40 - Ende gut, alles gut
Ich habe mich schon häufig gefragt, ob die Zeit Flügel besitzt, doch konnte diese Frage nie beantworten. Jetzt beschränkt sich meine Antwort allerdings auf ein deutliches „Ja!".
Die Crossmeisterschaften, die Ende März ausgetragen wurden, liegen schon ganze drei Monate in der Vergangenheit zurück. Meine Schützlinge sind solide aufgetreten und haben in fast jeder Altersklasse die drei obersten Treppchenplätze belegt. Ich selber bin jedoch nicht gestartet, da ich mich für die Landesmeisterschaften vorbereiten musste.
Blake war so lieb und hat sich manchmal als mein Trainingspartner geopfert, seine Entscheidung aber nach dem Training bereut. Nach seinem ersten richtigen Muskelkater hat er dann doch lieber nur den Trainer gespielt.
Meine Eltern haben sich selbstverständlich über unsere Beziehung gefreut. Dad konnte sich ein „Ich hab's doch gewusst" nicht verkneifen und musste sich deswegen einem langen Gespräch mit Mum widmen.
Shane und ich gehen uns zwar immer noch aus dem Weg, aber wenn wir uns doch mal sehen sollten, schenken wir uns wenigstens ein Lächeln. Er braucht noch Zeit, um mir wieder in die Augen schauen zu können, doch das ist okay. Ich werde auf ihn warten und ihn mit offenen Armen empfangen. Er ist mir in all der Zeit ein guter Freund geworden, den ich gerne wieder an meiner Seite hätte.
Auch wenn ich momentan auf einen Freund verzichten muss, habe ich eine neue Freundin in Harper gefunden. Wir stehen tatsächlich immer noch in Kontakt und haben bereits ein Treffen in den Sommerferien in Aussicht. Ich bin gespannt, was sie zu meinen Freundinnen und vor allem zu Blake sagt.
Apropos Blake - er und Claire haben sich ausgesprochen und wieder vertragen. Trotzdem ist Blake noch etwas skeptisch, was ihre Loyalität betrifft.
Am dritten Mai - dem Tag, an dem ich siebzehn Jahre alt geworden bin - hat mich mein Freund zu Lucias Grab begleitet. Ich habe ihm alles erzählt - ihren Tod, meine Panikattacken, die Schuldgefühle - während er mich fest im Arm gehalten hat. Ich habe geweint und gelacht, doch das Wichtigste war, dass Blake bei mir war. Er hat mir Kraft gegeben.
Noch am selben Tag hat er einen Termin bei einer Psychologin vereinbart, die ich nun zweimal wöchentlich aufsuche. Es hilft mir enorm, über meine Ängste und Zweifel zu sprechen. Vermutlich hätte ich diesen Schritt viel eher wagen sollen.
Auch Blake ist einen großen Schritt in seinem Leben vorangekommen. Er lernt, mit seiner Persönlichkeitsstörung umzugehen und seine launischen Impulse zu kontrollieren. Außerdem hat er sich an einer Kunsthochschule beworben.
Blake hat in den letzten Monaten so viel für mich getan - er ist kaum von meiner Seite gewichen und hat mich immer und überall unterstützt. Unsere Liebe ist von Tag zu Tag gewachsen und tut es immer noch. Spätestens jetzt weiß ich, dass es richtig war, auf mein Herz zu hören und mich für ihn zu entscheiden. Ich musste seinetwegen in der Vergangenheit viel Kummer und Leid ertragen, aber diese Schmerzen haben mich stark gemacht.
Ich bin endlich ein selbstbewusstes Mädchen, das zu ihren Taten und Entscheidungen steht. Außerdem bin ich bereit dazu, für mein letztes Schuljahr auf eine Sportschule zu wechseln. Manchmal ist ein Neuanfang gar nicht schlecht und ich weiß, dass es Menschen gibt, auf die ich mich immer verlassen kann.
Roxy, May und Lee.
Meine Eltern und Chaya.
Harper und Shane.
Blakes Familie.
Und natürlich auf Blake.
Heute finden endlich die Landesmeisterschaften statt und somit ist das meine Chance, der Welt zu zeigen, wie gut ich bin.
„Viel Glück Babe, du schaffst das", raunt mir Blake zu, ehe er mich in eine Umarmung zieht. „Ich weiß, dass du die Beste bist und alle anderen abziehen wirst." Ungewollt überkommt mich ein breites Grinsen. Blake weiß einfach ganz genau, wie er mir meine Nervosität am besten nehmen kann. „Danke, Schatz", murmele ich und straffe meine Schultern.
Jetzt ist es also soweit - der wichtigste Wettkampf des Jahres steht an.
Tief ein- und ausatmend begebe ich mich zu der Startlinie, an der bereits meine neun Konkurrentinnen auf mich warten. Drei von ihnen kenne ich schon von anderen Wettkämpfen, die anderen sechs sind mir vollkommen fremd.
