⌜Fynns Notizbuch⌝
https://youtu.be/7TE4DQmS2iQ
The first time I saw you,
my heart fell.
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║ A L I C I A ║
Nate,
Ja, ich spreche dich zuerst an, weil ich ganz genau weiß, dass du es sein wirst, der dies finden wird. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass jemand wie Alicia stundenlang bei dir bleiben würde, bis ihr zusammen überhaupt kapiert, was ich von euch will (Nichts für ungut, Alicia, ich habe das nur geschrieben, weil ich weiß, dass du mir dafür keine mehr verpassen kannst, denn ich gehe stark davon aus, dass du wohl kaum einem toten Jungen verurteilen würdest. Mom würde es zumindest nicht gefallen, ich glaube das fällt schon unter Leichenschändung –aber okay, ich komme vom Thema ab, sorry).
Nate, es tut mir Leid, dass es so gekommen ist.
Dass du jetzt den Küchendienst jedes Wochenende statt jedes zweite übernehmen musst, dass ich ein Chaos an Altpapier, ungewaschener Wäsche und Blöcken hinterlasse – und dass ich genauso wie Dad verschwinde.
Es war nicht meine Absicht, wirklich nicht, aber es ist zu komplex, als dass ich es jetzt erklären könnte. Zumindest kann ich es jetzt noch nicht. Nate, bitte sag Mom, dass es nicht ihre Schuld ist. Und dass ich sie liebe.
Ich will nicht, dass sie daran zerbricht, nur weil ich das letzte Rätsel gelöst habe.
Alicia,
Ich weiß nicht, ob du mich jemals bewusst wahrgenommen hast.
Es gab einmal einen Augenblick, da dachte ich, du würdest mich sehen. Vorletztes Jahr auf dem Schulflur.
Aber ich musste erkennen, dass es einen Unterschied zwischen jemanden flüchtig mit dem Blick zu streifen und jemanden bemerken gab.
Aber es ist nicht schlimm, Alicia. Es ist nicht schlimm.
Denn dafür habe ich dich immer gesehen.
Als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich, dass ich niemals jemand perfekteren getroffen habe. Aber je länger ich dich kennen gelernt habe, desto mehr wurde mir bewusst, dass die wahre Alicia Clarkson nicht die ist, die mit einem strahlenden Lächeln durch die Gänge läuft, viele Freunde hat und auch sonst ein perfektes Leben führt.
Alicia, verstehst du, was ich sagen möchte?
Ich habe dich gesehen.
Du bist wie eine Gleichung, die auf dem ersten Blick leicht aussieht. Eine, bei der man sich denkt, man würde die Lösung schon kennen, doch dann, wenn man noch einmal vorsichtshalber nachrechnet, stößt man auf Hindernisse, etwas, was man zuerst nicht ohne Hilfsmittel lösen kann. Etwas, was zuerst mathematisch unkorrekt aussieht. So wie negativ Zahlen in Wurzeln. Es ist zum Verzweifeln, denn ich wusste schon immer, dass du keine negative Wurzel bist, Alicia. Keiner von uns ist das.
und vielleicht klingt es total verrückt in deinen Ohren, aber das ganze Leben besteht aus Gleichungen. Von der Musik, die der Straßenmusiker spielt, über das Rauschen des Meeres bis hin zu dem Eichhörnchen, das wir jedes Jahr im Herbst gefüttert haben. Wir bestehen aus Gleichungen und das Besondere in dieser Welt ist, dass es bei diesen Gleichung nie ‚keine Lösung' gibt.
Es gibt immer eine.
Vielleicht nur auf einen anderen Rechenweg, als man es vorher angenommen hatte.
Mein Leben ist genau so eine Gleichung.
Um zu verstehen, worauf ich hinaus will, müsst ihr beide, du und Nate, euch vorstellen, dass jeder unbewusst mit jedem Tag seine persönliche Gleichung verändern kann. Sie kann schwieriger oder leichter werden.
Unterbewusst löst man sie Stück für Stück, manchmal rückt die Lösung des letzten Rätsels wieder in weite Ferne, wenn man seine Gleichung und somit seinen Rechenweg verändert.
