7 - Ein Monster aus Fleisch und Blut
Die restliche Woche verbringe ich zu Hause. Ich spiele meinen Eltern vor, krank zu sein und kann somit einen großen Bogen um Blake und seine Freunde machen. Ehrlich gesagt verfolgen mich Blakes hasserfüllte Worte nicht nur tagsüber, sondern auch in der Nacht. Ich habe oft Albträume oder Panikattacken.
Es fällt mir schwer, zu begreifen, dass alles nur gespielt war. Nichts war echt. Alles eine riesengroße Lüge. Und ich war so dumm und habe es geglaubt. Ich habe Blake geglaubt. Ihm immer wieder eine neue Chance gegeben und nur das Gute in ihm gesehen. Ich bin selber schuld, dass ich so naiv war, mich auf jemanden wie Blake Archer einzulassen.
Die einzige Sache, die ich allerdings nicht verstehe, ist, welche Rolle Shane bei diesem ganzen Drama einnimmt. Warum sollte er eifersüchtig auf Blake sein? Am liebsten würde ich ihn darauf ansprechen, aber ich traue mich nicht. Ich habe in den letzten Wochen genug gelitten.
„Ich gehe eine Runde laufen", lasse ich meine Eltern wissen, während ich den Reißverschluss meiner Sportjacke zuziehe. „Nimm aber bitte dein Handy mit, falls etwas passieren sollte", mahnt mich mein Vater mit einem strengen Blick. Seit ich beinahe vor ein Auto gelaufen wäre, sind meine Eltern noch besorgter als vorher. Seufzend strecke ich Dad mein Smartphone entgegen und verlasse dann das Haus.
Mein Körper wird direkt von einem eisigen Windstoß umhüllt, der mich zum Lächeln verleitet. Ich war schon viel zu lange nicht mehr abends laufen, weshalb ich es heute umso mehr genieße. Meine Füße schweben wie von selbst über den Untergrund und werden von Minute zu Minute schneller. Ich habe nach so langer Zeit endlich wieder das Gefühl frei zu sein.
Befreit von Kummer und Angst.
Befreit von Elend und Leid.
Befreit von Gedanken und Gefühlen.
Befreit von Blake.
Kaum verschwende ich einen Gedanken an den Blauäugigen, nehme ich seine zornerfüllte Stimme wahr. „Du verdammter Wixxer!" Auch wenn er mir Angst macht, bahne ich mir meinen Weg über eine Wiese und verstecke mich dann hinter einem Dornenbusch.
Tatsächlich steht Blake auf der anderen Seite des Flussufers, neben ihm ein rothaariger Junge, der mindestens zwei Jahre jünger sein muss als er selber. „Deinetwegen standen die verfickten Bullen bei Myron vor der Tür!", wütet Blake und schubst den Jungen zu Boden. „Du hast geschworen, deine Fresse zu halten!" Er packt den Rothaarigen am Kragen und presst ihn gegen einen Baum.
Das ist er also. Der wahre Blake. Um ehrlich zu sein fürchte ich mich vor dieser Person. Wieso ist er so brutal und verprügelt ständig andere Leute? Erst hat es Shane getroffen und jetzt den Rotschopf.
„Aber das hast du nicht! Stattdessen hast du deine hässliche Fresse aufgemacht und die Bullen auf Myron gehetzt. Fast hätten sie sein Drogenlager gefunden!", redet Blake nun leiser weiter und rammt dem Fremden seine Faust in den Magen. Dieser sackt sofort in sich zusammen und hält sich schützend die Hände vor das Gesicht. Ich kann sehen, dass sich seine Lippen bewegen, doch er winselt so leise, dass ich kein Wort verstehe.
„Du bist ein Wixxer und Wixxer gehören unter die Erde!", knurrt Blake, bevor er ungehalten auf den Jungen einprügelt. Einen Schlag ins Gesicht. Einen Schlag in den Unterleib. Einen Schlag in den Magen. Und viele weitere Schläge folgen.
„Blake", wimmere ich verzweifelt seinen Namen. Warum ist er so kalt und herzlos? Er prügelt auf den Jungen ein, als würde sein Leben davon abhängen. So gerne ich auch einschreiten würde, ich traue mich nicht. Ich weiß nur eine Sache: Blake ist für mich gestorben. Endgültig!
„Verpfeifst du uns nochmal an die Bullen, bist du tot! Verstanden?", schiebt sich die emotionslose Stimme des Blondhaarigen über meine Gedanken. Er zieht den Rotschopf auf die Beine und schubst ihn dann Richtung Fluss. Der Junge stolpert und landet wenig später im kühlen Nass.
Erst jetzt sehe ich sein Gesicht. Sein linkes Auge ist bereits blau unterlaufen, seine Lippe aufgeplatzt und seine Nase blutet.
Blake ist ein Monster!
Ich kann nicht verhindern, dass mehrere Tränen über meine Wangen kullern. Wo ist der Junge geblieben, der mir in der Eisdiele so viel über sein Leben erzählt hat? Der gerne mehr Zeit mit mir verbringen wollte? Die Wahrheit ist hart, aber dieser Junge existiert gar nicht. Blakes wahre Identität ist die eines aggressiven Schlägers.
