⌜Fynns fünftes Rätsel⌝
Manche Rätsel sehen nur
auf dem ersten Blick schwierig aus.
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║ A L I C I A ║
Ich schaffte es nur noch für einen weiteren Tag meinen Freunden und besonders Kyran aus dem Weg zu gehen. Natürlich wusste ich, dass der Moment kommen würde, in dem ich nicht mehr davon laufen konnte, doch insgeheim hatte ich mir gewünscht, noch ein bisschen länger nicht darüber nachdenken zu müssen, was an Thanksgiving passiert war.
Es passierte schließlich, als ich mich auf den Nachhauseweg machen wollte. Schon von weitem sah ich Kyran an meinem Auto lehnen und für einen kurzen Moment blieb ich stehen, um mich sammeln zu können. Tief holte ich Luft, bevor ich mich wieder in Bewegung setzte und zielstrebig auf mein Auto zuging.
Als ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, hob Kyran den Blick und bemerkte mich. „Alicia."
„Kyran, was willst du?", fragte ich direkt, jedoch ohne schneidenden Unterton. Ich war es leid sauer zu sein.
„Mit dir reden... Ist das möglich?" Sein Blick war bittend und schnell versuchte ich mir etwas Zeit zu verschaffen, indem ich nach meinem Autoschlüssel in meiner Tasche kramte.
„Und was soll das bringen?", stellte ich die Gegenfrage.
„Ich will mich nicht länger streiten, Alicia", entgegnete er und langsam hob ich den Blick. Die widersprüchlichsten Gefühle machten sich in mir breit und seufzend fing ich an zu nicken. „Ich mich ja auch nicht, Kyran, aber..."
Ich dachte an die Party, an Kyrans Berührungen, seine Worte und die Tatsache, dass er es nicht einmal in Betracht gezogen hatte, mit mir zusammen sein zu wollen. Sofort zog sich mein Herz wieder zusammen und ich presste die Lippen zusammen. Kyran schien meine Veränderung zu bemerken, denn sofort kam er einen Schritt auf mich zu. „Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe und dafür möchte ich mich entschuldigen. Die gesamte Situation war nicht richtig und ich möchte einfach wieder zur Normalität zurück."
Normalität.
Ich schluckte bei dem Gedanken daran. Denn, dass alles wieder normal sein würde, kam mir so weit entfernt vor. So unmöglich.
Einerseits klang es so verlockend, aber dennoch wusste ich nicht, ob ich es wollte.
Doch für diesen Moment wollte ich den Kopfschmerzen einfach entfliehen. Ich wollte mir nicht auch noch darüber den Kopf zerbrechen müssen.
„Okay, Kyran..." Als er erleichtert die Luft ausstieß und einen weiteren Schritt auf mich zu machte, hob ich abwehrend die Hände und redete weiter: „Das heißt aber nicht, dass alles vergeben und vergessen ist. Das, was passiert ist, war der allerletzte Mist und wir müssen darüber noch reden..."
„Ja klar, wie wär's wenn ich dich heute Abend abhole und wir im Tiffanys etwas Essen gehen?"
Allein bei dem Gedanken daran, heute Abend auszugehen, wurde mir schlecht und ich wendete den Blick von Kyran ab. Ich wollte es nicht zugeben, aber mir war selbst mehr als bewusst, dass ich bereits nach einer Ausrede suchte.
„Kyran-", setzte ich an, wurde jedoch von einer Stimme hinter mir unterbrochen: „Tut mir Leid, Kyran, aber du kannst keine Dates so kurzfristig abmachen. Alicia ist ein heißes, begehrenswertes Mädchen – was du hoffentlich weißt - und hat den Terminkalender voll. Wir haben echt Glück, dass sie heute Abend Zeit hat, mit uns Bananeneisessend vor dem Fernseher zu sitzen." Vany erschien neben uns und schlang einen Arm um meine Hüfte, während sie Kyran zuzwinkerte. „Kurz gefasst steht heute Abend ein Mädelsabend an und nicht mal der Mädchenschwarm Kyran Coldwell kann diese Pläne durchkreuzen."
