⌜Fynns endliche Unendlichkeit⌝
Fynns Kurzatmigkeit wurde zur
endlichen Unendlichkeit.
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║ A L I C I A ║
Nates Zimmer sah aus, als wäre ein Sturm hier durchgefegt.
Nein, kein Sturm, sondern viel eher ein Tornado.
Die Kissen lagen auf dem Boden, da sie uns beim Schreiben nur gestört hatten und über den ganzen Boden waren zerknüllte Blätter verteilt, auf denen wir unsere Fehlversuche notiert hatten.
Fynns Anagramme hatten es in sich.
Sechs Stunden hatten wir zu zweit dafür gebraucht sie zu lösen.
Und nun saßen Nate und ich stumm im Schneidersitz nebeneinander auf seinem Bett und starrten auf das Whiteboard.
Wir hatten es tatsächlich gelöst und eine Bedeutung hinter dem Buchstabensalat gefunden.
Hey Alicia und Nate.
Es fing einfach an.
Aber mit jedem weiteren Wort, jedem weiteren Satz wurde es schwieriger, verzwickter.
Und mit jedem weiteren Satz, den ich nun las, wurde das erdrückende Gefühl schwerer auf meiner Brust.
Ich weiß nicht, wann ihr dieses Rätsel lösen werdet. Dass ihr es aber tun werdet, weiß ich zu hundert Prozent.
Ob Fynn damit gerechnet hatte, dass wir nur wenige Tage nach seinem Tod, gar am Tag seiner Beerdigung schon beim Zweiten Rätsel sein würden?
Ihr dürft nicht mehr wegrennen und seit dem ersten Rätsel macht ihr dies hoffentlich auch nicht mehr. Denn für dieses zweite Rätsel braucht ihr Zeit.
Ich schluckte, als ich diese Worte immer und immer wieder las.
Ich war jedoch weggerannt.
Ich war vor seinem ersten Rätsel weggerannt und er hatte gewusst, dass ich dies tun würde.
Und auch nun wurde das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, so intensiv, dass ich am liebsten direkt aus dem Zimmer gestürmt wäre.
Doch ich riss mich zusammen, schloss für wenige Sekunden meine Augen, bevor ich tief Luft holte und sie wieder öffnete.
Ich musste mich jedoch regelrecht dazu zwingen, meinen Blick wieder auf das Whiteboard zu legen.
Zeit, die man manchmal nicht hat, weil sie so begrenzt ist, so wertvoll und so endlich.
Zeit, die ein jeder von uns zwar besitzt, aber nicht in unbegrenzter Maße.
Meine Zeit ist abgelaufen, ich befinde mich nicht mehr im Koordinatensystem. Aber das ist nicht schlimm, wirklich nicht.
Alle Linien, Graphen und Rechnungen enden irgendwann.
Erneut stockte mir der Atem und ich musste mich dazu zwingen, nicht anzufangen zu weinen. Doch die Tränen kamen dennoch und schnell wischte ich sie mir aus meinen Augenwinkel.
Er hatte sich nicht mehr im Koordinatensystem befunden...
Mein Herz fing bei dieser Aussage an zu flattern.
Seit wann konnten mathematische Ausdrücke so verdammt traurig sein?
Und ist es nicht wahrhaftig irrsinnig, dass ich, während ich dies hier schreibe, draußen unter dem Sternenhimmel sitze und mich frage, ob wir irgendwann, wenn unsere letzten Sekunden durch die Finger wie Sandkörner rinnen, dort oben am Himmel erscheinen? Als blinkende Lichter, als Sterne?
Ich hörte, wie Nate neben mir tief Luft holte und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er seine Hände um seine Knie schlang.
Ich weiß nicht, ob ich mich mit den Gedanken anfreunden kann, denn selbst Sterne sind nicht unendlich und ich weiß auch nicht, ob ich euch dies hier verständlich machen kann.
Denn auch wenn alles andere unendlich und wir unendlich kurzlebig wirken, kann man mit Kurzatmigkeit keine Unendlichkeit erklären.
Doch das Universum ist da, um von uns gesehen zu werden.
Vielleicht ist dies die Unendlichkeit unserer Kurzatmigkeit.
Fynn
Es blieb lange Zeit still.
Einzig und allein konnte man unsere Atemzüge hören.
Und dann, ganz langsam drehte ich mich zu Nate um.
Ich wusste, dass er mich bemerken müsste, doch statt mit mir Blickkontakt aufzunehmen, starrte er einfach weiter auf Fynns Nachricht.
Seine Augen bewegten sich rasend schnell, ich konnte förmlich sehen, wie er jedes einzelne Wort in sich aufnahm und einprägte.
Dann schloss er die Augen.