Ich habe jeden Rechenweg ausprobiert.
Jeden einzelnen, denn hey! Ich bin Fynn Reeves und habe bisher jedes Rätsel lösen können.
Doch schlussendlich musste ich erkennen, dass ich um einiges komplizierter bin, als dass ich es selbst angenommen habe. Ich vermute sogar schon, dass selbst Isaac Newton seine Probleme mit meiner Gleichung gehabt hätte.
Es ist, als würde man in einem Netz aus Zahlen stehen, die sich immer enger um einen herum spannen. Die Zahlen werden genauso wie ich gefangen, aber bevor ich sie richtig fokussieren kann, verändern sie sich und lassen mich nicht erkennen, was diese Unbekannte in meiner Gleichung ist.
Ich bin nicht komplett in diesem Netzt verloren gegangen, Nate. Keine Sorge. Ich war es nie.
Denn ich weiß, dass ich parallel bin.
Parallel zu Alicia.
Genauso bin ich aber zu einer anderen Person windschief. Meinetwegen zu einem Kind aus China, denn wir beide würden uns niemals treffen, geschweige denn sonst irgendwie in Kontakt geraten.
Irgendwo da draußen, wird jemand sein, dessen Linie zu meiner identisch ist, genauso wie ich für jemand anderen eine Asymptote bin.
Das Leben besteht aus Linien und mit jedem neuen Kontakt zur Welt, verändert sich unsere persönliche.
Ich weiß, dass ihr es immer noch nicht verstehen werdet.
Und das ist nicht schlimm, wirklich nicht.
Besonders du nicht, Nate, weil du immer dachtest, dass du als mein großer Bruder mich ewig beschützen könntest und so gesehen meine Gleichung in Klammern stellst, um so dafür zu sorgen, dass ich mich zuerst selbst löse, bevor ich von äußerem attackiert werde.
Aber du auch nicht, Alicia. Einfach, weil du Mathe schon immer gehasst hast.
Manchmal kann Mathe einen das Leben aber besser erklären, als alles andere es könnte.
Ich rede nicht davon, dass ihr beide nun im Mathematik-Kurs besser aufpassen sollt, denn Himmel und Hölle – die Mathe-Lehrer an unserer Schule sind echt grauenhaft – sondern ich bitte euch um etwas.
Findet eure Gleichung.
Und euren Rechenweg.
Dann werdet ihr von ganz allein eure Lösung finden.
Genauso wie meine.
Denn schlussendlich habe ich sie dort oben auf der Klippe gefunden.
Lebt wohl,
Fynn
Ich las seine Worte immer und immer wieder. Er hatte fünf Seiten des Notizblockes damit vollgeschrieben und leicht strich ich über seine letzten Worte mit meinen Fingern hinweg, bevor ich meinen Kopf ruckartig gegen die Kopfstütze meine Autos rammte, den Blick auf das Dach richtete und verzweifelt versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Tränen schossen mir in die Augen und mit dem Ärmel meines Langarmshirts versuchte ich sie mir wegzuwischen, ohne dass ich unter den Augen wie ein Streifenhörnchen aussah.
Nach meinem Schock vor Fynns Spind hatte ich es nicht weiter als bis zu meinem Auto geschafft.
Und nun saß ich hier, im Schneidersitz auf dem Fahrersitz, meine Tasche achtlos in den Fußraum geworfen, las schon seit über einer halben Stunde wie in einer Dauerschleife die Worte von einem toten Jungen, die an mich gerichtet waren, heulte Rotz und Wasser und stand dabei immer noch mit dem Auto auf dem Schülerparkplatz.
„Ach scheiß drauf", murmelte ich, als ich bemerkte, dass die Tränen haushoch gegen meine vorsichtigen Versuche, mein Makeup zu retten, siegten. Ohne weitere Vorsicht wischte ich mir einmal quer mit meinem Ärmel über das Gesicht und zog meine Nase hoch.
Ich würde die Schule sowieso heute nicht mehr betreten.
Mein Blick fiel wieder auf das Buch in meiner Hand.
