III
Ich schrecke panisch aus dem Schlaf hoch. Ein verzerrter Schrei gellt durch den Flur. Ich höre das hallende Schlagen von Türen und Gefluche. Angestrengt versuche ich, meine Augen wieder zu schließen. Einfach weiterzuschlafen. Doch ich kann nicht. Es ist, als hätte man eine Lampe in meinem Kopf angeknipst. Jetzt arbeitet er wieder. Wirre Gedanken mit grauenvollen Bildern schießen vor meinem inneren Auge vorbei und ich keuche laut. Mit zitternden Knien stolpere ich ins Bad und spritze mir Wasser ins Gesicht. Im Spiegel sehe ich, wie mich mein bleiches Gegenüber anstarrt und dunkle Augenringe sagen mir, wie schlecht es mir in Wirklichkeit geht.
Noch immer ist der Tumult aus dem Flur zu hören, dabei ist es mitten in der Nacht laut der unscheinbaren Uhr an der Badezimmerwand. Doch warum wundert mich es? Die Wände sind dünn wie Papier und manchmal bin ich der Meinung, einen meiner Nachbarn beim Schnarchen zu hören.
Ich zucke zusammen, als ich eine donnernde Stimme direkt neben mir wahrnehme. So nah, dass ich meinen könnte, derjenige schreit mir direkt ins Ohr. Doch da ist niemand. Zumindest nicht in meinem Bad, aber direkt gegenüber. Beinahe habe ich das Gefühl, als könnte ich durch die Wände blicken. Ich kann mir die Szene haargenau vorstellen, was sich auf der anderen Seite abspielt. Ein neuer Nachbar, der ebenso wenig mit der Idee klarkommt, gefangen in einem Hotelzimmer zu sein.
Es wird wieder ruhig. Die Pfleger scheinen sich zurückzuziehen und eine trostlose Stille nimmt ihren Platz ein. Ich hätte wieder ins Bett gehen können, doch noch immer spüre ich eine innere Unruhe. Wie soll ich nur diese Tage überleben? Starr blicke ich in mein müdes Spiegelbild. Meine blonden Haare sind strähnig und haben jeglichen Glanz verloren. Die Haut hat einen kränklichen Farbton angenommen. Ich sehe furchtbar aus und so fühle ich mich auch. Vielleicht liegt es an dem kratzigen Hals, den leichten Schwindelanfällen, doch ich ignoriere die Symptome.
Ein leises Wimmern holt mich aus meinen Gedanken zurück. Vorsichtig nähere ich mich der Wand, hinter der ich das Geräusch vermute und bleibe unschlüssig vor ihr stehen. Behutsam streiche ich über die Tapete und es ist, als könnte ich denjenigen auf der anderen Seite spüren. Wie sein Körper immer wieder von heftigen Atemstößen durchzuckt wird. Wie seine Tränen über die Wangen laufen und ein brennendes Gefühl hinterlassen. Ich kann es mir so gut vorstellen, denn die meiste Zeit geht es mir nicht anders.
»Du bist nicht allein«, murmle ich und lasse mich langsam an der Wand hinuntergleiten. »Du bist nicht allein«, sage ich wieder, nur diesmal lauter.
In dem Moment weiß ich gar nicht, warum ich das tue. Vielleicht sage ich es auch gar nicht zu ihm, sondern vielmehr zu mir. Weil ich Trost brauche. Weil ich nicht allein sein möchte.
»Was?« Die fremde Stimme reißt mich aus meinen immer wiederkehrenden Worten der Hoffnung.
»Du bist nicht allein«, wiederhole ich, als wäre es die Antwort auf alle Fragen.
»Hallo?« Seine Stimme ist gedämpft, doch auf einmal wird sie lauter. »Wer bist du?«, fragt er auf Englisch.
Hastig blicke ich mich um und bemerke rechts neben mir ein Lüftungsgitter. Vermutlich hat mein Nachbar selbst diese Entdeckung gemacht, denn seine Stimme ist so klar, als würde er mir fast gegenübersitzen. Aber nur fast. Eine dünne Wand trennt uns noch immer.
»Ich heiße Liv«, erwidere ich zögerlich. »Und du?«
»Borya.« Seine Stimme klingt traurig, sodass es mir beinahe das Herz zerreißt.
»Du bist gerade angekommen, oder?«
Mein Gegenüber schweigt, als will er diese Wahrheit nicht aussprechen. Doch dann kommt die Antwort. »Ich war auf dem Weg zu meinen Eltern. Aber sie haben mich einfach mitgenommen und gesagt, ich sei infiziert ...« Ich kann ihn schlucken hören. »Dabei war ich gerade erst aus England gelandet. Ich habe extra mein Studium pausiert, als ich ... und jetzt ...« Heftige Schluchzer durchfahren ihn und ich lausche gebannt seinen abgehackten Sätzen. Wie Eisregen brennen sie sich durch meine Haut. »Ich will nicht sterben!«
Ich weiß, wie er sich fühlt. Diese vier Wörter jagen pausenlos durch meine Gedanken. Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben. Warum haben wir nur so große Angst davor? Vielleicht liegt es an der Ungewissheit, die einen erwartet. Vielleicht an den verpassten Chancen, die man nicht wahrnehmen konnte. Viele sagen, der Tod sei friedlich und ganz normal. Der Lauf des Lebens. Aber ich bin noch nicht bereit dafür.
»Ich auch nicht«, sage ich und lächle gezwungen, auch wenn ich weiß, dass er es nicht sehen kann.
Eine Stille breitet sich zwischen uns aus, die nur von seinem schweren Atem durchkreuzt wird. Dabei möchte ich sie gar nicht. Es klingt vielleicht absurd, doch zu wissen, dass auf der anderen Seite jemand sitzt, der mir zuhört, der mit mir reden kann, spendet Trost. Es ist zwar nur ein Fremder, den ich vielleicht niemals sehen werde, doch auf einmal fühle ich mich nicht mehr so allein, so abgeschieden von allem. Also erzähle ich. Ich erzähle von meinem Job, meiner Familie und was ich schon immer tun wollte, nur damit diese Stille nicht mehr wiederkommt. Borya hört die meiste Zeit nur zu, doch das stört mich nicht.
Als sich die ersten Sonnenstrahlen durch die dünnen Gardinen schleichen, merke ich, dass wir mindestens fünf Stunden miteinander geredet haben. Borya meint, dass er jetzt versucht zu schlafen.
»Danke, Liv«, sagt er. »Kommst du wieder?« Seine Frage ist so zaghaft, dass ich eine Träne wegblinzeln muss.
Vielleicht versteht niemand diese Situation, solange man sich nicht in ihr wiederfindet. Aber wenn man seit mehreren Tagen in einem Hotelzimmer gefangen ist, wahrscheinlich sich mit einem tödlichen Virus infiziert hat und es ungewiss ist, ob man je wieder lebend dieses Zimmer verlassen kann, so klammert man sich an alles, was einen an Normalität erinnert. Und das ist Borya für mich in diesem Moment.
»Ja, ich freue mich darauf.« Und das meine ich ernst. Ich freue mich tatsächlich darauf.
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