7. Kapitel
"I let myself slip away... Just to stay sane. Just to get through it. And when I felt myself slipping too far, I held on to the one thing I'm always sure of - blue eyes. Bronze curls."
Rainbow Rowell - Carry On
JOSIAH
ER HATTE seinen Rucksack in meinem Kofferraum vergessen. Mir war das erst aufgefallen, als ich meine eigenen Sachen aus dem Kofferraum holen wollte. Ich hatte die Tasche auf meinen Beifahrersitz gelegt, damit ich sie nicht vergessen und ihm morgen in der Schule wiedergeben konnte, aber nun, auf dem Weg zur Schule, wunderte ich mich, ob er mich überhaupt wiedersehen wollte. Er war gestern betrunken gewesen, nicht wirklich er selbst. Wahrscheinlich hat er mich ihn nur deswegen fahren lassen. Ich wusste, dass er nichts mit mir zutun haben wollte und ich akzeptierte das - schließlich kannten wir uns nicht und wir mussten uns nicht anfreunden, nur weil wir Nachbarn waren. Jeder Mensch suchte sich seine Freunde aus und wenn er mich nicht darunter haben wollte, war das okay. Aber als ich Maddox gestern am Strand so hilflos dastehen sehen hatte, hatte ich mich nicht zurückhalten können. Nur weil er nichts mit mir zutun haben wollte, hieß das nicht, dass ich ihn hassen musste. Und das hätte ich für jeden getan.
Hättest du?, wisperte eine kleine Stimme in der hintersten Ecke meines Kopfes und ich drängte sie verärgert weg, schaltete in den nächsten Gang und drückte aufs Gaspedal.
Hätte ich, redete ich mir ein. Doch als ich an Kylie dachte, war ich mir plötzlich nicht mehr so sicher. Ich wusste nicht was es war - sie hatte mir nichts getan, hatte noch nie ein Wort mit mir gewechselt und ich bezweifelte, dass sie überhaupt wusste, dass ich existierte - aber ich konnte sie nicht ausstehen.
Ich parkte diesmal etwas außerhalb der Schule, denn ich hatte noch Zeit und wollte mir noch einen Kaffee in der Bäckerei gegenüber abholen. Ich hatte nicht gut geschlafen und fühlte mich seltsam ausgeschöpft, als wäre ich gestern einen Marathon gelaufen.
Zehn Minuten später stand ich mit einem heißen To-Go-Becher und Maddoxs Tasche in der Hand in einem der Schulflure. Ich wusste, wo sein Spind war und stellte seine Tasche davor, achtete extra darauf, dass mich niemand dabei sah. Nicht weil ich nicht wollte, dass jemand von gestern Abend wusste, sondern weil ich wusste, dass Maddox es nicht wollen würde.
Ich drängelte mich durch die Gänge zu meinem Spind und danach zu meinem Spanischraum. Ich wusste, dass ich mit ihm zusammen Unterricht haben würde und spürte, wie sich ein Knoten in meinem Magen bildete. Ich wurde nervös, dabei hatte ich keine Ahnung, warum. War es, weil ich Angst davor hatte, wie er mir nach gestern begegnen würde? Nachdem er mir gesagt hatte, dass er nichts mit mir zutun haben wollte?
Ich schüttelte den Kopf. Er konnte froh sein, dass ich ihn gestern gefahren habe, sonst hätte er laufen müssen. Betrunken.
Als ich den Raum betrat, glitt mein Blick wie automatisch über die letzte Reihe. Alle Plätze waren bereits besetzt, nur seiner noch nicht. Er war nicht da. Ich ließ mich eine Reihe davor auf meinem Platz nieder und starrte aus dem Fenster. Vielleicht kam er auch nicht mehr, schlief seinen Rausch aus.
Die schrille Klingel ertönte und die letzten Schüler betraten den Raum. Mrs Hunnington begann den Unterricht. Die Stunde zog sich hin und es war egal, wie oft ich aus dem Fenster schaute, er tauchte nicht mehr auf.
***
Der Sportunterricht fand heute draußen statt. Es war warm, die Sonne knallte unerträglich auf den Sportplatz, als wir auf der Bahn unsere fünf Runden liefen. Die sportlichsten Jungs liefen mit mindestens einer Runde vorne, schienen nicht im geringsten aus der Puste zu sein, während sich eine Gruppe von Mädchen schnaufend die Seite hielt und zu einem langsameren Tempo abdrifteten. Zumindest solange, bis die hohe Trillerpfeife des Lehrers ertönte und sie wie von Hummeln gestochen wieder Gas gaben. Es war amüsant, wirklich.
