⌜Fynns Foto⌝
In dem Foto lebt er noch weiter.
So, als wäre der Moment nie vergangen.
So, als wäre er noch unter uns.
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║ A L I C I A ║
Die schwarzen Vorhänge waren zugezogen, doch durch einen kleinen Spalt fiel warmes Sonnenlicht hinein, hinterließ einen hellen Streifen auf dem Fußboden und ließ den Staub in der Luft tanzen. Auf der Bühne standen noch immer einzelne Requisiten von dem vor wenigen Wochen aufgeführten Theaterstück und sofort fühlte ich mich zurückversetzt. Ich erinnerte mich nur allzu gut daran, wie ich stöhnend versucht hatte, mir die genaue Fußabfolge des Blumentanzes zu merken. Automatisch fasste ich mir an meine Arme und es war fast so, als könnte ich wieder den leicht kratzenden Stoff meines Kostümes von Alice im Wunderland auf meiner Haut spüren.
Es erschien mir so lange her, so als wäre es eine Erinnerung aus einem anderen Leben.
Einem Leben, in dem auch Fynn noch gelebt hatte.
„Musstest du auch einmal in einem Theaterstück mitspielen?", fragte ich und drehte mich leicht zu Nate um, der hinter mir durch die Stuhlreihen streifte.
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Gestatten, Mylady? Vor dir steht Robin Hood persönlich."
Ich bekam große Augen, als er eine alberne Verbeugung andeutete und in meinem Kopf ratterte es. „Du nimmst mich doch auf den Arm. Robin Hood wurde vor zwei Jahren aufgeführt und ich erinnere mich zumindest so gut noch daran, dass so ein rothaariger Schrank von Junge die Hauptrolle ergattert hatte." Ich musterte ihn kritisch. „Wobei du definitiv besser ins Bild gepasst hättest."
Nates Grinsen verschwand nicht, als er an mir vorbei lief und sich auf die Bühne schwang. „Ja, ich hatte das Glück mir gleich zu Beginn den Fuß so kompliziert gebrochen zu haben, dass es absehbar war, dass ich die nächsten Wochen komplett ausfallen würde. Deswegen rutschte ich von der Erst- auf die Zweitbesetzung des heldenhaften Diebes. Überaus praktisch um sich so einige Peinlichkeiten zu ersparen."
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Ich weiß nicht, ob mir die Schmerzen das Wert gewesen wären."
„Glaub mir, die seelischen Schmerzen, die ich als Robin Hood davon getragen hätte, wären größer gewesen als der Jogging-Unfall."
„Wenn du meinst", gab ich nach und hob spielerisch die Arme, während ich ihm auf die Bühne folgte.
Es war Freitagnachmittag und wie es schien, nahm es der Hausmeister nicht sonderlich ernst damit, die Türen zum Theaterraum abzuschließen. Nate hatte gestern die Idee gehabt, dass uns Fynn mit dem fünften Rätsel hier hin führen wollte.
Ich hatte es für eine gute Idee gehalten, doch nun stand ich hier, am vordersten Rande der Bühne, ließ meinen Blick über die vielen Stuhlreihen gleiten und konnte mir nicht zusammenreimen, was dies uns bringen sollte.
Nate schloss zu mir auf und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er seine Hände in die Hosentasche vergrub. Leicht seufzte er auf. „Manchmal wünschte ich mir, die Lösung der Rätsel würden uns einfach so ins Gesicht springen."
Ich nickte. „Ich mir auch..."
„Aber das wäre nicht Fynns Art."
Er hatte Recht. Es wäre nicht Fynns Art, es uns zu einfach zu machen.
Langsam ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Die Luft war stickig und der Staub tanzte noch immer in der Luft.
Dennoch fühlte sich dieser Augenblick unsagbar zeitlos an, so als wären wir Theaterraum in einer Seifenblase, weit weg von dem allgemeinen hektischen Treiben der Schule.
Wir setzten uns nebeneinander auf die Kante der Bühne und ließen unsere Füße baumeln. Mit meinen Händen stützte ich mich auf dem Boden ab und beugte mich leicht nach vorne.
„Pass auf, dass du nicht fällst", kommentierte Nate und leicht schmunzelnd drehte ich mich zu ihm um. Er beobachtete mich und ich schüttelte meinen Kopf.