„ich weiß, was Fynn von uns möchte."
Mein Blick wanderte über die Wörter, um vielleicht genauso schnell auf die Aufforderung hinter den Worten zu kommen.
„Wir sollen nicht mehr wegrennen, oder etwa nicht?"
„Ja...", er räusperte sich, öffnete dann die Augen und sah mich direkt an. „Aber das ist nicht alles."
Ich konnte mich nicht von seinem Blick lösen und auch wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich kannte Fynn zu wenig, genau genommen gar nicht, um einschätzen zu können, was er von uns verlangte.
„Was will Fynn uns mit diesem zweiten Rätsel sagen, Nate?", fragte ich schließlich doch mit zaghafter Stimme.
Er sah mich weiterhin ohne Unterbrechung an.
„Er möchte uns seine Kurzatmigkeit zeigen... und die Unendlichkeit."
Ich blinzelte und mein Herz raste.
Seine Kurzatmigkeit?
Mir wurde übel, als ich daran denken musste, dass ihn diese erst dazu gebracht hatte zu springen. Ich wusste auf einmal nicht mehr, ob ich wirklich wissen wollte, wo Fynn uns mit seinen weiteren Rätseln hinbringen wollte.
Nate riss mich aus meinen Gedanken: „Wollen wir los?"
„Wohin?", fragte ich.
„Dorthin, wo Fynn uns haben möchte...", Nate stockte und auf einmal schien er unsicher: „Oder willst du jetzt lieber nach Hause?"
Wollte ich nach Hause?
Alles in mir schrie danach, aber dann...
Dann war da doch etwas, was mir zuflüsterte, das Fynn diese Rätsel nicht ohne Grund geschrieben hatte.
Und dass ich ihm beweisen wollte, dass ich nicht mehr wegrannte und auch noch nie weggerannt bin.
„Nein, es ist okay, ich habe heute Abend nichts mehr vor." Ich lächelte ihn leicht an und als sich seine Lippen ebenfalls zu einem schwachen Lächeln verzogen, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Stumm schlüpften wir nebeneinander in unsere Schuhe und als ich meine Jacke überzog und den Schal um meinen Hals schlang, öffnete Nate bereits die Haustür. Ich beeilte mich ihm zu folgen.
Kaum trat ich jedoch auf die Veranda, blieb ich wie angewurzelt stehen.
„Es schneit", rief ich überrascht aus und drehte mich fasziniert zu allen Seiten um.
„Sonst regnet es im November doch immer nur, egal welche Temperaturen herrschen", sprach ich leise weiter und schüttelte meinen Kopf.
Ich konnte meinen Blick nicht von diesem unglaublichen Szenario abwenden.
In dem Licht der nächsten Straßenlaterne schimmerten die sanft fallenden Schneeflocken wie Kristalle auf, bevor sie die Welt unter einer Decke aus weiß bedeckten.
Nate machte den ersten Schritt in die dünne Schneedecke, hockte sich hin und legte eine Hand in den Schnee. Dann drehte er leicht seinen Kopf in meine Richtung und sprach: „Es ist einfach ein untypischer November, in allen Lebenslagen."
Sofort machte sich wieder einen Kloß in meinem Hals bemerkbar. Ich räusperte mich, schüttelte den Kopf und beeilte mich, den Reißverschluss meiner Jacke zu schließen, um der Kälte so lange wie es möglich war zu entgehen. Ich konnte es mir jedoch nicht verkneifen, die Hände von mir weg zu strecken und die ersten Schneeflocken dieses Novembers aufzufangen. Viel zu schnell schmolzen sie in meinen warmen Händen und hinterließen eine eiskalte Kälte.
„So lange es noch nicht gefroren hat, müssen wir auch noch nicht das Auto freikratzen." Ich ging auf Nate zu, der sich nun wieder aufgerichtet hatte. „Glück gehabt, würde ich sagen", fügte ich mit einem kläglichen Lächeln hinzu. Als ich in meiner Jackentasche nach dem Autoschlüssel suchte, entgegnete Nate plötzlich: „Wir fahren nicht mit dem Auto."
Sofort unterbrach ich die Sucherei und sah überrascht auf. „Nicht?"
„Nein, wir werden laufen."
Im ersten Moment war ich vollkommen geschockt gewesen.
Aus dem einfachen Grund, weil ich noch nicht meine dicke Winterjacke trug und auch Converse-Schuhe nicht besonders für Schneespaziergänge geeignet waren.
Aber schlussendlich hatte ich genickt und gebetet, dass der Weg nicht allzu weit sein würde.
Umso verblüffter war ich, als Nate eine neunzig Grad Wendung vollführte und an der Veranda vorbei um das Haus lief.