Fynn Reeves sprach, als würde er mich schon ewig kennen und würde er noch leben, würde ich es vielleicht gruselig finden.
Als ich langsam zurück blätterte und wie automatisch fiel mein Blick wieder auf einen bestimmten Absatz:
Als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich, dass ich niemals jemand perfekteren getroffen habe. Aber je länger ich dich kennen gelernt habe, desto mehr wurde mir bewusst, dass die wahre Alicia Clarkson nicht die ist, die mit einem strahlenden Lächeln durch die Gänge läuft, viele Freunde hat und auch sonst ein perfektes Leben führt.
Alicia, verstehst du, was ich sagen möchte?
Ich habe dich gesehen.
Ich biss meine Zähne zusammen. Denn dort hatte Fynn Unrecht gehabt.
Ich war nicht anders als die, die ich hier war.
Ich war überhaupt keine komplizierte Gleichung und er hätte sich nicht die Mühe machen müssen, mich lösen zu wollen!
Ich war nicht besonders, ich gab nicht vor, anders zu sein und ich wollte auch nicht auf verschiedene Rechenwege gelöst werden.
Ich wollte nicht, dass Fynns persönlicher Rechenweg ihn auf die Klippe geführt hat.
„Das kann doch alles nicht wahr sein!"
Ich umklammerte mein Lenkrad mit einer Hand und versuchte schlau aus Fynns Worten zu werden. Was wollte er damit erreichen?
Was wollte er von mir?
Warum war es ihm so wichtig, dass Nate und ich unsere eigenen Gleichungen lösen würden?
Ich blickte aus dem Fenster.
Der Himmel verdunkelte sich und schwere Gewitterwolken zogen vom Westen heran.
Es war der typische November.
Mit einem typischen Ereignis in der Weltgeschichte.
Aber einem untypischen Ereignis für unsere Stadt.
Die Definitionsgrenze zwischen Typisch und Untypisch weicht stark ab.
Je nachdem ob man es aus der Sicht der Welt oder aber aus der eines Mädchens in einer nicht allzu großen Stadt im Herzen Minnesota.
Für mich war der November typisch.
Typisch kalt, regnerisch und stürmisch.
Aber Fynns Selbstmord war für mich nicht typisch, auch wenn er nur einer von vielen gewesen war, der sich an diesem neunten November auf der Welt umgekommen war.
Mit den Fingern fuhr ich an dem Rand der Blätter entlang und schob langsam einen Finger unter das nächste Blatt.
Ich konnte nicht erklären warum, aber – ich fürchtete mich davor, eine neue Seite aufzuschlagen.
Ich wollte nicht, dass Fynn mein Leben noch weiter durcheinander brachte.
Am liebsten würde ich wieder zurückspülen, bis zu diesem Mittwoch vor zwei Tagen, wo noch alles einigermaßen normal war.
Ich habe durch mein Fotoalbum gescrollt, während ich mit einem Ohr Vany zugehört habe, die am anderen Ende der Leitung über verschiedene Kleiderstile, die für eine Hochzeit geeignet wären, geredet hatte und gleichzeitig versucht, Informationen für meine Ausarbeitung für den Geschichtskurs zu suchen. Ich war kläglich gescheitert – doch es war für mich typisch. Ich war wirklich nicht perfekt, nein, aber ich war auch nicht unglücklich, so wie Fynn es zwischen den Zeilen gesagt hatte. Ich war eigentlich glücklich...
Und heute war der elfte November und ich saß heulend in meinem Auto.
Fynn würde vielleicht sagen, dass sich innerhalb dieser zwei Tage meine Gleichung geändert hatte.
Ich schloss meine Augen, schüttelte meinen Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden und blätterte schlussendlich doch um.
Ich musste mir ein weiteres Mal über meine Augen wischen, um überhaupt klar etwas sehen zu können.