„Keine Sorge, so schnell passiert das nicht."
Er zuckte die Schultern, erwiderte aber mein Lächeln. „Dann vertraue ich dir mal."
Wir blickten uns noch für ein paar weitere Sekunden in die Augen, ohne etwas zu sagen und als ich spürte, wie mein Hals trocken wurde, räusperte ich mich, von einer ungewohnten Nervosität ergriffen.
„Nun ja, was schlägst du nun vor?", fragte ich, um der Spannung zu entkommen, die sich langsam zwischen uns aufgebaut hatte. Er unterbrach schlussendlich den Blickkontakt und zuckte die Schultern. „Ich versuche logisch eine Lösung für dieses Rätsel zu finden. Fynn hat uns bei den letzten Rätseln immer irgendetwas hinterlassen, uns einen Hinweis gegeben..." Er seufzte auf, bevor er weitersprach, „Und wenn ich mich nicht irre, soll das Zitat eine Anspielung auf das Theaterstück sein. Ich weiß aber nicht genau wieso, denn immerhin hat er nicht mitgespielt..."
„Aber ich."
„Aber du, ja", wiederholte Nate mich und nickte nachdenklich. „Du hast eine der tanzenden Blumen gespielt, oder?"
Ich nickte. „Oh ja und ich bin mehr als froh, dass ich es hinter mir habe. Tanzen ist nämlich definitiv nicht meine Stärke."
„Noch schlechter als dein Talent fürs Schlittschuhlaufen?" In seinem Unterton hatte sich etwas neckendes geschlichen.
„Hey, mach dich nicht über mich lustig!", entgegnete ich und stieß ihn spielerisch in die Seite.
„Ich mach mich nicht lustig, das sind nur Fakten."
Ich verdrehte meine Augen und rappelte mich auf. „Wenn du meinst. Dafür habe ich mit viel Fleiß und blutenden Füßen alles darangesetzt, die Rolle so überzeugend wie möglich zu spielen."
„Das stimmt, ich weiß noch, dass ich eure Tanzszenen mit am Besten fand. Abgesehen von Ethans unschlagbarer Rolle als Grinsekatze..."
Ich drehte mich auf der Bühne einmal um meine eigene Achse und konnte im gleichen Moment wieder die heißen Strahlen der Scheinwerfer auf meiner Haut spüren. Oh Gott, wie hatte ich diese Rolle gehasst.
Wie sehr hatte ich befürchtet, bei jedem Schritt über meine eigenen Füße zu stolpern, so wie es unzählige Male in den Proben passiert war.
Doch bei der Aufführung hatte ich Glück gehabt. Alles lief gut und selbst meinen kleinen Strauchler am Ende des Tanzes schien niemand bemerkt zu haben. Anders konnte ich es mir nicht erklären, wieso mir jeder zu der so wunderbar gespielten Rolle gratuliert hatte. Mrs. Dawn hatte mir sogar eine Tanzkarriere nahegelegt und am liebsten hätte ich in diesem Moment laut aufgelacht. Denn das war definitiv genau das Gegenteil von dem, was ich wirklich wollte.
Das Blumenmädchen war nur eine Rolle gewesen, die ich mir verbissen angeeignet hatte und dies änderte nichts daran, dass ich ansonsten nichts mit Tanzen am Hut hatte. Auch mit einem Lächeln habe ich Kyrans Begeisterung dafür abgetan, denn schlussendlich war ich es, die mehr als genau wusste, dass ich kein Talent im Tanzen besaß und es nur eine Rolle war, die alle anderen abkaufen sollten.
„Vielleicht sollte ich Schauspielerin werden", überlegte ich laut und erlangte somit wieder Nates Aufmerksamkeit. „Ich muss dann ja anscheinend ziemlich gut gewesen sein, wenn keiner bemerkt hat, wie ich mir beinahe meinen Knöchel bei der letzten Pirouette gebrochen hätte."
Nate lachte. „Oder du lässt es lieber."