Als ich mit meinen Runden fertig war, ließ ich mich völlig verschwitzt auf das Gras fallen, versuchte meinen Atem zu regulieren. Meine Haare klebten an meiner Schläfe und ich fuhr mir durch die Locken, schüttelte meine Haare durch.
„Nein, man. Ich bin nach Hause gelaufen."
Ich schaute auf. Nicht einmal fünf Meter entfernt von mir stand Maddox mit einem Freund, seine dunkelblonden Haare glänzten in der Sonne und obwohl er die fünf Runden auch gelaufen sein musste, sah er nicht im geringsten erschöpft aus. Wieso hatte ich ihn vorher nicht gesehen?
Er sah genervt aus.
„Du bist in deinem Zustand niemals nach Hause gelaufen. Du hättest es nicht mal bis zum Parkplatz geschafft", antwortete sein Freund. Es war der, der mich fast die Treppe hinunterbefördert hatte.
Hat er, dachte ich. Er hat es bis zum Parkplatz geschafft.
Maddox antwortete nicht. Sein Freund stieß ihm gegen die Schulter.
„Komm schon, wen hast du angerufen?" Er schien Maddoxs Lüge zu durchschauen. Ich wunderte mich, wie lange die beiden schon befreundet waren.
Er atmete genervt aus, hob den Saum seines T-Shirts und wischte sich damit übers Gesicht. Ich konnte nicht anders. Mein Blick wanderte über seinen nackten Bauch, seine Haut war sonnengebräunt, hatte die Farbe von Honig. Definierte Bauchmuskeln bewegten sich, während er atmete. Er war schön.
Ich schaute weg und legte den Kopf in den Nacken, atmete tief durch. Ich hörte zwei Mädchen kichern und war plötzlich genervt. Ob von mir selbst oder den Mädchen, wusste ich nicht.
„Kylie", hörte ich ihn antworten. In mir brodelte etwas auf, von dem ich nicht wusste, was es war.
Lüge.
„Du hast Kylie angerufen? Hat sie dich nach Hause gebracht?" Sein Freund schien genauso überrascht zu sein wie ich, als er mir gesagt hatte, dass ich ihn zu Kylie fahren sollte. Ich hatte immer den Eindruck gehabt, dass er sie nicht wirklich mochte, aber scheinbar waren die beiden doch befreundet. Oder etwas in die Richtung.
„Nein, ich hab bei ihr gepennt."
„Mit 'bei ihr gepennt' meinst du, du hast sie flachgelegt?"
Bei der Frage konnte ich nicht anders, als mich zu ihnen umzudrehen. Ich wollte seine Reaktion sehen, schätze ich.
Maddox erwiderte das dreckige Grinsen von seinem Freund nicht. „Was denn sonst?"
Ich hatte genug gehört und stand auf, entfernte mich von den beiden. Ich hätte von Anfang an nicht zuhören dürfen, das war eindeutig ein privates Gespräch. Und trotzdem hinterließ die Information, dass ich Maddox zu seiner nächsten Bettgeschichte gefahren hatte, einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge.
Keine Minute später hörte ich die nervige Trillerpfeife über den gesamten Platz schrillen und bewegte mich in Richtung des Kreises, der sich um Mr Danovan gebildet hatte.
Die ganze restliche Stunde lang schenkte ich Maddox keinen Blick mehr.
***
Ich war einer der letzten in der Umkleide, wie ich feststellen musste, als ich nur mit einem Handtuch um den Hüften aus dem neben anliegenden Duschraum kam. Nur noch Maddox, sein Freund und ein anderer dunkelhaariger Typ waren noch da. Ich schenkte niemanden von ihnen wirklich Beachtung, rubbelte mit einem zweiten Handtuch durch meine Haare. Ich schaute nur kurz auf, als der dunkelhaarige Typ zur Tür lief und verschwand, dann wandte ich mich wieder meinen Haaren zu. Dann war ich nun wohl alleine mit Maddox und seinem Freund.
„Geh' schon mal vor", hörte ich Maddox sagen und meine Bauchmuskeln verkrampften sich.
„Gut, ich bin in der Cafeteria", erwiderte sein Freund, einen Moment später hörte ich die Tür ein zweites Mal zuschlagen.
Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös ich war und cool zu bleiben, aber spätestens als mir das Handtuch aus den Händen glitt und mir ein leises Fluchen entwich, musste er wissen, was in mir vorging. Ich wollte mich bücken und es wieder aufheben, aber er war schneller. Er stand direkt vor mir, hielt mir das feuchte Handtuch auf Höhe meiner nackten Brust hin. Ich starrte hoch in seine Augen und mein Mund wurde trocken.