„Ich hoffe, du hältst jetzt endgültig deine Fresse!" Der Blondhaarige tritt nochmal auf den Jungen ein, ehe er über den Fluss springt und geradewegs auf mich zu kommt.
Panik breitet sich in mir aus. Wenn mich Blake hinter dem Dornenbusch kauern sieht, wird er eins und eins zusammenzählen und herausfinden, dass ich ihn beobachtet habe. Was dann mit mir geschieht, möchte ich mir gar nicht erst in meinen schlimmsten Albträumen ausmalen. Ob er mich auch schlagen würde?
Bevor ich noch mehr Zeit an meine Gedanken verschwenden kann, krabbele ich rücklings über die Wiese – natürlich darauf bedacht, dass mich Blake nicht sieht – und hocke mich an den Wegrand. Dort öffne ich schnell meinen Schnürsenkel und tue so, als müsste ich mir den Schuh neuzubinden. Ein besseres Ablenkungsmanöver fällt mir gerade nicht ein.
„Na, wenn das mal nicht unser kleiner Freak Lucy ist." Blake kommt mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen vor mir zum Stehen und schaut verachtend auf mich hinab. „Ich habe dich in der Schule vermisst. Es ist wirklich amüsant, dir bei deinen komischen Anfällen zuzugucken." Der Blauäugige macht übertriebene Zitterbewegungen, fasst sich dramatisch ans Herz und lässt sich dann auf die Wiese fallen.
„Hilfe! Hilfe! Ich bin bescheuert!", quietscht er mit verstellter Stimme. „Rette mich Shane! Ach ne, doch nicht. Blake ist viel heißer, auch wenn er ein Arsch ist. Aber alle Mädchen stehen auf Arschlöcher." Im ersten Moment bin ich so perplex, dass ich nicht antworten kann.
Was fällt ihm eigentlich ein? Nicht nur, dass er Witze über meine Panikattacken macht – nein – er stellt mich auch noch als hilfloses Mädchen dar, das total in ihn vernarrt ist. Wäre sein Charakter genauso schön wie sein Aussehen, dann wäre ich ihm sicherlich verfallen, aber da das nicht der Fall ist, verabscheue ich Blake. Sein Charakter macht ihn so unglaublich hässlich!
„Du doch auch, Lucy, oder?", hakt der Blauäugige belustigt nach. „Aber soll ich dir etwas sagen? Du hast deine Chance vertan. Ich biete dir nicht noch mal an, eine Freundschaft Plus mit mir zu führen. Pech gehabt." Er erhebt sich und kommt einen Schritt auf mich zu. Da ich es nicht wage, in seine Augen zu schauen, starre ich auf seine Fingerknöchel, die blutig und wund sind.
„Du sagst ja gar nichts mehr. Hat es dir etwa die Sprache verschlagen?"
„Lass mich einfach in Ruhe, Blake!"
„Süß, dass du das sagst. Es ist nur ziemlich komisch, dass du immer dort auftauchst, wo ich auch bin. Man könnte meinen, du bist so verliebt in mich, dass du mich sogar verfolgst." Blakes spöttisches Grinsen wird immer breiter. Es wundert mich, wie ein Mensch so gehässig und schadenfroh sein kann.
Irgendetwas muss in Blakes Leben vorgefallen sein, das ihn zu diesem Monster gemacht hat. Niemand wird so geboren – das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
„Du bist einfach nur zu bemitleiden, Blake", murmele ich und meine es auch ernst.
Ich habe Mitleid mit ihm. Wie tief ist er wohl gesunken, dass er sich mit Leuten wie Myron, die irgendwelche kriminellen Machenschaften am laufen haben, abgibt? Dass er Mädchen nach Strich und Faden verarscht? Dass er andere Menschen verprügelt? Blake braucht Hilfe, aber dafür ist es wahrscheinlich schon zu spät.
Gerade als ich denke, dass der Blondhaarige nichts mehr zu erwidern hat und ich aufstehen möchte, hält er mich am Arm zurück. Seine andere Hand legt er unter mein Kinn und dreht es so, dass ich gezwungen bin, ihn anzuschauen.
In seinen blauen Augen tobt ein Sturm.
„Ich glaube, du hast da etwas nicht richtig verstanden, Sawyer. Du bist diejenige, die zu bemitleiden ist. Verklemmt, naiv, hässlich, dumme Freundinnen, eine behinderte Missgeburt als Schwester, ein-"
Seine Worte machen mich so wütend, dass ich aushole und ihm eine Ohrfeige verpasse.
„Ach du Scheiße, tut das weh!", fluche ich und schüttele meine Hand. Wahrscheinlich habe ich gerade mehr Schmerzen als der Blondhaarige. „Hast du mich ernsthaft geschlagen?", fragt Blake fassungslos und streicht vorsichtig über seine Wange. Sein Blick trifft auf meinen und lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Da liegen so viel Hass und Wut in seinen Augen, dass mir übel wird. Trotzdem versuche ich mir meine Angst nicht anmerken zu lassen.