Kyran warf Vany einen irritierten Blick zu, bevor er langsam den Kopf schüttelte und schließlich ein gestelltes Lächeln auf seinen Lippen erschien. „Keine Sorge, Vany." Er hob die Hände leicht an und wendete sich dann wieder an mich: „Wir sehen uns, ja?" Ich konnte nur nicken, bevor er verschwand und es mir im gleichen Moment nicht verkneifen, erleichtert aufzuseufzen.
„Mädelsabend also?", fragte ich an Vany gerichtet, die schließlich meine Hüfte losließ und sich Kaugummikauend an mein Auto lehnte. Sie zuckte die Schultern. „Ja, der ist eh mehr als überfällig. Außerdem sahst du nicht geradezu begeistert davon aus, dich mit Kyran heute Abend auszusprechen. Da dachte ich, dass ich mein Karma mit einer Notlüge etwas aufpoliere."
Ich lachte und schüttelte im gleichen Moment den Kopf. „Aufpolieren?"
Vany hob den Mittelfinger. „Schatz, hör du mir bloß auf. Du hast nämlich auch noch so einiges zu erklären. Nämlich zum Beispiel, warum du mir seit gestern keine seelische Unterstützung in der Mensa leistest. Du weißt doch, dass Tara und Riley mir nie zuhören, wenn ich mich über die Konsistenz des Kartoffelbreis aufrege... Wobei du mir als Erstes eine Erklärung schuldig bist, warum du dich mit Kyran versöhnst, dich aber dennoch nicht mit ihm treffen willst. Das macht doch keinen Sinn." Sie beäugte mich skeptisch und erneut musste ich aufseufzen.
„Ich weiß es ja selbst nicht so genau, Vany..." Ich fuhr mir durch meine Haare und blickte zur Seite. „Ich denke, mir muss einfach klar werden, was ich will."
Vany nickte leicht und stieß sich im gleichen Moment von meinem Auto ab. „Okay, ich hoffe, dass es dir bald klar wird, denn auch wenn ich dich echt liebe – ich habe auch noch andere Pläne und kann ab sofort nicht jeden Abend deine Notfallausrede sein, okay Al?" Sie drückte mich einmal an sich und ich nickte nur als Antwort.
Als sie sich in Bewegung setzte, um zu ihrem Auto zu gehen, hob sie zum Abschied ihre Hand mit dem Autoschlüssel.
„Heute Abend um sieben Uhr. Keine Angst, ich sorge dafür, dass diesmal nicht Riley den Film aussuchen wird... Ach ja, und denk daran, eine Opfergabe mitzubringen, sonst kommst du nicht in meinen Tempel!"
Erst, als ich wieder auf der riesigen Couchlandschaft in Vanys Zimmer lümmelte und mich von Riley mit Chips füttern ließ, wurde mir bewusst, wie sehr ich die Abende mit meinen besten Freundinnen vermisst hatte. Im Hintergrund lief wieder einmal irgendein Channing Tatum Film, doch wir waren alle viel zu sehr damit beschäftigt über die unwichtigsten Sachen zu sprechen, als dem Film richtig Aufmerksamkeit zu schenken. Gleich zu Beginn hatte ich deutlich klar gemacht, dass ich heute nicht über Kyran sprechen wollte und ich war froh, dass alle drei es zu akzeptieren schienen.
„Wisst ihr eigentlich schon, dass Adams Party am Wochenende platzt?", warf Riley in den Raum.
„Wie bitte? Ehrlich?", fragte Vany überrascht und richtete sich auf, während ich nur verwirrt eine Augenbraue hochzog. „Was für eine Party?"
Es schien wohl, als hätte ich so einiges verpasst.
Riley zuckte die Schultern und schob sich eine Gummistange in den Mund. „Adams jüngerer Bruder hat mal wieder irgendeinen Mist gebaut und nun wollen seine Eltern ihn nicht mehr alleine lassen und haben den kompletten Urlaub abgeblasen..."
„Ich habe mich darauf echt schon gefreut!" Tara ließ sich stöhnend nach hinten in die Kissen fallen.
„Ich mich ja auch. Adam hat mich gefragt, ob wir die Party nicht einfach zu mir verschieben können, aber ihr wisst ja, dass wir momentan den Eingangsbereich und die Küche renovieren. Deswegen wollte ich fragen, ob wir nicht einfach bei einem von euch feiern könnten...?" Riley blinzelte einmal in die Runde und setzte ihren süßesten Hundeblick auf.