Er war bereits komplett angezogen, trug Shorts und ein weißes T-Shirt, was mich ein wenig einschüchterte. Ich stand bis auf ein Handtuch, das nur den unteren Teil meines Körpers verdeckte, praktisch nackt vor ihm. Seine Haare waren an den Spitzen noch ein wenig feucht, hingen ihm komplett durcheinander über die Stirn und verdeckten die frische Naht an seiner rechten Schläfe. Seine Augen verdunkelten sich leicht, als sie kurz zu meiner Brust glitten, doch als er wieder hochschaute hatten sie wieder ihre normale intensive Farbe und ich wunderte mich, ob ich mir das nicht vielleicht nur eingebildet hatte.
Plötzlich wurde mir wieder bewusst, dass er mir das Handtuch hinhielt und ich riss ihm das Tuch aus der Hand und stopfte es in meine Sporttasche, achtete präzise darauf, ihm nicht in die Augen zu schauen. Trotzdem sah ich im Augenwinkel, wie er den Kopf leicht auf die Seite legte.
„Was denn? Kein 'Dankeschön, Maddox?'" Ich hielt mit dem Rücken zu ihm inne, war mir seinen Blick auf mir mehr als nur bewusst.
„Von dir hab ich auch keins gehört", antwortete ich, meinte damit gestern Abend. Er war einfach gegangen, ohne sich zu verabschieden, ohne sich zu bedanken. Nicht, dass ich das erwartet hätte.
„Wenn ich mich richtig erinnere, bist du einfach weggefahren."
„Wie auch immer", murmelte ich, hatte keine Lust, mich auf diese Diskussion einzulassen und lenkte mich von seiner Präsenz ab, in dem ich meine restlichen Sportsachen in die Tasche räumte. Ich wünschte, er würde gehen, damit ich mich anziehen konnte.
„Bist du angepisst?"
„Nein." War ich angepisst? Vielleicht. Ich verstand einfach nicht, warum er sich mitten in der Woche betrinken musste. Andererseits hatte ich keinen Grund, angepisst zu sein, denn es ging mich nichts an, was er machte. Es war sein Leben.
„Ich bin wegen dem Rucksack hier", sagte er plötzlich, nachdem er eine Weile lang gar nichts gesagt und mir beim Zusammenpacken zugeschaut hatte.
Ich hielt wieder inne, starrte auf meine Hände, die gerade meine Wasserflasche einpacken wollten.
„Den hast du bei mir vergessen. J.", zitierte er und ich schloss die Augen.
Der Zettel.
Ich hatte ihn in die Seitentasche seines Rucksacks gesteckt, dort, wo normalerweise Trinkflaschen drinnensteckten.
„Warum hast du mir den Rucksack nicht einfach gegeben?" Ich drehte mich bei der Frage überrascht um. Ich hätte alles mögliche erwartet, aber nicht das.
Ich biss mir kurz auf die Unterlippe, sein Blick flackerte für den Bruchteil einer Sekunde zu meinem Mund, bevor er wieder auf meine Augen traf.
„Weil ich nicht glaube, dass du gewollt hättest, dass ich dir deinen Rucksack vor allen Leuten wiedergebe", sagte ich ehrlich.
Er betrachtete mich einen Moment lang, schien über etwas nachzudenken. Dann nickte er kurz. „Genau das ist es. Das will ich nicht. Und ich will auch keine kleinen Zettelchen von dir haben, oder dass du mich irgendwo hinfährst. Ich will eigentlich gar nichts mit dir zutun haben", sagte er, seine Stimme plötzlich kühl.
Ich starrte ihn an. Und hier hatte ich wirklich gedacht, er würde sich bei mir bedanken. Ich hatte nicht viel erwartet, ein einfaches 'Danke' hätte gereicht. Aber dass er mich wieder abschob, damit hatte ich nicht gerechnet.
Seine Arroganz und vor allem seine Ignoranz machten mich wütend.
„Und wenn du wieder betrunken vor meinem Auto stehst?", fragte ich verärgert, mein Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst.
Maddox schaute mich einen Moment lang so an als wüsste er nicht, was er darauf sagen sollte, als wäre er wirklich überrascht, dass ich wütend war.
„Dann lass mich stehen", antwortete er einfach.
Und dann tat er genau das, was er gesagt hatte; er ließ mich stehen.
Aufgewühlt von der Unterhaltung trocknete ich mich ab und zog mich an, bevor ich mich über den Schulhof auf den Weg zu meinem Auto machte. Ich hatte den restlichen Tag über frei und wollte nur noch nach Hause, endlich den verlorenen Schlaf nachholen. Aber da hatte ich die Rechnung nicht mit Mum und meinem Bruder gemacht.
