all die Erinnerungen wiederkommen... aber nie er. Und das wird er auch nie wieder."
Ich spürte, wie die Tränen über meine Wangen liefen und ich immer wieder den Kopf schüttelte.
Er konnte das doch nicht ernst meinen, oder?
Fynn war tot.
Er war tot und ich habe ihn nie persönlich gekannt.
Wie konnte dann all dies hier ein Fehler sein?
„Durch die Rätsel habe ich endlich bemerkt, was Fynn in dir sieht... gesehen hat, Alicia."
„Aber die Rätsel zeigen auch, dass wir keine Fehler sind, Nate", brachte ich endlich hervor und drückte meine Hände auf meinen Bauch, in der Hoffnung, so etwas Linderung gegen die Schmerzen zu erhalten.
Fynns Blick veränderte sich und sofort wurde mir bewusst, dass ich verloren hatte.
Dass wir verloren hatten. „Aber die Ergebnisse für Fynns Rätsel sind auch nicht, dass ich mich verliebe und-"
„Aber vielleicht, dass ich mich verliebe?", unterbrach ich ihn und perplex starrte er mich an. „W-was?", fragte er zögerlich nach und sofort setzte ich mit etwas mehr Mut hinterher: „Vielleicht sollten sie mir die Augen öffnen, Nate. Weil ich es mehr nötig als du hatte. Denn ich habe mich verliebt." Mit mehr Nachdruck, damit er es endgültig verstand, setzte ich hinterher: „In dich."
Er starrte mich an. So, als könnte er nicht fassen, was ich gerade gesagt hatte.
Doch gerade, als ich wieder genug Selbstbewusstsein hatte, um auf ihn zuzugehen, fing er an den Kopf zu schütteln und die Hände abwehrend zu heben.
„Nein, Alicia. Das meinst du nicht ernst. Du darfst es nicht ernst meinen..."
„Und wieso nicht?"
„Verdammt! Verstehst du es nicht?" Er stieß ein Geräusch aus, das ich nicht einordnen konnte. „Fynn hat uns dies hier hinterlassen, bevor er sich umgebracht hat. Es hat ihm viel bedeutet, es war seine letzte Bitte an mich. Ich kann ihn nicht enttäuschen... ich habe ihn bereits enttäuscht, ihn hintergangen. Ich will nicht das in den Dreck ziehen, wofür er gelebt hat."
Vollkommen fassungslos starrte ich ihn nur an. Und dann öffnete ich den Mund und sprach die Worte aus, von denen ich zu hundert Prozent wusste, dass ich sie später bereuen würde. Doch mein gebrochenes Herz wollte in genau diesem Moment nichts anderes, als sie ihn entgegen zu schreien, in der Hoffnung, ihm so die Augen zu öffnen und meinen eigenen Schmerz etwas lindern zu können: „Nate, Fynn ist tot. Tot. Du kannst ihn gar nicht mehr enttäuschen, das Leben geht weiter!"
Etwas veränderte sich in Nates Gesicht und er machte zwei weitere Schritte rückwärts, bevor er sich von mir abwandte.
„Ich muss jetzt rein, Joey wollte, dass wir auch noch die Lichtershow aufbauen und es ist fast Mitternacht."
Er wechselte das Thema.
Einfach so.
Aus dem Nichts.
Ich konnte nichts anderes tun, als ihm wie erstarrt hinterherzusehen, als er an mir vorbei wieder zum Diner ging.
Ich schaffte es nicht einmal, ihm etwas hinterherzurufen, als er die Tür öffnete und ins Innere verschwand.
Stattdessen stand ich wie eine Salzsäule draußen am Ufer des Sees in der Dunkelheit und fragte mich, was gerade passiert war.
Ich wusste nicht, wie es möglich war, aber einerseits war mein Kopf wie leergefegt, doch auf der anderen Seite rasten meine Gedanken wie wild.
Nate hatte seine Gefühle gebeichtet.
Er hatte sich in mich verliebt.
Aber sich im selben Atemzug gegen mich entschieden.
Gegen uns.
Ich spürte, wie ich anfing am ganzen Körper zu zittern.
Es fing in meinen Händen an, wanderte über meine Arme bis hin zu meinen Schultern.
Bis ich am ganzen Körper bebte, verging nicht einmal eine Minute.
Ich bemerkte selbst erst spät, dass auch die Tränen gekommen waren und ich das Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte.