Tara richtete sich sofort wieder auf und hob kopfschüttelnd die Hände: „Nicht bei mir, ich habe schon die Party vor Thanksgiving ausgerichtet."
Auch Vany schüttelte den Kopf. „Mein Dad hat Sonntag Geburtstag. Ich kann zwar den Abend davor feiern gehen, aber wenn wir hier eine Party veranstalten, wird es definitiv nicht pünktlich zum Geburtstagsfrühstück wieder sauber sein."
Nun lagen alle Augenpaare auf mir und ich wusste was nun kommen würde.
„Alicia?", fragte Riley und lehnte sich etwas in meine Richtung. Stöhnend schüttelte ich den Kopf.
„Nun komm schon! Du bist uns etwas schuldig, dass du uns momentan so im Dunkeln tappen lässt. Sonst mochtest du es doch auch immer, die Gastgeberin zu sein."
Ich ließ mich seufzend nach hinten auf die Tagesdecke fallen und schloss meine Augen.
„Adam hat auch bereits den ganzen Alkohol besorgt, darum musst du dir also keine Gedanken mehr machen", fügte Riley mit schmeichelnder Stimme zu.
Vielleicht würde so eine Party wieder etwas Normalität einkehren lassen. Besonders, da ich jetzt erst bemerkt hatte, wie sehr ich meine Freunde vermisst hatte.
„Alicia..."
Ich unterbrach Riley, indem ich einen Finger in die Luft hob und schließlich seufzend wieder die Augen öffnete.
„Wenn es meine Party ist, darf ich auch entscheiden, wen ich einlade!"
Kreischend fielen mir meine Freundinnen um den Hals, sodass ich kaum noch Luft bekam. Dennoch reichte sie aus, um vollkommen losgelassen anfangen zu können zu lachen.
Auch wenn wir kaum etwas von dem ersten Teil des Filmes mitbekommen hatten, bestand Vany darauf, dass wir uns auch noch den zweiten anschauen würden. Keiner von uns anderen hatte ein Problem damit und während Vany umständlich versuchte, die Sprache einzustellen, diskutierten Tara und Riley darüber, wer die Wolldecke bekommen dürfte.
Grinsend beobachtete ich die beiden, wie sie anfingen, sich gegenseitig mit ihren Kissen zu schlagen, als mein Handy klingelnd aufzeigte, dass ich eine neue Nachricht bekommen hatte.
Sofort griff ich danach und ein leichtes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich im Sperrbildschirm sah, dass es Nate war.
Sofort gab ich den Pin ein und öffnete die Nachricht.
Es war wieder einmal ein Foto. Es schien eine Art Tradition zwischen uns zu werden, uns immer Bilder davon zu schicken, was wir gerade machten.
Auf dem neuen Foto zwinkerte Nate mir zu, während er eine Chipstüte mit einer Hand in die Luft hielt. Mom zwingt mich zu einem Filmeabend, aber zu Chips kann man sowieso nie nein sagen. Wie sieht dein Abend so aus? War sein Kommentar dazu.
Grinsend schüttelte ich einmal den Kopf, bevor ich die Kamera öffnete, mich mit der halbaufgegessenen Tüte Salzstangen fotografierte und es ihm sendete.
„Und wir dürfen auf diesem attraktiven Selfie nicht mit vertreten sein?", riss mich Riley wieder in die Realität und lachend legte ich mein Handy beiseite. „Nein, denn ansonsten dauert das Stunden, weil irgendjemand sich immer hässlich finden wird und ich das Foto immer wieder löschen müsste."
Riley streckte mir die Zunge heraus und kuschelte sich dann noch etwas weiter in die Decke. So wie es aussah, hatte sie den Kampf gegen Tara gewonnen.
Der Film begann und Vany kuschelte sich an mich. Ich versuchte mich auf den Film zu konzentrieren, doch sobald mein Handy neben mir wieder anfing zu vibrieren, griff ich gedankenverloren danach.
Nates Foto zeigte ihn diesmal vor einem gewaltigen Berg gestapeltes Geschirr in der Spüle. Ich war gerade dabei, meine Frontkamera zu öffnen, als sich Riley hinter mir bewegte.