Als ich zu Hause ankam überraschte es mich nicht wirklich, dass auf den ersten Blick niemand zu sehen war. Meine Eltern waren arbeiten und Gabe... Keine Ahnung, was Gabe machte. Wahrscheinlich war er oben in seinem Zimmer und skypte mit seiner On-Off-Freundin oder spielte irgendwelche Videospiele. Doch als ich in die Küche ging, fiel mir sofort der weiße Zettel auf der Kücheninsel auf. Ich runzelte die Stirn und las.
„Hallo Jungs,
Dad und ich sind in Omaha, bei Grandma. Ihr geht es nicht besonders gut und wie es aussieht, werden wir ein oder zwei Tage dort bleiben.
Baut keine Scheiße (ich weiß genau, wie viele Flaschen Whiskey im Schrank stehen, Gabriel!) und bitte versucht, nicht die Küche abzufackeln oder euch gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Mum XOXO
P.S.: Bitte fahrt Einkaufen, ich habe euch eine Liste und Geld auf den Tisch gelegt.
P.P.S: Dad weiß auch, wie viele Flaschen Bier noch da sind. Komm' also gar nicht erst auf die Idee, Gabriel."
Mein Blick glitt zum Tisch, wo tatsächlich eine lange Liste mit Dingen lag, die wir einkaufen sollten, daneben lagen mindestens siebzig Dollar.
Ich seufzte. Einkaufen mit meinem Bruder war eines der letzten Sachen, auf die ich jetzt Lust hatte.
Ich hörte, wie jemand die Haustür aufschloss und wusste, wer das war. Als mein Bruder durch die Tür in die Küche trat, bestätigte sich mein Verdacht. Er beachtete mich nicht und schüttelte sich die Jacke von den Schultern, doch als er bemerkte, wie ich ihn dabei anschaute, hielt er inne.
„Ist irgendwas?", fragte er genervt.
Ich hielt ihm ohne ein Wort den Zettel hin und beobachtete, wie er mit gerunzelter Stirn las. Als er fertig war, verdrehte er die Augen.
„Kein Plan, wie sie darauf kommen, dass ich an ihren Alkohol gehen würde", murmelte er.
Ich schnaubte. „Ich hab da so 'ne Ahnung", sagte ich und meinte damit das eine Mal, als er ungefähr in meinem Alter war und Mum und Dad mit mir in den Urlaub gefahren sind. Er hatte nicht mit gewollt und als wir früher als zuerst gedacht wieder zurückkamen, war auch klar gewesen, wieso; er hatte die halbe Schule zu uns nach Hause eingeladen und hatte es allen Anschein nach ordentlich Krachen lassen. Ich weiß noch, wie er die nächsten Tage damit verbracht hatte, das ganze Haus zu schrubben und das Klopapier wieder aus den Bäumen und Büschen in unserem Vorgarten zu fischen.
Gabe verstand meine Andeutung und verdrehte die Augen.
„Ich fahre", sagte er nur und wollte in der Schüssel auf der Kommode im Flur, wo wir unsere ganzen Schlüssel immer reinschmissen, nach dem Autoschlüssel von meinem Dad greifen, doch stattdessen erwischte er nur einen weiteren Zettel.
„Die Schlüssel hab ich mitgenommen - nimm' dein eigenes Auto, Gabriel. Dad xx", las er vor und zerknüllte gleich darauf wütend den Zettel, während ich mich vor Lachen am Türrahmen anlehnte.
Im nächsten Moment flog die Papierkugel auf mich zu, doch ich konnte mich noch rechtzeitig ducken, sodass sie nur auf dem Küchenboden landete.
„Halt die Klappe, Arschloch", sagte er.
Die Autofahrt verlief so wie immer; er beleidigte mich, ich beleidigte ihn, wir stritten uns um die Musik, dann beleidigte er mich wieder, ich gab nach und dann herrschte Stille.
Zugegeben, unsere Beziehung war nicht die Beste. Wir hatten unsere guten Phasen, wo wir uns einigermaßen gut verstanden und manchmal zusammen Videospiele spielten, dann hatten wir wieder unsere schlechten Tage, wo wir die Existenz des jeweils anderen entweder ignorierten oder uns nur Beleidigungen an den Kopf warfen. Als wir noch kleiner waren endeten unsere Streitereien meistens damit, dass wir uns prügelten oder irgendetwas vom anderen kaputt machten, bis derjenige heulte. Unsere Eltern waren zeitweise echt verzweifelt, drohten uns ständig damit, dass sie uns in den Sommerferien acht Wochen lang ins Boot Camp steckten oder Ähnliches, aber im Endeffekt wusste ich, dass ich mich auf meinen Bruder verlassen konnte, wenn es hart auf hart kommen sollte. Wie in der High School, in Omaha. Ich wusste, dass er dafür verantwortlich war, dass die ganzen Beleidigungen zum Ende hin weniger wurden, auch wenn er mir gegenüber nie etwas darüber erwähnt hatte.