Ich fuhr mir einmal über meine Augen und blinzelte dem See entgegen, als ich hinter mir hörte, wie die Tür aufging.
Auf einmal schallte mir viel zu laut die Partymusik aus dem Diner entgegen und ich konnte mehrere Stimmen hören. Von weitem sah ich wie nach und nach immer mehr Menschen aus dem Diner strömten.
Das war das Letzte, was ich gerade wollte und brauchte.
Ich wollte nicht, dass mich hier jemand weinen sah, deswegen beeilte ich mich um das Diner herumzulaufen.
Auf dem Parkplatz standen einige Autos, doch nach einer Sekunde wurde mir bewusst, dass ich nicht selbst gefahren bin. Ich verfluchte mich dafür, doch hier zu bleiben war keine Option.
Und so lief ich los.
Sarkastisch musste ich einmal kurz auflachen, als mir bewusst wurde, dass ich schon einmal in solch einer Situation gewesen war.
Damals war ich nach der Party und dem Streit mit Kyran auch einfach aus dem Haus gestürmt. Ohne Jacke oder Mitfahrgelegenheit.
Damals war Nate mein Rettungsanker gewesen.
Heute nicht.
Denn heute hatte ich keinen Anker mehr.
Ich trieb auf dem offenen Meer und war kurz davor von den Wellen mitgerissen zu werden und unterzugehen.
Erneut verfluchte ich meine Kleiderauswahl und stützte mich an einer kleinen Steinwand ab, als ich mir erst meinen einen hochhackigen Schuh und dann den anderen auszog.
Die Kälte kroch bereits durch mein Kleid und verbissen setze ich auf meinen Füßen nur in Strumpfhose meinen Weg fort.
Die Landstraße war nur spärlich beleuchtet und der Weg bis zur nächsten Bushaltestelle weit, außer Acht gelassen, dass ich nicht einmal wusste, ob am heutigen Feiertag Busse fuhren und mein Geld in meiner Tasche war, die noch immer im Diner lag.
Doch ich weigerte mich, meine Eltern anzurufen und mich erklären zu müssen.
Denn zumindest hatte ich mein Handy wie sonst auch immer in die Seite meines BHs geklemmt gehabt.
Stur lief ich am Rande der Straße immer weiter und versuchte nicht zu viel nachzudenken.
Doch dies war leichter gesagt als getan.
immer wieder wanderten meine Gedanken zu Nate, seinem Blick und seinen Worten.
Und sofort kamen die Tränen wieder.
Wie konnte das Leben so unfair sein?
Wie konnte Fynn mir einerseits Nate erst schenken, aber andererseits wieder wegnehmen?
Als in nicht weiter Entfernung etwas knallte, blieb ich stehen und drehte mich um.
Bunte Lichter erschienen im Sekundentakt am Himmel und erleuchteten die Nacht in einem wunderschönen Farbenspiel.
Das Feuerwerk begann.
Es war Mitternacht.
Für einen Moment blieb ich einfach nur auf dem Asphalt der Landstraße stehen und starrte dem Spiel der Lichter entgegen. Es zischte überall um mich herum und selbst aus dieser Entfernung konnte ich das Stimmengewirr hören.
Und vor meinem inneren Auge konnte ich es auch sehen.
Wie sie sich glücklich gegenseitig umarmten, sich ein frohes, neues Jahr wünschten, mit Sekt anstießen oder sich den wohl bekannten Neujahrskuss gaben.
Ich schüttelte meinen Kopf und drehte mich wieder meinen Heimweg zu.
„Na, dann mal ein frohes neues Jahr, Alicia", murmelte ich mir selbst zu und setzte mich wieder in Bewegung.
2016 war nun zu Ende.
2017 begann.
Und sollte eigentlich so viel Neues und Besseres bringen.
Wie konnte ein neues Jahr nur so schlecht starten?
Hinter mir konnte ich es noch immer knallen hören und sah es aus den Augenwinkeln aufblitzen. Doch ich zwang mich dazu, mit zusammengebissenen Zähnen nur starr nach vorne zu blicken und mich nicht umzudrehen.
Doch gegen die Tränen, die weiter unaufhörlich über meine Wangen liefen, konnte ich nichts tun.
Denn in diesem Moment wurde es mir bewusst:
Nate war nicht perfekt.
Aber er war alles was ich wollte.
~
(27.08.2019)
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