„Wer ist denn das?", fragte sie und beugte sich über meine Schulter. Ich zuckte zusammen und ließ mein Handy sinken. Nun hatte ich auch die Aufmerksamkeit meiner anderen beiden Freundinnen und als Vany Nates Gesicht auf meinem Handy sah, zog sie eine Augenbraue hoch. „Ist das nicht der Junge, der Kyran die Meinung gesagt hat?"
„Sein Name ist Nate", meinte ich nur.
„Sein Name ist Nate", äffte Riley mich nach und beugte sich noch etwas weiter vor, um einen besseren Blick auf das Foto zu erhaschen. Sofort sperrte ich es, denn es waren Fotos, die nur an mich bestimmt waren. Es fühlte sich falsch an, sie meinen Freundinnen zu zeigen.
„Und wie es aussieht, hast du Kontakt mit diesem Nate?", hakte Tara nach und ich nickte. Es gab keinen Grund Nate zu verleugnen, ich musste ihnen ja nicht sagen, dass wir zusammen die Rätsel seines verstorbenen Bruders lösten.
„Läuft da was?", fragte Tara weiter nach und sofort drehte ich mich zu ihr um. Sie sah mich mit einem Stirnrunzeln an und als Vany einen Pfiff ausstieß, schüttelte ich den Kopf. „Nein, Tara! Wie kommst du darauf?"
Sie zuckte die Schultern, schien aber nicht sonderlich überzeugt davon zu sein.
„Wir verstehen uns nur gut. Das ist alles."
„Man darf doch wohl nachfragen. Mit Kyran verstehst du dich ja auch gut", entgegnete sie und stirnrunzelnd betrachtete ich sie.
„Was hat das denn jetzt mit Kyran zu tun?", fragte ich sie genervt. Hatte ich nicht vorhin mehr als deutlich gesagt gehabt, dass ich heute nicht über ihn reden wollte?
Tara lehnte sich leicht nach hinten und sah mich nicht an, als sie erwiderte: „Es wäre nur Kyran gegenüber unfair, wenn du etwas mit diesem Nate am Laufen hättest..."
Verbittert lachte ich auf und wollte gerade erwidern, wie sie darauf kommen könnte, dass es nach all dem, was vorgefallen war, unfair ihm gegenüber wäre, da wir ja eh nicht zusammen waren, als Vany sich etwas aufrichtete und beschwichtigend die Hände hob. „Wo-ho, ihr Lieben. Fahrt die Krallen wieder ein. Ist doch jetzt alles geklärt: Al und Nate verstehen sich nur und Kyran ist ein Thema, das wir heute weiterhin galant umgehen wollen, okay?" Dankbar nickte ich ihr zu und auch die anderen schienen damit einverstanden, auch wenn mir Riley immer wieder einen neugierigen Blick zu warf, während Tara sich den restlichen Abend komplett aus unseren Gesprächen heraushielt und nur mit zusammengepressten Lippen auf den Fernseher starrte. Mehrere Male verkündigte mein Handy mit einem Brummen das Eintreffen einer neuen Nachricht und da ich jedes Mal den prüfenden Blick von Vany auf mir spürte, öffnete ich keine einzige davon und stellte mein Handy auf stumm.
Ich würde ihm einfach später antworten.
„Wie lange soll es noch warten, Madam?"
Erschrocken ließ ich beinahe mein Mathebuch fallen, das ich gerade in meinen Spint räumen wollte. Sobald ich Nate erkannte, lachte ich leicht auf und schüttelte meinen Kopf. Er lehnte sich an der Wand ab und in einer Bewegung schlug ich die Spinttür zu.
„Was meinst du, Nate?"
Er zwinkerte mir leicht zu und ich bemerkte, dass seine Haare etwas kürzer waren. „Warst du beim Friseur?", stellte ich die Frage, bevor er mir überhaupt auf die erste Antworten konnte. Ich konnte es mir nicht verkneifen einmal kurz seine Haarspitzen zu berühren, die ihm jedoch immer noch leicht gewellt in die Stirn fielen.
Er verzog einmal kurz das Gesicht. „Ja, Emily war der Meinung, dass sie viel zu lang waren. Aber schau sie dir jetzt an. Jetzt sind sie viel zu kurz."