Vielleicht hatte er Recht. Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen und als ich Nates Blick auf mir spürte, drehte ich mich schnell wieder um. Mein Blick fiel auf den halb offenen Vorhang, der hinter die Bühne führte. Bereits von hier konnte ich erkennen, dass noch immer einige Requisiten dort ihren Platz fanden und mit langsamen Schritten näherte ich mich ihnen. Staub lag auf dem Baum, der aus Kunststoff und Pappe zusammengebastelt wurde und für mehrere Stunden in der Woche zu Ethans Hölle auf Erden wurde. Langsam ließ ich meine Finger über ihn hinweggleiten und schritt an den Kostümen der Piekkarten vorbei. In einer Ecke lag die orangene Perücke der Herzogin und mit einem Grinsen hob ich sie auf.
„Steht das mir?", fragte ich, setzte sie mir auf den Kopf und drehte mich zu Nate auf, der mittlerweile auch aufgestanden war.
Als er mich mit der Perücke sah, brach er sofort in schallendes Gelächter aus.
„Ein Glück, dass du nicht die Rolle der Herzogin bekommen hast..." Gespielt beleidigt wollte ich etwas entgegensetzen, doch bevor ich überhaupt den Mund öffnen konnte, sprach er bereits weiter: „Ich hätte echt nicht gedacht, dass es etwas gibt, dass dich unattraktiv erscheinen lässt, aber diese Perücke kommt definitiv sehr nahe ran..."
Meine Atmung stockte und mein Herzschlag setzte aus, während mein Gehirn versuchte zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.
Hatte ich ihn richtig verstanden?
Ich konnte ihn nur anstarren. Ich realisierte, dass mein Mund leicht offenstand, doch ich konnte nichts dagegen machen.
Nate fand mich attraktiv?
Ihm jedoch schien nicht die Tragweite seiner Worte bewusst zu sein, denn er sah sich bereits die anderen Kostüme an. Ich blinzelte mehrmals und versuchte mein schnellklopfendes Herz wieder zu beruhigen. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein. Nate war ein Freund und seine Worte nur ein einfach daher gesagter Witz.
„Na dann wollen wir es nicht weiter riskieren", murmelte ich lahm und viel zu spät als Antwort und zog mir die Perücke wieder vom Kopf. Nate schien es jedoch nicht einmal gehört zu haben, denn er stand an der Kleiderstange und zog gerade das lilafarbene Kostüm heraus, das ich damals tragen musste.
„Hey, schau mal. Denkst du, ich hätte eine ebenso tolle Blume wie du abgegeben?" Er hielt sich das Kostüm an den Körper und zwinkerte mir zu. Mein Herz schlug noch immer wie verrückt und mein Gehirn wollte sich noch weiter mit seinen vorherigen Worten beschäftigen, sie analysieren und verstehen, wie sie einzuordnen waren, doch ich zwang mich nur gespielt gleichgültig die Schultern zu zucken.
„Da müsstet du mich erstmal mit einer Tanzeinlage überzeugen."
„Nichts lieber als das!"
Weiterhin das Kleid an seinen Körper gepresst, fing er an, sich immer wieder um sich selbst zu drehen und übertriebene Ausfallschritte zu machen. Es sah so idiotisch aus, dass ich nichts dagegen unternehmen konnte, als sich ein weiterer Lachanfall anbahnte. Nate hüpfte über die Bühne, umrundete mich, deutete Verbeugungen an und verrenkte sich in schmerzhaft aussehende Positionen.
„Warte, du musst deine Füße so be-" Gerade, als ich ihm eine Tanzfolge zeigen wollte, passierte es. Er drehte sich so schnell um sich selbst, dass er ins Straucheln geriet und über seine eigenen Füße stolperte.
Doch er war nicht das Einzige, was zu Boden fiel. Während er sich der Länge nach auf die Nase legte, rutschte etwas flatternd aus den vielen Tüllschichten des Kostümes.
Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie es zu Boden segelte und knapp vor Nate auf den Boden aufkam. Eigentlich hätte ich Nate fragen müssen, ob es ihm gut ging. Oder zumindest hätte man erwarten können, dass er sich stöhnend über seine angeschlagenen Knochen beschwerte. Doch nichts von beidem geschah.
Stattdessen starrten wir beide auf das kleine Rechteck aus festem Papier, das vor uns auf dem Boden lag. Ich wagte es nicht einmal zu atmen, denn beiden von uns war bewusst, was dies zu bedeuten hatte.
