Kapitel 1
Mit geschlossenen Augen atmete ich einmal tief ein und wieder aus. Es war frisch an diesem Freitagabend und die Luft roch nach Regen, was für mich einen gemütlichen Abend auf der Couch bedeutete. Am liebsten bei einer Tasse Pfefferminztee. Erleichtert darüber, nach zwölf anstrengenden Stunden auf der geriatrischen Station des J. M. Hospitals endlich Feierabend machen zu können, begab ich mich schnellen Schrittes in Richtung der Fahrradständer. Schnell hatte ich die fünfstellige Zahlenkombination des Schlosses eingestellt und schwang mich mit neu gewonnener Energie auf mein Fahrrad. Dieses hatte auch schon bessere Tage gesehen. Der Dynamo zeigte nur noch schwaches Licht, das Kettensystem quietschte bei jedem Strampeln und auch der Rahmen war sehr rostig. Doch meine Studienvergütung war nicht hoch und meine Eltern wollte ich auch nicht um ein neues Fahrrad bitten. Immerhin war ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren alt genug, um mir selbst eines zu besorgen. Aber für eine Strecke von knapp zwanzig Minuten, ohne Hügel, war es noch in einem akzeptablen Zustand. Außerdem fuhren in Miami genug Fahrräder herum, die noch schlechter aussahen als meines. Und solange es noch fahrtüchtig war, konnte ich es ja auch noch benutzen.
Exakt zwanzig Minuten später hatte ich mein Fahrrad in unseren kleinen Fahrradschuppen gestellt und meine nasse Jacke an einem Kleiderhaken in besagtem Schuppen aufgehängt. Der Regen hatte mich natürlich volle Kanne erwischt, aber das störte mich nicht wirklich. Immerhin würde ich mir in wenigen Augenblicken sowieso eine Dusche genehmigen. Mit schnellen Schritten hastete ich die drei Stufen zur Haustür hoch, trat meine durchnässten Sneaker von meinen Füßen, steckte den Hausschlüssel ins Schloss und begab mich dann ins warme Innere meines Zuhauses. Ich schloss für einen kurzen Augenblick meine Augen, als ich von wohliger Wärme und dem vertrauten Duft nach Kirsche umgeben wurde. Doch dann riss mich ein lautes Kichern aus diesem kleinen Wohlfühlmoment. Leicht irritiert runzelte ich zunächst die Stirn. Ich sah mich kurz verwirrt im Flur um. Fast augenblicklich entdeckte ich Turnschuhe, die definitiv nicht meinem Vater gehörten. Denn dieser machte sich nicht viel aus Turnschuhen. Für einen klitzekleinen Augenblick machte sich Hoffnung in mir breit und ein angenehmer Schauer durchfuhr mich, als ich an Nathan dachte. Doch dann verflog dieser kurze Glücksmoment auch schon wieder. Natürlich waren es nicht seine Schuhe. Er würde erst in ungefähr drei Monaten wieder nach Hause kommen. Fast hätte der Gedanke an Nathan mich vom Wesentlichen abgelenkt, doch dann hörte ich wieder etwas. Diesmal klang es jedoch nicht mehr nach einem Kichern, sondern nach einem erregten Stöhnen, was mich schockiert die Augen aufreißen ließ. Tat meine Schwester da wirklich gerade das, was ich dachte? Betrog sie etwa gerade ihren Freund? Sofort wanderten meine Gedanken wieder zu Nathan. Cassidy und er waren schon fast drei Jahre ein Paar, doch ich liebte ihn mindestens genauso lange. Mag vielleicht merkwürdig klingen, aber was sollte ich schon tun? Mein Herz hatte sich schon längst für ihn entschieden.
Ich versuchte den Gedanken daran, dass meine Schwester Nathan etwas so schlimmes antat, abzuschütteln und rannte schon beinahe die Treppe nach oben. Meine Mutter schien schon zu schlafen, sie schlief viel wenn Dad auf Auslandseinsätzen war. Auch mein Dad ist Soldat in der Army und die Angst um ihn machte Mom einfach nur fertig.
In meinem Zimmer angekommen stellte ich meinen Rucksack neben meine kleine, weiße Kommode und begab mich dann zu meinem Kleiderschrank, um mir frische Unterwäsche und meinen kurzen Schlafanzug rauszuholen. Mit diesen ging ich dann rasch rüber ins Badezimmer und zog mich aus, um mich dann rasch unter die warme Dusche zu stellen. Wie immer dusche ich mich warm ab, ehe ich mich einseifte und wieder warm abduschte. Zum Schluss duschte ich mich für einige Sekunden nochmals kalt ab, um meinen erhitzen Körper abzukühlen.
***
Etwa zwanzig Minuten später lag ich einegkuschelt in meinem Bett. Mein Kopf lag auf meinem Kopfkissen, während der Rest meines Körpers in Embryostellung zusammengekugelt war. In meinen Armen hielt ich einen Pullover von Nathan gefangen, den ich ihm mal heimlich geklaut hatte. Sein Geruch haftete nur noch schwach an ihn und doch war es sein Geruch, der mir immer einen gewissen Seelenfrieden verschaffte. Er beruhigte jede Faser meines Körpers und ließ meine Gedanken augenblicklich zu ihm schweifen.
Seine grünen Augen, die mir immer bis in den tiefsten Winkel meiner Seele blicken konnten. Die markanten Gesichtszüge, die ich am liebsten mal mit meinem Finger nachzeichnen würde. Und seine rauen Lippen, die ich unbedingt auf meinen spüren möchte. Sein starker Körper, an den ich mich zu gerne schmiegen möchte.
Eine einzelne Träne lief mir die Wange herunter, als mir in den Sinn kam, dass dies wohl für immer Wunschdenken sein würde. Schließlich hatte er sein Herz meiner Schwester in die Hände gelegt. Und es brach mir das Herz zu wissen, dass sie nur darauf herumtrampelte. Aber sie wusste ja auch nichts von meinem Leid, ich hatte es ihr nicht gesagt. Schließlich wollte ich meine große Schwester nicht verletzen. Unruhig wälzte ich mich von rechts nach links, während meine Gedanken mich mal wieder verrückt machten. Dann richtete ich mich auf und griff nach meinem Smartphone. Musik sollte mich jetzt ablenken.
So lag ich nun hier, mit Kopfhörern in den Ohren, hielt ich meine Augen geschlossen und dachte mal wieder über meine Liebe zu Nathan nach. Ich kannte ihn schon fast mein ganzes Leben lang. Mit ihm hatte ich als kleines Mädchen Fußball gespielt, habe von ihm Skateboard fahren gelernt und ihm gerne beim Gitarre spielen zugehört. Aber am meisten habe ich die Momente in Erinnerung, als er mir das Basteln von Papierfliegern beigebracht hatte. In allen Farben, Formen und Größen. Papierflieger sind für mich ein Symbol, welches ich immer mit Nathan in Verbindung brachte. Unbewusst bewegte ich meine Finger zu meiner linken Brust, legte sie darunter und spürte meinen schnellen Herzschlag. An genau dieser Stelle war mein ca. 3 Zentimeter großes Tattoo versteckt. Ein kleiner, fliegender Papierflieger.
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