Ich konnte mir bei seiner gespielten Tragik das Lachen nicht verkneifen, doch bevor ich etwas erwidern konnte, sprach er weiter: „Egal, zu deiner anderen Frage: Das fünfte Rätsel wartet, Alicia. Und auch wenn die Wörter wahrscheinlich noch die nächsten Jahrzehnte warten würden, kann ich es nicht länger. Hast du heute Abend Zeit vorbei zu kommen?"
Über Nates Schulter sah ich, wie am Ende des Ganges Adam und Kyran auftauchten. Schnell hob ich meinen Rucksack vom Boden und warf ihn über meine eine Schulter. Dann wendete ich mich wieder an Nate. „Das klingt gut."
Er schenkte mir das breiteste Lächeln und sofort wurde mir warm ums Herz. „Dann bis nachher."
Er stieß sich von der Wand ab und auch ich beeilte mich in dem Meer aus Schülern unterzugehen, bevor Kyran mich entdecken würde.
ich war einfach ein Feigling. Denn auch wenn ich mich auf das heutige Treffen mit Nate freute, so wusste ich auch, dass ich es als erneute Ausrede benutzte, um mich nicht mit Kyran treffen zu müssen.
„Hier." Nate reichte mir die dampfende Tasse Tee und dankbar nahm ich sie ihm entgegen. Ich saß im Schneidersitz auf dem Sofa in Nates Haus und hatte Fynns Notizbuch in meinem Schoß liegen.
Mit meiner freien Hand fuhr ich über seine Worte und leicht seufzte ich auf, bevor ich mich etwas nach hinten lehnte. Nate nahm wieder neben mir Platz und stellte seine eigene Teetasse auf den Couchtisch. Es war bereits nach 19 Uhr und die letzte Stunde hatten wir uns den Kopf über Fynns fünftes Rätsel zerbrochen.
Es war anders als die anderen.
Denn einzig und allein drei komplizierte Sätze waren in die Mitte des Blattes geschrieben worden, ohne jeglichen Hinweis, was wir damit anfangen sollten.
„Kannst du es mir nochmal vorlesen?", durchbrach Nate die Stille und ich nickte. Als ich meinen Blick wieder auf Fynns Rätsel senkte und anfing vorzulesen, rückte Nate etwas näher. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er mich wachsam beobachtete, so alswürde ich die Lösung des Rätsels beinhalten und er würde es nur übersehen.
Ich blinzelte, von Nates intensiven Blick aus dem Konzept gebracht. „Ich schreibe es nochmal ab, vielleicht haben wir etwas übersehen...", meinte ich und selbst ich konnte die Nervosität in meiner Stimme hören. Schnell griff ich nach dem Stift und Zettel, auf dem wir bereits mehrere Lösungsversuche notiert hatten.
Dann wanderte mein Blick wieder auf Fynns Rätselbuch.
FÜNFTES RÄTSEL
'Ich bin ganz deiner Meinung - und die Moral davon ist: 'Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst' - oder einfacher ausgedrückt: 'Sei niemals ununterschieden von dem, als was du jenem in dem, was du wärst oder hättest sein können, dadurch erscheinen könntest, dass du unterschieden von dem wärst, was jenen so erscheinen könnte, als seiest du anders!'
Als ich es fertig abgeschrieben hatte, unterstrich ich vereinzelte Wörter und versah sie mit Fragezeichen. Ich tippte mir mit dem Stift gegen meine Unterlippe, als ich mich wieder an Nate wendete. „Was für einer Meinung kann er gewesen sein? Hast du eine Ahnung, was Fynn damit meint?"
Nate seufzte auf und schob sich seine Cap aus dem Gesicht. „Wenn ich das wüsste, würden wir längst nicht mehr hier sitzen, Alicia." Er zuckte die Schultern. „Vielleicht meint er es wieder im übertragenden Sinne? So wie beim ersten Rätsel, diesmal bloß ohne konkrete Aufforderung..." Er beugte sich etwas weiter vor und nahm mir den Zettel aus der Hand. Nun war er mir so nahe, dass ich eine Mischung aus Shampoo, Rooibostee und Parfüm riechen konnte. Es war ein angenehmer Duft und am liebsten hätte ich ihn noch etwas länger in meiner Nase gehabt, doch im gleichen Moment klingelte es an der Tür und Nate lehnte sich stirnrunzelnd wieder zurück.