Gabe parkte etwas weiter hinten unter einem Baum, damit wir auf der Rückfahrt nicht verbrennen würden. Ich holte den Einkaufswagen und Gabe hielt die Liste, zusammen liefen wir durch die Gänge und hakten die Sachen ab. In dem Gang mit den Spirituosen blieb Gabe kurz stehen, doch ich schubste ihn mit dem Einkaufswagen weiter.
„Spießer", hörte ich ihn murmeln, doch ich ging nicht auf seine Bemerkung ein.
„Manchmal hab ich das Gefühl, ich bin der Ältere von uns beiden", seufzte ich, aber er hatte mir gar nicht erst zugehört und war schon im nächsten Gang verschwunden.
Als er mit den Armen voller Chipstüten um die Ecke kam, runzelte ich die Stirn.
„Gabe, was hast du vor?", fragte ich, hatte schon eine dunkle Vorahnung.
„Wonach sieht's denn aus?" Er schmiss die Tüten in den Wagen und lenkte ihn in die Abteilung mit den Bierkisten.
„Wie viele?", fragte ich bloß.
„Keine Ahnung, wird 'ne kleine Runde. So zwanzig Leute?"
Als er meinen Blick sah, stöhnte er auf. „Chill', Siah. Ich bezahl' das alles selber."
Ich dachte einen Moment lang nach.
„Du räumst das alles wieder auf. Alleine. Bevor Mum und Dad kommen", fügte ich hinzu.
Eine Hausparty war genau das, wovor meine Eltern ihn gewarnt hatten. Aber Gabe musste selber wissen, was er tat und solange ich da nicht mit reingezogen wurde, konnte mir das egal sein.
„Klar", meinte er in einem Ton der mir sagte, dass er das nur sagte, damit ich Ruhe gab.
Ich seufzte und überließ ihm den Wagen. Während er sich weiter in dem Gang mit den Bierkisten aufhielt, besorgte ich die restlichen Sachen, die noch auf der Liste standen.
Mit knapp sechzig Dollar weniger und einem Versprechen, dass er das Geld wieder in die Haushaltskasse einzahlen würde, verließen wir den Laden.
"Ich warne dich, wenn ich da mit reingezogen werde. Ich hab nichts damit zutun, klar?", stellte ich klar. Leise Musik tönte aus den Lautsprechern, die ich dank der offenen Fenster aber nicht hören konnte.
"Jetzt piss' dich mal nicht ein, Siah. Ich bin ein Profi."
"Ein Profi?", ich lachte freudlos auf. "Erinner' dich mal an das eine Mal zurück, als du das Klopapier aus den Bäumen holen musstest. Wir haben noch Fotos davon."
"Das war das erste Mal. Danach wurde ich nie wieder erwischt." Er fuhr sich durch die Haare. Seine Haare waren das einzige, das uns neben dem Alter wirklich unterschied. Sie waren heller als meine, kamen bei ihm eher nach meinem Dad als nach meiner Mum, und er hatte keine Locken. Bei ihm waren es eher leichtere Wellen. Abgesehen davon, hätten wir Zwillinge sein können. Wir hatten beide die selben dunkelgrünen Augen, selbst die Form unserer Lider und Wimpern war gleich. Unsere Nasen waren gleich, die Form unserer Lippen, die Dichte der Augenbrauen, Gesichtsform... Man konnte nicht übersehen, dass wir Brüder waren.
"Ich weiß, warum ich Mum und Dads Liebling bin", murmelte ich und schaute aus dem Fenster. Natürlich war das nicht ernst gemeint und ich wusste auch, dass Gabe das wusste. Unsere Eltern hatten immer darauf geachtet, niemanden zu bevorzugen oder außen vor zu lassen, auch wenn es den Anschein haben mochte, als wäre Gabe das schwarze Schaf in der Familie. Er war definitiv derjenige von uns beiden, der am meisten Scheiße baute und mehr Ärger bekam, aber meine Eltern liebten ihn deswegen nicht weniger.
"Träum' weiter. Ich hab den Erstgeborenen-Bonus, Mistkerl." Gabe scherzte nicht oft, er war eher ein Mensch, der sich mit Sarkasmus begnügte. Aber jetzt gerade wusste ich, dass er scherzte. Ich drehte meinen Kopf zur Seite, damit er mich nicht beim Lachen erwischte und trommelte mit den Fingern gegen die Tür, um mich abzulenken.