„Lucienne Sawyer - Bahn Eins." Ich warte nervös die Startaufstellung meiner Mitläuferinnen ab, bevor der Starter das Publikum um Ruhe bittet. Für einen Moment ist es so still, dass ich mein rasendes Herz hören kann.
„Auf die Plätze!" Ich bringe mich in Startposition und richte den Blick auf die Tartanbahn. Anstatt jedoch den Startschuss zu hören, hallt plötzlich ein lautes „Lucy gewinnt eh!" durch das Stadion. Obwohl sich Blake für diesen Spruch böse Blicke und eine Warnung einhandelt, beschert er mir mehr Selbstbewusstsein und ein Lächeln auf den Lippen. Ein Blick zu ihm genügt, um seine erhobenen Daumen zu sehen.
Genau dafür liebe ich diesen Idioten so sehr.
„Auf die Plätze!" Ich gehe erneut in die Startposition und atme tief ein. Ganz gleich was in den nächsten zwei Minuten passieren wird - ich habe einen tollen Freund, der hinter mir steht. Kaum habe ich diesen Gedankenzug vollendet, ertönt der Startschuss.
Vollgepumpt mit Adrenalin und Liebe laufe ich los - meine Konkurrentinnen gut im Blick habend. „Lucy! Lucy! Lucy!", übertönt Blakes Stimme die der anderen Zuschauer. Er gibt mir Kraft und lässt mich schneller laufen als je zuvor.
Obwohl meine Beine bereits nach der ersten Runde schmerzen und ich von acht Gegnerinnen den Rücken sehen kann, werde ich nicht langsamer. Ich versuche mein Tempo zu halten. Versuche noch schneller zu werden. Versuche für Blake gut zu sein.
„Ich liebe dich, Lucy!", dröhnt seine Stimme durch sein Megaphon zu meinen Ohren hindurch, sodass ich zweihundert Meter vor dem Ziel zum Schlusssprint ansetze. Ich blende alles um mich herum aus und lasse mich von Blakes Stimme leiten. Auch wenn er nicht mitläuft, habe ich das Gefühl, dass er mich begleitet. „Komm schon, Lucy!"
Die letzten Meter sind geschafft und die Uhr bei einer neuen Bestzeit angehalten. Ich lasse mich erschöpft und glücklich zugleich auf die Bahn fallen und versuche meine Atmung zu kontrollieren. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, den dritten Platz bei den Landesmeisterschaften über achthundert Meter zu erreichen.
„Lucy, das war der Wahnsinn! Taktisch sehr klug! Super!", kreischt meine Trainerin begeistert und tätschelt mir über den Kopf. Gewöhnlich überhöre ich ihre Stimme nie während eines Wettkampfes, aber heute habe ich sie ausgeblendet. Ich habe nur Blake wahrgenommen. „Da-Danke", japse ich nach Luft und setze mich langsam auf.
Wo ist Blake?
Sogleich ich meinen Gedankengang vollendet habe, steht er auch schon mit einem breiten Grinsen auf den Lippen vor mir. „Zieh dir etwas über, Babe. Die ganzen Typen hier gaffen dich schon an", zwinkert er mir zu und haucht mir einen Kuss auf die Stirn. „Wasser!", keuche ich nur, was Blake zum Lachen bringt. „Alles, was du willst, Baby." Mit diesen Worten zieht er sich sein T-Shirt über den Kopf und hilft mir, sein Shirt anzuziehen.
Oberkörperfrei und über mein weißes Kleid schmunzelnd, legt er seine Hände unter meinen Rücken und meine Kniekehlen und trägt mich im Brautstyle von der Tartanbahn. „Platz da! Meine Freundin hat Durst!", lacht er, sodass seine Brust an meinem Kopf vibriert.
Zum ersten Mal seit langer Zeit ist es mir egal, dass hunderte von Augenpaaren auf mich gerichtet sind. Es ist mir egal, was die Leute hier im Stadion denken und es ist mir egal, was die Leute vor ihren Fernsehern denken. Alles was zählt, ist dieser Moment mit Blake. Ein Moment, den ich nie vergessen werde.
„Hier Prinzessin, nur das beste Wasser für dich", scherzt der Blondschopf ein paar Sekunden später, als er mich auf der Tribüne neben meinem Rucksack absetzt. Grinsend durchwühlt er diesen, öffnet die Wasserflasche und reicht sie mir dann. „Danke", lächele ich ihn an, ehe ich die Flüssigkeit meinen Rachen hinabrinnen lasse.
Ich bin wirklich froh, dass Blake mitgekommen ist. Eigentlich wollten meine Eltern auch mitkommen, aber Chaya ist leider kurzfristig krank geworden, weswegen sie dann doch zu Hause geblieben sind.