„Mom hat einen Schlüssel und sollte nicht vor neun von Macey wiederkommen...", meinte er leicht verwirrt mit einem Blick auf die Wanduhr. Sein Blick streifte meinen, bevor er schließlich mit einem Zwinkern aufstand und meinen beschriebenen Zettel auf den Tisch ablegte. „Warte, ich schaue eben nach."
Er verschwand im Flur und mit einem Seufzen senkte ich meinen Blick wieder auf das fünfte Rätsel. Vorsichtig fuhr ich mit meinen Fingern über Fynns geschwungene Handschrift. „Kannst du dich denn nicht einmal verständlich ausdrücken?", murmelte ich.
Ich hörte, wie Nate die Tür aufmachte und im nächsten Moment verdattert fragte: „Was macht ihr denn hier?"
Mir blieb gar keine Zeit vor Panik zu einer Salzsäule zu erstarren, denn im gleichen Augenblick traten Emily, Ethan und ein weiteres Mädchen gefolgt von einem verwirrten Nate bereits das Wohnzimmer.
„Wir dachten, wir leisten dir mal Gesellschaft-" fing Emily an zu sprechen, doch sie verstummte, als sie mich bemerkte. Ethan blinzelte und mit einem leichten Grinsen ließ er seinen Blick zwischen mir und Nate hin und her wandern. „Aber so wie es aussieht, hast du schon Gesellschaft. Stören wir?", fragte er, ließ sich aber im gleichen Moment in den Sessel gegenüber von mir fallen.
Nate stöhnte auf und er sah zu mir. Es schien, als würde er mich um Rat fragen und als sein Blick auf das noch immer aufgeschlagene Rätselbuch fiel, veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
„Nein", sprach ich schnell und schlug das Buch zu. „Ihr stört nicht. Genau genommen wollte ich eh gleich nach Hause." Ich bemerkte Nates Blick in meinem Rücken, doch ich ignorierte ihn, als ich entschuldigend in die Runde lächelte, um mein Unwohlsein zu verstecken. „Das Abendessen wartet."
Ich kam jedoch nicht einmal dazu, aufzustehen, denn im nächsten Augenblick ließ das mir unbekannte Mädchen eine Plastiktüte auf den Couchtisch fallen und meinte: „Das Abendessen wartet hier auch. Drei Familysize-Pizzen und Eiscreme. Es gibt also keine gute Ausrede. Ich bin übrigens Erin."
Mein Blick huschte hilfesuchend zu Nate, als mir bereits von Ethan eine der Pizza-Kartons in die Hand gedrückt wurde. Doch dieser grinste nur und zuckte mit den Schultern. „Dann hole ich am besten Mal Servierten."
War ich am Anfang noch sehr angespannt in der Gesellschaft von Nates Freunden, so wurde ich mit jeder Minute, die verging, immer lockerer. Lachend und über jeglichen Mist redend aßen wir im Wohnzimmer die Pizzen und mit der Zeit wurde mir bewusst, wie angenehm ihre Gesellschaft war.
„Also...", fing Erin schließlich an und beugte sich etwas vor, während sie weiterhin an einer Pizzakruste knabberte: „Nun verratet ihr mir bitte mal, wie ihr euch kennengelernt habt."
Ich verschluckte mich an meinem eigenen Pizzastück und fing an zu Husten. Auch Emilys und Ethans Aufmerksamkeit hatten wir nun sicher. Leicht drehte ich meinen Kopf zu Nate, der neben mir auf dem Sofa saß. Dieser ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und mit einem wissenden Lächeln verschränkte er die Arme hinter seinen Kopf und lehnte sich zurück.
„Tja, das ist die Magie eines verwechselten Schulbuches." Als sein Blick auf meinen traf, zwinkerte er mir leicht zu und sofort bildete sich ein Kloß in meinem Hals.
Genau genommen hatte er Recht.
Und dann aber auch wieder nicht.
Denn es war die Magie des Fynn Reeves, die uns zusammengebracht hatte.
Doch wie es schien, war auch Nate der Meinung, dass dies zumindest für jetzt noch unser kleines Geheimnis bleiben sollte.