"Ich hab wieder mit Football angefangen." Ich wusste nicht, warum ich ihm das erzählte. Er war der Einzige, der wusste, warum ich in Omaha aufgehört hatte und ich schätze, ich wollte einfach, dass er das wusste. Wir haben zusammen im Footballteam der High School in Omaha gespielt, bis ich aufgehört hatte. Noch im selben Jahr hat er seinen Abschluss gemacht - Gabe war nur eine Klassenstufe über mir gewesen. Manchmal war es anstrengend mit ihm zusammen zu trainieren, denn wie er nun mal war, hatte er nichts unversucht gelassen, um mir das Training so schwer wie möglich zu machen. Aber andererseits hatte es auch seine guten Seiten gehabt; im Spiel wusste der eine immer genau, was der andere vorhatte und das hatte uns oft einige Vorteile verschafft. Und dazu war mir durch meinen großen Bruder als Football Captain der Respekt der anderen Spieler sicher.
Es war schwer, Gabe zu überraschen, aber ich denke, ich habe es geschafft. Mehr sogar noch; er sah geschockt aus, seine Augen aufgerissen. "Du hast was?", hakte er nach, Ungläubigkeit sickerte durch seine Stimme.
"Ich dachte, ich würde es noch mal versuchen", zuckte ich unbekümmert mit den Schultern, aber in meinem Inneren sah es ganz anders aus. Ich beobachtete ihn nervös aus dem Augenwinkel. Ich würde es vielleicht nie zugeben, aber seine Meinung war mir bei diesem Thema wichtig und würde er das nicht gutheißen, würde ich vielleicht nicht sofort aufhören, aber das Spielen würde definitiv einen bitteren Nachgeschmack bekommen. Die Leidenschaft für Football war eines der wenigen Dinge, die Gabe und ich teilten und das wollte ich nicht verlieren.
"Und...", zögerte er, seine Augen wanderten ruhelos hin und her. Untypisch für ihn. Ich sah die Bewegung seines Adamsapfels, als er schluckte. Dann sah er mich an, ich starrte stur geradeaus. "Du bist dir wirklich sicher? Ich meine, mit allem, was letztes Jahr-"
"Ich bin mir sicher, Gabe", unterbrach ich ihn. Ich hoffte, dass ich mich genauso entschlossen anhörte, wie ich klingen wollte.
Er nahm beide Hände vom Lenkrad und hob sie in einer verteidigenden Geste, als wir vor einer roten Ampel zum Stehen kamen. Es war nicht mehr weit bis nach Hause.
"Ich sag ja nur. Was ist, wenn das Gleiche wieder passiert?" Er klang nicht mehr nach dem Gabe, der er sonst immer vorgab zu sein. Er klang nach einem großen Bruder. So, wie ich ihn brauchte. "Ich meine... Du weißt schon. Du hast den ganzen Scheiß vielleicht verdrängt, aber ich weiß immer noch, wie sie dich genannt haben."
Keine Sorge, Gabe, dachte ich verbittert. Ich hab es nicht vergessen.
Aber was ich laut aussprach, war etwas anderes. "Aber hier kennt mich niemand. Niemand weiß, was passiert ist und ich kann neu anfangen." Das war zumindest das, was ich inständig hoffte.
Ich hörte ihn seufzen und schaute zu ihm rüber. Er fuhr sich gerade durch die Haare, im nächsten Moment schaltete die Ampel auf grün und er griff nach dem Knüppel zwischen uns, schaltete in den nächsten Gang und gab Gas.
"Ich weiß nicht, was ich davon halten soll", sagte er nach einer kurzen Pause. " Aber ich schätze, es ist gut, dass du wieder spielen willst. Du kannst dich nicht ewig verstecken."
Bei seinen Worten spürte ich, wie mir mindestens eine Tonne Gewicht von den Schultern genommen wurde und bemerkte erst in dem Moment, wie sehr ich auf seinen Segen gehofft hatte. Ich spürte die Erleichterung durch meine Adern pumpen und schaffte es gerade noch, ein Lächeln zurückzuhalten. Als ich kurz zu ihm schaute, dachte ich, so etwas wie Reue in seinen Augen aufflackern zu sehen, doch nach dem nächsten Blinzeln war es wieder verschwunden und ich redete mir ein, dass ich es mit einer anderen Emotion verwechselt haben musste. Sorge vielleicht. Oder Zweifel. Beides hätte ich verstanden.
"Danke, Gabe", erwiderte ich schließlich. Er antwortete nicht mehr.