Es war wirklich kein weiter Weg.
Meine Sorgen waren somit vollkommen unbegründet gewesen.
Denn Fynn hatte uns geradezu in den Hintergarten geführt.
Es war bereits stockdunkel und das einzige Licht, das den Garten erhellte, war das gedämpfte Licht, dass aus einem Zimmer strahlte.
Und vereinzelt standen Sterne am Himmel, die auf uns hinabschienen und noch nicht von den Schneewolken verdeckt wurden.
Ich folgte Nate ohne ein Wort von der Terrasse an einem großen Baum vorbei, bis hin zu einer Hollywoodschaukel.
„Vielleicht nicht gerade der wärmste, aber dafür einer der schönsten Plätze", sprach Nate, als er mit einer Handbewegung die dünne Schneedecke von der Sitzfläche fegte und mir dann mit einem Kopfnicken symbolisierte, dass ich mich setzen sollte.
„Dankeschön." Langsam ließ ich mich unter einem Quietschen der Hollywoodschaukel auf ihr nieder und schob zugleich meine Hände unter meine Oberschenkel, um sie zu wärmen.
Nate setzte sich neben mich und zusammen starrten wir in die Dunkelheit. Sanft und ohne Geräusch fiel weiterhin die Schneeflocken und zogen mich vollkommen in ihren Bann.
Es war erstaunlich wie leise sie sich anschleichen konnten. Denn so hatten wir vorhin nicht gemerkt, dass sich der Regen von einer Sekunde auf die nächste zu Schneeflocken verändert hatte.
Still wurde alles unter einer weißen Decke bedeckt und auf einmal wirkte die Welt umso vieles gedämpfter.
Nicht mehr laut, nicht mehr hektisch.
Als ich ausatmete, konnte ich im dämmrigen Licht meine Atemwolke erkennen.
Langsam ließ ich meinen Blick schweifen.
In dem großen Baum, der in der Mitte des Gartens stand, hing noch eine Lichterkette und in der hintersten Ecke des Gartens konnte ich die Umrisse eines Schuppens ausmachen.
„Fynn saß gerne hier", fing Nate plötzlich an zu sprechen und sofort wendete ich mich ihm zu.
Im Mondlicht wirkten seine Gesichtskonturen um einiges weicher, doch er sah mich nicht an. Sein Blick war geradewegs in den Himmel gerichtet.
„Wenn ich ihn zum jogge gezwungen habe, konnte er stundenlang danach hier sitzen und sich über seine schmerzenden Füße beklagen. Damals hat er auch zum Ersten Mal von der Kurzatmigkeit gesprochen. Und ich habe es nicht verstanden."
Ich bemerkte, wie er anfing seine Hände zu kneten. Dann – urplötzlich – drehte er sich mit seinem Oberkörper in meine Richtung und sah mich geradewegs an. „Hätte ich es verstehen müssen?"
Ich atmete einmal tief ein, als mir wieder einmal bewusst wurde, was für einen inneren Kampf Nate mit sich selbst austragen musste. Und wieder einmal verfluchte ich mich dafür, dass mir scheinbar nie die richtigen Worte in solchen Situationen einfielen.
Deswegen rückte ich nur näher an Nate heran und schlang einen Arm um seine Taille.
Ich spürte, wie er einmal tief einatmete und sich dann etwas entspannte.
„Ich denke, Fynn würde dir niemals die Schuld geben, Nate. Und das hat er mit diesem Zweiten Rätsel auch nicht gemacht. Er will uns nur zeigen, was es bedeutet von dieser Kurzatmigkeit betroffen zu sein, aber..." Ich stockte in meinen Worten, als meine Augen über den trüben Sternenhimmel huschten, dann räusperte ich mich und fügte etwas leiser hinzu: „... aber dass es so viel mehr gibt: Nämlich die Unendlichkeit."
Dann zog etwas ganz Besonderes meine Aufmerksamkeit auf sich.
Es war ein blinkendes Licht und im ersten Moment hielt ich es für ein Flugzeug, das meilenweit über uns hinwegflog, doch dann sah ich genauer hin.
Ich erkannte, dass es kein Flugzeug war.
Es war ein Stern, der heller zu leuchten schien, als alle anderen.
Selbst der Schnee und die Wolken ließen ihn nicht verschwinden und in diesem Moment wurde mir bewusst, was Fynn uns mit seinen Worten sagen wollte.
Überwältigt von meinen Gefühlen, klammerte ich mich mit der einen Hand noch fester an Nate, während ich die andere vor meinen Mund schlug, um zu verhindern, dass ich anfangen müsste zu weinen.
Fynn hatte Recht. Selbst die Sterne waren nicht für die Unendlichkeit bestimmt, aber genauso wenig wir.