„Und mal wieder muss jeder aus der Familie Reeves in Rätseln sprechen. Nur Ausnahmsweise lassen wir dir das jetzt mal durchgehen, Nathan", entgegnete Ethan und wackelte mit erhobener Augenbraue mit dem Zeigefinger. Lachend schüttelte ich den Kopf. „Er sagt aber die Wahrheit." Ich konnte mir ein trauriges Lächeln nicht verkneifen, als ich an den Moment dachte, in dem ich Fynns Mathebuch in meinen Spint gefunden hatte.
Es waren nicht einmal drei Wochen seitdem vergangen, aber dennoch fühlte es sich an, als wäre es in einem ganz anderen Leben passiert.
Ein Leben vor Fynn und seinem Rätseln.
Es war bereits nach neun, als wir uns schließlich auf den Nachhauseweg machen wollten und uns dazu aufrafften, aufzuräumen. Während ich die Decken zusammenfaltete und Nate die Gläser in die Geschirrspülmaschine einräumte, stapelte Ethan die Pizzakartons auf dem Couchtisch aufeinander.
Über die Couch hinweg beobachtete ich Nate dabei, wie er auch das andere Geschirr einräumte und ein leichtes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als er sich damit abmühte auch den letzten Teller noch in der völlig überfüllten Spülmaschine unterzubringen. Als er sich umdrehte, war ich nicht schnell genug und er ertappte mich. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, doch bevor ich den Mund öffnen konnte, fragte Emily plötzlich: „Wollen wir am Wochenende alle zusammen in Joeys gehen?", Ihr Blick schweifte zu mir. Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Komm doch auch mit, Alicia."
Über ihre Einladung überrascht, wusste ich zuerst nicht, was ich antworten sollte. Doch Ethan kam mir zuvor: „Ich weiß nicht, ob ich kann. Adam veranstaltet eine Party und-"
„Adam?", unterbrach Erin ihn mit einem Stirnrunzeln. „Ich dachte, du machst nichts mehr mit denen, nach deinem Streit mit Kyran..."
Mein Herz blieb bei ihrer Bemerkung stehen und sofort erinnerte ich mich an die Situation auf dem Schulparkplatz, bei der sich Kyran und Ethan wegen Fynn geprügelt hatten.
„Adam ist nicht Kyran", meinte Ethan jedoch nur und ich konnte regelrecht spüren, wie die losgelassene Stimmung zu schwinden schien.
Bevor Erin oder Emily etwas erwidern und die Stimmung somit vollständig zum Kippen bringen konnten, meinte ich hastig: „Wie wärs, wenn ihr sonst auch zur Party kommt. Das wird bestimmt lustig."
„Zu Adam Wellingtons Party?" Emily sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.
„Genau genommen ist es meine Party", versuchte ich zu erklären. „Adams Eltern sind Zuhause, deswegen haben wir sie zu mir verschoben." Ich versuchte zu lächeln und locker die Schultern zu zucken, doch wahrscheinlich sah ich so verkrampft an, als hätte ich Verstopfungen.
„Und da bist du dir sicher?"
Ich nickte. „Na klar, es ist meine Party, also auch meine Entscheidung wer eingeladen ist, oder etwa nicht?"
Ich sah, wie die beiden Mädchen anfingen zu grinsen. „Naja, ehrlich gesagt kann ich den Parties deiner Clique nie viel abgewinnen, aber bei so einer offiziellen Einladung kann man ja schlecht nein sagen", meinte Emily gespielt cool. „Oder Nate?"
Als ich mich leicht zu Nate umdrehte, entging mir nicht sein unergründlicher Gesichtsausdruck. „Ja, klar", meinte dieser nur, bevor er sich wieder in Richtung Wohnküche drehte. Wollte er vielleicht gar nicht zu meiner Party?
Ich beobachtete ihn weiterhin von Hinten, als Emily weitersprach: „Dann steht es ja fest; Alicia, uns kannst du nun leider nicht mehr ausladen!"
Ich nickte nur geistesabwesend, schnappte mir die Decken und trat in die Küche. „Wo sollen die Decken hin?", fragte ich an Nate gerichtet. Er drehte sich nicht einmal zu mir um, sondern meinte nur: „Du kannst sie in den Korb neben der Couch legen."
Er verhielt sich anders als noch von vor paar Minuten, doch ich verstand nicht, was der Auslöser für sein abweisendes Verhalten war. Ich trat noch einen Schritt näher an ihm heran. Die Decken waren mir egal.