In Großbuchstaben stand am Anfang der Seite:
ERSTES RÄTSEL
DORT WO DIE UMGEKEHRTE WIRKLICHKEIT ALS GLEICHUNGEN IN FORM VON TANZENDEM GELB-ORANGE DAS GRÜN IN DEN SCHLAF KÜSST FINDET IHR DIE WAHRE LÖSUNG ZUM 17. SPRUNG DER IM KREIS EINGEFANGENEN UNENDLICHKEIT, DES ERSTEN RÄTSELS.
Verwirrt runzelte ich die Stirn, doch bis ein dahingekritzeltes Strengt euch an! Das ist noch einfach ;) von Fynn befand sich nichts mehr auf der Seite.
Mochte Fynn es wirklich so sehr in Rätseln zu sprechen?
Was zur Hölle meinte er mit der umgekehrten Wirklichkeit und wie konnte die Unendlichkeit eingefangen sein?
Angestrengt versuchte ich die Antwort und vor allem die Absicht hinter den Wörtern zu verstehen, doch die Schulklingel riss mich brutal aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen und schlug schnell das Buch zu und legte es auf den Beifahrersitz. Die ersten Schüler strömten in Gruppen aus dem Gebäude und ich wollte weg sein, bevor du ersten ihr Auto erreichten. Ich wollte nicht, dass sie mich hier bemerkten.
Ich wüsste jetzt schon, wie es morgen dann auf den ganzen Schulfluren heißen würde:
Alicia Clarkson saß stundenlang weinend in ihrem Auto.
Meinst du, Kyran hat sie in den Wind geschossen?
Ihre Wimperntusche klebte ihr als Klumpen an den Wangen!
Zudem parkte ich genau neben Vany und ihr Rede und Antwort zu stehen würde sogar noch schlimmer enden als all die Gerüchte, die die Tratsch Tanten unserer Schule in Umlauf bringen würden.
Ein letztes Mal wischte ich mir über meine Wangen, startete dann den Motor und parkte aus. Noch bevor ich an der ersten Kreuzung stand, wanderte mein Blick zu dem unscheinbaren roten Notizblöckchen neben mir.
Findet eure Gleichung.
Und euren Rechenweg.
Dann werdet ihr von ganz allein eure Lösung finden.
Seufzend fuhr ich mir mit zittrigen Händen durch meine Haare, die sich aus den unordentlichen Dutt lösten, den ich mir vorhin gemacht hatte, als ich völlig überstürzt in mein Auto gesprungen war.
Genauso wie meine.
Denn schlussendlich habe ich sie dort oben auf der Klippe gefunden.
Das Hupen hinter mir riss mich ruckartig wieder in die Wirklichkeit und ließ mich zusammen zucken. Als ich zur Ampel blickte, erkannte ich, dass es schon längst wieder grün war. Nervös versuchte ich anzufahren, doch in meiner Hektik soff ich den Motor ab und nun verfluchte ich, dass ich unbedingt dieses Auto haben wollte und keinen Automatik.
Die Ampel wechselte auf Rot, ohne dass ein Auto die Kreuzung überfahren konnte und ich konnte mir vorstellen, dass das Gemecker bei den Fahrern hinter mir groß war.
Für ein paar Sekunden schloss ich meine Augen und versuchte mich wieder zu beruhigen, bevor ich meine Hände fest um das Lenkrad schlang und mich dann wieder auf die Ampel konzentrieren versuchte.
Lebt wohl,
Fynn
Er fand immer und immer wieder seinen Weg in meine Gedanken und bevor ich recht wusste, was ich tat, setzte ich, kurz nachdem die Ampel auf Grün sprang, den linken Blinker und bogen zügig ab. Das Hupen hinter mir versuchte ich erneut zu ignorieren.
Umgekehrte Wirklichkeit.
Tanzendem Gelb-Orange.
Das Grün in den Schlaf geküsst.
Die im Kreis eingefangene Unendlichkeit.
Denn vielleicht war es ein typischer Novembertag für Minnesota und für den Rest der Welt.
Doch für mich war er untypisch.
Denn ich fuhr, mit einem Buch voller Rätsel neben mir, zu dem Bruder eines Toten.
Und dass, obwohl ich alles dafür geben würde, einen weiteren ganz typischen November erleben zu dürfen.
~
(23.11.2016)
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