Und war unsere Lebenspanne nicht so vermessen kurz im Vergleich zu der eines Sternes, dass es für uns doch schon eine kleine Unendlichkeit sein müsste, sich vorzustellen, solch ein Stern zu sein?
Dachten wir nicht immer daran, dass alles so bleiben, sich nicht verändern würde, während wir doch ganz genau wussten, dass wir irgendwann sterben würden?
Der Fehler lag nicht dabei, dass wir uns nicht bewusst waren, dass wir irgendwann sterben würden. Nein, das war ein jedem von uns bewusst.
Vielmehr war es der Fehler, dass wir zwar unseren eigenen Tod im Gedächtnis hatten, während wir jedoch alles andere für unendlich hielten. Wir rechneten nicht damit, dass sich mit der Zeit alles veränderte.
Denn auch wenn die Berge, das Meer, alles um uns herum unendlich wirkte, war es doch genauso endlich wie wir.
Nur, dass es eine andere Dauer aufwies.
Der Wind erzeugte über die Jahre so viel Reibung, dass Stein Staubschicht für Staubschicht verschwand.
Und so würden schließlich auch Berge schrumpfen, von denen wir immer dachten, dass sie für die Unendlichkeit wären.
Vielleicht nicht jetzt, vielleicht würden wir es nicht mehr mitbekommen, aber in ein paar Hundert Millionen Jahren hatten sich Meere bewegt, Berge verschoben und Länder waren untergegangen, während Vulkane neue formen würden.
Dies war Fynns Bedeutung hinter den Worten, dass alles andere unendlich und wir im Vergleich so unendlich kurzlebig wirkten.
„Wir sollen das Universum, unsere Welt sehen, bevor es zu spät ist", schlussfolgerte ich mit leisen Worten und ließ langsam meine Hand sinken. Ich zog meine Knie an meinen Körper und legte mein Kinn auf die Knie, während ich weiterhin in den Himmel starrte.
Der Schnee rieselte auf unsere Köpfe, doch es störte mich nicht.
Nate bewegte sich neben mir.
Er nickte.
„Ich hoffe, Fynn hat sein Universum sehen können, bevor er sich dazu entschlossen hat, eine endliche Unendlichkeit zu werden."
Leicht legte ich meinen Kopf schief, blickte jedoch nicht von diesem einen besonderen Stern weg. „Wie kann eine Unendlichkeit endlich sein, Nate?"
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Nate leicht anfing zu grinsen. Er folgte meinem Beispiel und bettete sein Kinn genauso wie ich auf seine Knie. „Eine Unendlichkeit kann endlich sein, wenn sie Fynn betrifft. So einfach ist das."
Über diese Formulierung muss ich leicht lächeln. Denn er hatte Recht. Es war eine schöne Vorstellung, dass Fynn nun eine endliche Unendlichkeit war.
Vielleicht war nichts unendlich, aber für unsere Dauer an Zeit, die wir hier auf der Erde verbringen durften, war Fynn nun ziemlich nah dran an seiner Unendlichkeit.
Und dies war seine persönliche Unendlichkeit.
Die Unendlichkeit seiner Kurzatmigkeit.
„Ich hoffe, es geht im gut dort oben."
Nates Blick war auf auch den Stern gerichtet.
Er hatte ihn genauso wie ich entdeckt.
„Ich glaube, er hat gerade ganz viel Spaß, uns dabei zu beobachten, wie lange wir für seine Rätsel brauchen", entgegnete ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Ich spürte Nates Blick auf mir und als ich mich ihm zuwendete, sah er mich ohne zu blinzeln an. Ich erwiderte seinen Blick und dann schüttelte er langsam den Kopf.
Etwas erschien in seinen Augen, dass ich nicht richtig zuordnen konnte und leise hörte ich ihn aufseufzen.
„Ich wünschte nur, er hätte nicht so felsenfest daran geglaubt, dass ihr parallel seid."
Und in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich mir das gleiche wünschte.
Denn dann hätte ich ihn kennenlernen können.
Und er wäre vielleicht noch am Leben.
Die Kälte fand ihren Weg durch meine Kleidung, doch ich nahm sie kaum wahr.
Umso intensiver nahm ich die Umgebung in mich auf.
Die Sterne, die Nacht, der Garten, Nate neben mir und die Schneeflocken, die noch immer still und heimlich vom Himmel fielen.
Und Fynn als endliche Unendlichkeit in Form eines blinkenden Sternes am Himmel.
Und noch nie war der Schnee für mich kurzatmiger gefallen.
Denn Fynn nahm uns alle ein, genauso wie die Sterne selbst noch nach ihrem Tod weiter strahlten.
~
(11.12.2017)
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