Zu Hause angekommen half ich ihm dabei, die Sachen rein zu bringen und wegzuräumen. Ich hätte es nicht tun müssen, aber ich hatte das Gefühl, als wäre ich ihm nach dem Gespräch im Auto etwas schuldig.
Danach ging ich hoch in mein Zimmer, machte Hausaufgaben - zumindest so gut es ging, wenn nebenbei der Fernseher lief. Mein Schreibtisch stand genau unter dem Fenster, sodass ich nicht nur durch das Basketballspiel im Fernsehen, sondern auch durch die Aussicht aus dem Fenster abgelenkt wurde. Das Fenster war in Richtung Straße gerichtet, mein Blick lag genau auf dem Haus gegenüber. Auf dem Haus der Thompsons. Ich fragte mich, ob Maddox das Zimmer gehörte, welches meinem direkt zugewandt war. Oder hatte er Geschwister? Ich hatte nie jemand anderes als eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters - wahrscheinlich seine Mutter - und Maddox durch die Haustür gehen sehen.
Und natürlich Kylie, dachte ich überraschend verbittert. Schon allein der Gedanke an das perfekte Mädchen mit den blonden Haaren reichte, damit sich mein Magen unangenehm zusammenzog. Ich denke nicht, dass ich schon mal irgendjemanden so sehr gehasst habe. Nicht, wenn ich die Person eigentlich gar nicht kannte.
Ich seufzte und stand auf, ließ die unfertigen Hausaufgaben hinter mir und schmiss mich auf mein Bett. Ich konnte nicht weitermachen, wenn ich alle zwei Minuten mit den Gedanken woanders war. Plötzlich überkam mich eine Müdigkeit, die ich vorher noch nicht gespürt hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass mein Körper mein Bett einfach mit Schlaf verband. Vielleicht sollte ich mich der Müdigkeit einfach hingeben und ein bisschen schlafen. Mein Blick glitt zu meinem Wecker auf dem Nachttisch - es war halb vier.
Ich schloss die Augen.
Spätestens wenn Gabes Leute kamen, würde ich schon aufwachen.
***
"Josiah? Ey, Siah", lallte jemand und hämmerte gegen meine Tür.
Ich stöhnte schlaftrunken auf und zog mir das Kissen über den Kopf. Ich brauchte nicht erst aufzustehen und zur Tür zu gehen um zu wissen, wer vor der Tür stand und immer noch gegen das Holz hämmerte. Es gab nur eine Person, die mich 'Siah' nannte.
"Geh weg, Gabe", murmelte ich. Aber es war anscheinend nicht laut genug. Im nächsten Moment schien ihm meine Privatsphäre plötzlich egal zu sein und er öffnete die Tür, stolperte in mein Zimmer. Er hielt einen relativ vollen Becher mit Bier in der Hand, das Bier schwappte über und landete mit einem Klatschen auf meinem Laminatboden. Super.
"Siah, komm' mit runter", wollte er vermutlich sagen, aber ich verstand nur ein Gemisch aus Wörtern mit fehlenden Konsonanten. Gott, wie betrunken war er?
"Warum?", fragte ich, plötzlich hellwach. Mein Zimmer war in orangenes Licht getaucht, die Sonne ein großer untergehender Feuerball am Himmel. Seine Haare schimmerten durch das Licht rötlich.
"Komm' schon", säuselte er, schwang den Becher herum, das Bier schwappte gefährlich nah am Rand. "Unten wartet jemand auf dich."
Seine anderen Worte mochten undeutlich gewesen sein, aber die letzten Worte waren so klar wie als wenn er nüchtern wäre. Ich rieb mir mit dem Handrücken durch die Augen, bevor ich mich aus meiner Decke befreite und aufstand.
"Gabe, wie viel hast du getrunken?", seufzte ich und ging auf meinen Bruder zu.
Er trat schwankend einen Schritt zurück, schien irgendwie zu ahnen, was ich vorgehabt hatte und hielt den Becher weit über seinem Kopf.
"Komm' jetzt runter", drängte er, ignorierte meine Frage völlig und drehte sich um, torkelte aus meinem Zimmer.
Ich schätze, da ich sowieso schon wach war, konnte es auch nicht schaden, einfach mit ihm nach unten zu gehen.
Ich folgte ihm die Treppe hinunter, laute Musik dröhnte durch seine Musikanlage, die er irgendwo im Wohnzimmer angeschlossen haben musste. Im Flur begegneten wir noch niemandem, erst im Wohnzimmer sah ich ein paar Leute auf dem Sofa rumsitzen und irgendein Trinkspiel spielen. Auf dem ersten Blick kannte ich niemanden von ihnen, Gabe schien sie erst in Jacksonville kennengelernt zu haben. Doch als wir uns näherten, hob ein rothaariger Typ mit Dreitagebart seinen Blick und als ich ihm ins Gesicht sah, fuhr ein Schock durch mich durch.