„Soll ich dir auch noch die Schuhe ausziehen, Baby?"
„Wenn du schon so lieb fragst, dann ja", kichere ich und lege mein rechtes Bein auf Blakes Schoß. Er fummelt geduldig die vielen Knoten auf und zieht mir beide Spikes aus. „Puh. Deine Füße stinken", kommentiert er meine nassgeschwitzten Sportsocken und hält sich spielerisch die Nase zu. „Du stinkst auch, Blake", ärgere ich ihn, sodass er unter seinen Armen riecht.
„Nein, ich stinke definitiv nicht. Ich rieche verdammt gut." Lachend wuschele ich ihm durch die Haare und möchte mir gerade sein T-Shirt ausziehen, da hält er mich auch schon zurück. „Ne ne, Baby. Das T-Shirt lässt du schön brav an. Hier sind viel zu viele Typen, die deinen heißen Body abchecken."
„Ich möchte aber duschen gehen, Schatz. Die Siegerehrung ist in einer halben Stunde und bis dahin möchte ich wieder einigermaßen akzeptabel aussehen", rechtfertige ich mich vor ihm und schultere meinen Sportrucksack. „Na gut. Ich begleite dich aber noch bis zu den Duschen."
Es kostet mich enorm viel Überredungskunst, damit mich mein Freund alleine in die Duschen gehen lässt. Er ist so fürsorglich und liebevoll, dass mir eine Gänsehaut über das Rückgrat tanzt. Wir sind nun schon vier Monate zusammen und ich bereue nichts. Alles ist perfekt.
Meine Gedanken an Blake begleiten mich noch bis zur Siegerehrung. Wir laufen zu dem Lied We are the Champions zu dem Siegertreppchen und bleiben nebeneinanderstehen. Der Moderator beginnt mit dem zehnten Platz und arbeitet sich langsam zu den vorderen Platzierungen.
„Und auf dem dritten Platz...", beginnt er zu reden. „...ist meine Freundin Lucienne Sawyer!" Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke, als ich sehe, dass Blake dem Moderator einfach das Mikrofon weggenommen hat. Dieser beschwert sich natürlich, aber wer meinen Freund kennt, weiß ganz genau, dass ihn das herzlichst wenig interessiert. Dafür interessiert es mich umso mehr, wie er an den Sicherheitsleuten vorbeigekommen ist.
„Lucy hat so hart für diesen Tag trainiert. Sie hat ihr Ziel nie aus den Augen verloren und stets für ihre Träume gekämpft. Sie hat es verdient, dort oben zu stehen." Da ich nicht weiß, was ich machen soll, steige ich mit zittrigen Beinen auf das dritte Treppchen und lächele in die Kamera. Heute ist tatsächlich ein großer Traum für mich in Erfüllung gegangen.
„Ich muss nur noch kurz ein paar Worte loswerden, bevor die Siegerehrung weitergehen kann und ich mir meine verdiente Strafe abhole", lacht Blake und verankert unsere Blicke miteinander. Seine Pupillen sind von Liebe verschleiert.
„Es gab Zeiten, da war ich absolut scheiße zu meiner Freundin. Ich habe sie belogen und indirekt sogar betrogen." Ein bestürztes Raunen geht durch das Publikum. „Vielleicht habe ich das getan, weil ich überfordert war - keine Ahnung. Ich kannte dieses Herzrasen nicht. Ich wusste nicht, wo ich diese wohltuende Wärme und dieses verdammte Bauchkribbeln einordnen sollte. Weil ich so überfordert war, habe ich sie von mir gestoßen."
Der Blauäugige tritt einen weiteren Schritt auf mich zu. „Aber Lucy ist eine Kämpferin. Sie hat für mich - nein, sie hat für uns gekämpft! Und gesiegt. Ich liebe dieses verrückte Mädchen." Er lässt das Mikrofon zu Boden gleiten und küsst mich stürmisch. Glückstränen kullern über meine Wangen und vermischen sich mit der hitzigen Leidenschaft.
„Ihr Herz besteht aus Papier. Ein falsches Wort und es zerreißt", spricht Blake nach unserem Kuss weiter. „Wer auch immer ihr Herz brechen wird - dem werde ich alle Knochen brechen."
Ich schüttele sprachlos den Kopf und lasse die restliche Siegerehrung wie in einem Rausch an mir vorbeiziehen. Ich habe nur Augen für Blake. Für den Jungen, den ich liebe.
„Ich hoffe, dass ich irgendwann auch meinen persönlichen Troy finde", murmele ich gegen Ende des Films schläfrig und lasse meine Augenlider zuflattern. „Du wirst ihn finden, Lucy. Da bin ich mir ganz sicher."
Blake hat nicht gelogen. Er ist mein Troy, weil ich seine Gabriella bin.
„Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich."- Hermann Hesse
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