Blake hat die Ohrfeige verdient. Er kann mich so viel beleidigen, wie er möchte, aber bei meiner Familie und meinen Freundinnen hört der Spaß auf.
„Schade, dass ich das nicht auf Video habe", lacht er humorlos. „Die kleine Lucienne kann also doch austeilen. Das gefällt mir. Bestimmt würdest du im Bett auf Fesselspiele stehen." Das reicht mir. Ich muss mir sein dummes Gerede nicht noch länger anhören.
Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wo ich hingehen soll, um mich zu verstecken. Der Park bietet kaum Schutzflächen. Ich muss also hoffen, dass sich Blake endlich aus dem Staub macht und ich dem rothaarigen Jungen, der vermutlich immer noch im Fluss liegt, helfen kann. Wenn ihm niemand zur Unterstützung eilt, wird er erfrieren.
„Blake? Kannst du mich einfach in Ruhe lassen? Bitte. Du gehst mir aus dem Weg und ich dir, einverstanden?" Hoffnungsvoll schaue ich den Blauäugigen an, doch er grinst wieder nur amüsiert. Mit seinem geschwollenen Kiefer und den dunklen Schatten unter seinen Lidern sieht er in diesem Moment unheimlich gruselig aus.
„Dafür ist es schon zu spät, Lucy", haucht Blake und beugt sich mir langsam entgegen. Je näher er mir kommt, umso intensiver kann ich die Mischung aus Zigarettenqualm und Aftershave wahrnehmen. „Aber für heute hast du gewonnen. Ich werde jetzt gehen und das solltest du auch tun. Es ist nicht sicher hier draußen." Er streift kurz mit seinen Lippen über meine Wange und entfernt sich dann ruckartig von mir. Das Grinsen weicht ihm nicht aus dem Gesicht.
„Sei ehrlich. Für einen kurzen Moment hast du gehofft, dass ich dich küsse, oder?", fragt er.
„Nein. Ich habe einfach nur gehofft, dass jemand kommt und dich von mir wegzieht", erwidere ich und wische mir extra mit der Hand über meine Wange.
Blakes Berührungen sind nicht schön. Sie entfachen einen Strudel aus Angst in mir und lassen mein Herz stehenbleiben. Ständig muss ich darum bangen, ob er mir nicht vielleicht auch wehtut.
„Wir sehen uns, Lucy." Blake hebt zum Abschied die Hand und entfernt sich mit zügigen Schritten von mir. Nach ein paar Metern bleibt er allerdings noch ein letztes Mal stehen, sucht meinen Blick und sagt: „Ich weiß übrigens, dass du lügst. Dein schneller Herzschlag hat dich verraten." Dann verschwindet er wie ein Schatten in der Dunkelheit.
Sobald ich Blake nicht mehr sehen kann, fällt eine enorme Last von meinen Schultern. Ich kann wieder normal atmen und mein Herzschlag beruhigt sich. Vor allem aber verspüre ich keine Angst mehr.
Ich hocke noch ein paar Minuten am Wegrand und versuche die Geschehnisse der vergangenen Minuten zu verarbeiten, ehe ich mich erhebe und zu dem rothaarigen Jungen eile. Er liegt immer noch im Fluss und winselt leise. Sein Gesicht ist so verunstaltet, dass man kaum noch seine Augen sehen kann.
Es ist erschreckend, zu wissen, dass Blake dafür verantwortlich ist.
„Hey!", mache ich auf mich aufmerksam und knie mich vorsichtig neben den Jungen. „Hörst du mich?" Der Angesprochene öffnet langsam seine geschwollenen Augen und schaut mich an. „W-W-W-W."
„Pscht", ermahne ich ihn. „Du musst nichts sagen." Das Würgemal an seinem Hals sieht schlimm aus. Hoffentlich sind keine Organe beschädigt worden. „Komm, ich helfe dir." Ich reiche dem Jungen meine Hand und versuche ihn auf die Beine zu ziehen, aber ich bin zu schwach. „Du kannst hier nicht liegenbleiben, sonst erfrierst du noch. Wir müssen dich nach Hause oder in ein Krankenhaus bringen. Komm schon!"
Ich brauche noch fünf Anläufe, bis ich es endlich schaffe, den Jungen aus dem Fluss zu ziehen. Auch wenn es mich enorm viel Kraft kostet und ich kurz davor bin, zusammenzubrechen, lege ich seinen Arm um meine Schulter und stütze ihn. Während ich ihn nach Hause begleite, verlässt kein Wort unsere Lippen.
Mir brennen so viele Fragen auf der Zunge, doch ich schlucke sie allesamt runter.
Ich werde meine Antworten bekommen, denn früher oder später werde ich Blake zur Rechenschaft ziehen. Mal gucken, ob er dann immer noch so selbstbewusst ist.
„Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen."- Isaac Asimov
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