"Nate?", echote ich ungläubig. Als der Junge grinste, gab es keinen Zweifel mehr. Es war Nathan Hale, auch Nate genannt - Gabes bester Freund aus der High School. Aber Nate lebte in Ohmaha, was machte er hier? Im meilenweit entferntem Jacksonville?
"Hey, Kleiner", rief er und stand auf, kam zu uns rüber. Niemand schenkte uns Beachtung.
Ich wusste nicht, ob ich mich freute, ihn wiederzusehen. Nate hatte mir nie etwas getan, er war einer der einzigen, die nichts auf die Gerüchte gegeben haben. Vielleicht hatte es nicht wirklich an mir als Person gelegen, sondern eher an der Loyalität Gabe gegenüber, aber davon ließ ich mich nicht beirren.
"Was machst du hier?", fragte ich erstaunt, als er vor mir und Gabe zum Stehen kam.
Nate zuckte mit den Schultern, ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. "Ich gehe hier in der Nähe aufs College", sagte er. "Und ich dachte, ich schau' mal vorbei."
Es war seltsam, was das College mit den Leuten machte. Ich hatte Nate als großen schlacksigen Typen in Erinnerung, doch der Nate aus meiner Erinnerung hatte nichts mit dem Nate vor mir zutun. Er hatte einiges an Muskelmasse zugelegt, außerdem hatte er sich einen leichten Bart wachsen lassen, der alle restlichen jugendlichen Züge in seinem Gesicht vollkommen verschwinden ließ. Er sah um einiges erwachsener aus. Hatte Gabe sich auch in die Richtung verändert? Ich hatte nie darauf geachtet, aber als ich zu Gabe sah, fielen mir das erste Mal überhaupt die leichten Bartstoppel an seinem Kinn und seinem Kiefer auf. Sonst hatte er sich immer rasiert.
"Täusche ich mich, oder hast du deine Haare seit unserer letzten Begegnung nicht mehr geschnitten?" Nates hellbraune Augen funkelten amüsiert und ich stieg in sein Lachen mit ein, bis Gabe plötzlich einen komischen Laut von sich gab. Irgendetwas zwischen einem Lachen und einem Würgen. Nate hob die Augenbrauen und schlug ihm kurzerhand auf die Schulter.
"Ich glaub' du hattest für heute Abend genug, Kumpel", sagte er und schnappte sich den halbvollen Becher aus Gabes Hand, stellte ihn auf dem Wohnzimmertisch ab. Gabe schien das nicht mal zu bemerken. Ich kramte in meinen Erinnerungen, doch ich fand keinen Abend, an dem ich meinen Bruder betrunkener gesehen hatte als heute.
"Ich bring ihn hoch, welches Zimmer gehört ihm?", fragte Nate über seine Schulter hinweg, war mit Gabe schon auf dem Flur.
"Letztes Zimmer links", antwortete ich und wollte gerade auf die Terasse, ein wenig an die frische Luft, als ich Gabe nach mir rufen hörte.
Ich drehte mich um. Plötzlich waren seine Augen klar und ernst, als könnte er in dem Moment nicht nüchterner sein. Doch als ich seinen Blick erwiderte, verzog sich sein Gesicht zu einer Maske aus Qual. Mein Herz setzte einen Schlag aus.
"Es tut mir Leid, Siah. Ich wollte das nicht."
Bevor ich fragen konnte, was genau ihm Leid tat, hörte ich, wie sich hinter mir die Terassentür öffnete. Ein leichter Wind wehte herein und hinterließ eine Gänsehaut auf meinem Körper. Gabe war plötzlich bleich geworden, ihm war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen, als er auf etwas hinter mir starrte. Nates Augen waren weit und in ihnen spiegelte sich ein Sturm aus Emotionen wieder. Plötzlich bekam ich Angst.
"Hallo, Josiah."
Mein Körper wurde augenblicklich kalt und meine Füße waren wie festgefroren. Ich konnte spüren, wie mein ganzer Körper anfing zu zittern. Ich starrte voller Horror in die weiten Augen meines Bruders und wusste, ich wusste, dass ich ihm das nie verzeihen könnte. Mein Herz blieb stehen.
Ich kannte diese Stimme.
Einst mein schönster Tagtraum, der sich schneller als ich hatte Gucken können - schneller als ich in der Lage war, das überhaupt zu realisieren - in meinen schlimmsten Albtraum verwandelt hatte.
Es war die Stimme von José Santiago Miller.
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