„Was ist los, Nate? Es kommt mir so vor, als hättest du etwas gegen die Party."
„Ich habe nichts gegen deine Party, Alicia."
„Gegen was dann?", hakte ich nach.
Mit einem Seufzen drehte er sich zu mir um. „Beantworte mir nur eine Frage: Wenn es deine Party ist und du dir aussuchen kannst, wen du einlädst... Hast du Kyran eingeladen?"
Mein Atem stockte und im ersten Moment öffnete ich nur den Mund, konnte aber nicht antworten.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und mein Blick huschte von seinem einem Auge zu dem anderen.
„Alicia?"
„Nein", brachte ich schließlich über meine Lippen. „Zumindest noch nicht."
Er entspannte sich sichtlich und seine Schultern sackten nach vorne, als er tief Luftholend anfing zu nicken. Er wollte etwas erwidern, doch bevor er auch nur eine Silbe sagen konnte, ertönte hinter uns Emilys Stimme: „Was liegt hier denn alles rum? Ich bin ganz deiner Meinung - und die Moral davon ist: Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst - oder einfacher ausgedrückt: Sei niemals ununterschieden von dem, als was du jenem in dem... Bin nur ich doof oder ist das verdammt verwirrend?"
Wie von der Tarantel gestochen drehte ich mich um. Emily stand neben dem Couchtisch und hatte den Zettel, auf dem ich das Rätsel abgeschrieben hatte, in der Hand. Stirnrunzelnd wedelte sie mit dem Blatt in der Luft umher und sofort beruhigte sich mein Herz etwas wieder.
Es war nur die Kopie.
Nicht das Rätselbuch.
Sie hatte nur den Zettel.
„Ach das...", fing ich an und überlegte, ob ich eine Schulausrede nutzen konnte, als Ethan mich unterbrach. „Hör mir bloß damit auf. Ich habe immer noch ein Trauma davon."
Theatralisch warf er sich in einen Sessel und Erin stieß ihm lachend in die Seite. „Spiel du nicht den sterbenden Schwan."
„Doch und das verdient! Immerhin warst nicht du es, die sich beinahe die Knochen gebrochen hat, als sie vom Baum gefallen ist. Allein bei dem Gedanken daran, spüre ich noch die blauen Flecke. Und dann erst diese künstlichen Schnurrhaare!"
Verwirrt konnte ich Ethan nur anstarren. Wovon zur Hölle sprach er?
Auch Nates Aufmerksamkeit hatte er, ich spürte regelrecht, wie er sich neben mir versteifte. Er versuchte locker zu sein, doch in seinen Gesichtszügen erkannte ich die Anspannung. „Was meinst du damit, Ethan? Du kennst dieses... was auch immer das ist?"
Ethan zuckte die Schultern. „Natürlich. Ich kann quasi mitsprechen..." Sein Blick fiel auf mich und leicht legte er den Kopf schief. „Eigentlich solltest du das auch können, Alicia. Oder hast du zu oft den Theaterunterricht geschwänzt?"
In meinem Kopf ratterte es und als auch Ethan merkte, dass weder Nate noch ich eine Ahnung hatten, wovon er sprach, stand er stöhnend auf und drückte die Schultern durch: „Es kann doch nicht sein, dass ich mich mit so literaturfremden Menschen abgeben muss. Das ist ein Zitat aus Alice im Wunderland. Und Ginny – die meiner Meinung nach vollkommen zu Unrecht die Rolle der Herzogin bekommen hat – war so talentfrei, dass wir diese Spruchszene gefühlt Jahre üben mussten. Scheiß auf die Grinsekatze, ich war da nur noch angepisst. Kein Wunder, dass ich regelmäßig vom Baum gefallen bin..."
Die Erkenntnis traf mich wie ein fahrender Zug und auf einmal waren alle anderen ganz weit weg. Nur Nate war noch in meinem Blickfeld und als sich unsere Blicke trafen, wusste der jeweils andere, dass wir das gleiche dachten.
Fynn sprach nicht nur von Alice im Wunderland.
Er sprach von dem Theaterstück, in dem ich letzten Sommer mitgespielt hatte.
Er machte es zum Bestandteil des fünften Rätsels.
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(24.04.2019)
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