Fynns Anwesenheit war auf einmal wieder so präsent, dass sie mich geradezu erschlug und da Nate sich noch immer nicht regte, setzte ich mich langsam in Bewegung und ging langsam in die Knie.
Mit zitternden Fingern griff ich nach dem, was Fynn uns in meinem Kostüm hinterlassen hatte. Es fühlte sich kühl und glatt unter meinen Händen an und ich erkannte die geschwungene Handschrift von Fynn auf dem Blatt wieder.
Nur nebenbei bekam ich mit, wie Nate sich langsam aufrichtete, um mir über die Schulter blicken zu können.
Mehrmals musste ich blinzeln, bis meine Sicht so klar war, dass sich Fynns Buchstaben zu Wörtern zusammensetzten, denen ich folgen konnte:
„Ich habe immer gedacht, die Zeit wäre ein Dieb, die mir alles stiehlt, was ich liebe.
Aber jetzt weiß ich, dass sie geben, bevor sie nehmen und jeder Tag ist ein Geschenk.
Jeder Stunde.
Jede Minute.
Jede Sekunde."
Zittrig holte ich tief Luft und las immer und immer wieder diese Worte, die Fynn uns hinterlassen hatte. Ich erinnerte mich wage daran, dass es ebenfalls ein Zitat aus Alice im Wunderland war, doch mir war mehr als bewusst, dass er diese Worte genauso ernst meinte und auf sich bezog.
Und ich wusste, dass es nicht das einzige war, was er uns hiermit hinterlassen hatte. Unter meinen Fingern spürte ich es. Die Oberfläche war viel zu glatt, das Papier viel zu dick, um ein einfacher Zettel zu sein. Es war nur die Rückseite und insgeheim wusste ich, dass ich mich davor fürchtete, was die Vorderseite zeigen würde.
Im nächsten Moment spürte ich Nates Finger an meinen und erschrocken zuckte ich zusammen. Er warf mir jedoch nur einen beruhigenden Blick zu und zusammen drehten wir das Foto um, sodass wir sehen konnten, was Fynn uns zeigen wollte.
Im gleichen Augenblick schien alle Luft aus meinem Brustkorb zu weichen, so als hätte mich jemand wie beim Rugby zu Boden geworfen.
Immer hatte ich gedacht, dass Fynns und meine Welt getrennt gewesen wären und sich jetzt erst, durch seinen Tod und seine Rätsel, auf eine komische Art und Weise miteinander vermischten. Doch es schien, als hätte ich falsch gelegen.
Auf dem Foto grinsten mir Erin und Emily entgegen, während Ethan in dem Grinsekatzenkostüm vollkommen überrumpelt aussah. Nate schien das Foto geschossen zu haben und streckte neckend die Zunge der Kamera entgegen.
Und neben ihm wurde Fynn beinahe zerquetscht. Er schien von dem Foto überrascht worden zu sein, denn seine Augen waren unnatürlich aufgerissen, sein Mund stand leicht offen und formten ein leichtes ‚Oh'. Er wirkte auf dem Bild unnatürlich jung und zerbrechlich und der überraschte Ausdruck in seinen grünen Augen ließ mich nicht los. Im direkten Vergleich neben Nate erkannte ich, dass seine Augen noch heller waren, als die von seinem Bruder. Dadurch hätten sie unangenehm intensiv wirken können, doch komischerweise war dies nicht der Fall.
Und auch wenn mich die Konfrontation mit Fynns Anblick beinahe komplett vereinnahmte, wurde mir bewusst, worauf Fynn mit diesem Foto hinauswollte. Denn trotz seiner Augen, die mir entgegenstarrten, war mir das Lila im Hintergrund des Fotos nur mehr als bewusst.
Ich erkannte den Tüll und die aufgestickten Blumen. Die braunen Haare waren mir mehr als bekannt, genauso wie das dazugehörige Gesicht. Es war zwar verschwommen, aber ich erkannte es dennoch. Denn immerhin war es mein eigenes.
Ich befand mich mit auf diesem Foto, aufgenommen an dem Tag der Theateraufführung, zusammen verewigt mit Fynn. Unsere Leben waren viel früher miteinander kollidiert, als dass ich angenommen hatte.
Und ich hatte es nicht einmal gemerkt.
~
(16.06.2019)
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