4 - Wunden der Vergangenheit
„Friends!", kreischt Leia am nächsten Tag aufgeregt, als sie in das Klassenzimmer gestürmt kommt. Ihre Augen funkeln vor Freude. „Ihr glaubt nicht, was gerade passiert ist!", ruft sie und klatscht in die Hände. Mindestens die halbe Klasse beobachtet sie nun.
„Du musstest nicht nur dein kleines, sondern auch dein großes Geschäft auf dem Klo verrichten, aber es gab kein Toilettenpapier mehr?", zuckt Mayleen fragend mit den Schultern. Für einen kurzen Moment herrscht peinliches Schweigen, ehe sich Leia wieder gefasst hat und ihr gegen den Oberarm boxt. „Oh Gott, nein! Nein, nein, nein!", verhaspelt sie sich. „Ihr dürft nochmal raten."
„Hm. Du bist auf der Jungentoilette gelandet, statt auf dem Mädchenklo?", äußert sich nun Roxana und wischt sich die ersten Lachtränen von den Wangen. „Ich hab's!", springe ich auf. „Das Schloss war mal wieder kaputt und plötzlich stand jemand in der Kabine, während du noch auf dem Klo saßt." Leia schüttelt mit dem Kopf. Dann breitet sich ein Grinsen auf ihren Lippen aus.
„Ratet mal, wer mir zugezwinkert und mich angelacht hat?!"
„Ayden", seufzen wir im Einklang und verdrehen die Augen. So langsam ist Leias Schwärmerei echt nicht mehr auszuhalten. Ayden hier, Ayden da, Ayden überall. „Ich glaube, ich weiß, warum er das getan hat", murmelt Roxy und legt einen mitleidigen Blick auf. „Außerdem wird er dich nicht angelacht, sondern ausgelacht haben." Sichtlich verwirrt schaue ich meine Freundin an. Was meint sie damit?
„Ist ja wohl logisch. Er steht auf mich!", freut sich Leia und stößt einen verliebten Seufzer aus. „Äh, nicht ganz", druckst Roxy herum. „Du hast einen Blutfleck auf deiner Hose."
„Ach du Scheiße!", schlägt sich Lee die Hände vor den Mund und kämpft gegen ihre Tränen an. Es tut mir leid, dass sie sich immer in so unangenehme Situationen bringt. „Warum habt ihr mir das denn nicht früher gesagt, Leute? Oh man, ich habe mich total lächerlich gemacht."
„Ich habe es gerade erst gesehen, Lee, sorry. Aber immerhin wirst du Ayden damit in Erinnerung bleiben."
Nachdem sich Leia wieder einigermaßen beruhigt und meine Strickjacke um die Hüfte gebunden hat, machen wir uns ganze zehn Minuten zu spät auf den Weg zur Sporthalle. Auch wenn ich sehr sportlich bin, hasse ich den Sportunterricht. Das liegt vermutlich daran, dass wir nur Volleyball spielen und ich mich dabei so ungeschickt anstelle, dass ich mir jedes Mal die Finger verstauche.
„Hey, Mayleen! Hast du eventuell 50 Cent für mich?", schreit ausgerechnet Ayden über den Schulhof. Meine Freundinnen und ich bleiben stehen und drehen unsere Köpfe synchron in die Richtung der Raucherecke.
Warum sind Ayden, Myron, Damian, Fayn, Shane und Blake noch nicht im Unterricht? Ich wage es nicht, Letztgenanntem in die Augen zu schauen und lächele stattdessen Shane zu. Er ist ein lieber Junge.
„Ich lade dich auch morgen zum Essen ein", beendet Ayden schließlich seinen blöden Spruch, was zur Folge hat, dass May genervt den Kopf schüttelt und uns aus dem Sichtfeld der Jungs zieht. „Der hat ja wohl einen kompletten Dachschaden", zetert sie sogleich los und verdreht die Augen. „Weiß er etwa nicht, dass ich einen Freund habe?"
Mayleen und ihr Freund Toby sind das Traumpärchen Nummer eins. Obwohl er bereits einundzwanzig und sie erst siebzehn Jahre alt ist, passen sie perfekt zusammen. Kennengelernt haben sie sich vor ungefähr zwei Jahren beim Motorsport und wurden ein halbes Jahr später ein Paar.
„Ärgere dich nicht über, Ayden. Er ist es nicht Wert", versuche ich May zu beruhigen und lege ihr einen Arm um die Schulter. Ich kann verstehen, dass sie genervt ist, immerhin wird sie am Tag von mindestens drei Jungs blöd angequatscht. „Hey! Ayden ist toll!", protestiert Leia sofort und grinst.
Als uns ein paar Minuten später niemand die Tür zur Sporthalle öffnet, beschließen wir, den Unterricht zu schwänzen. Natürlich könnten wir auch einfach nochmal klingeln, aber irgendwie hat keiner so richtig Lust auf Volleyball.
„Wollen wir uns in die Mensa setzen?"
„Ich bin dafür, dass wir draußen bleiben", schlägt Leia mit einem verliebten Lächeln vor und wirft einen verstohlenen Blick Richtung Raucherecke. Hoffentlich lässt ihre Schwärmerei für Ayden bald nach.
„Ja, meinetwegen", stimmt Roxy ihrem Vorschlag zu. „Dann kann ich wenigstens mal wieder mit Fayn reden. Anscheinend hat er vergessen, dass er eine Freundin hat." Ohne auf Mays und meine Meinung zu warten, tritt sie gemeinsam mit Leia den Weg zu den sechs Jungs an.
Ehrlich gesagt ist es mir bis heute noch ein Rätsel, warum Roxy und Fayn zusammen sind. Meine Freundin ist fröhlich, offen und herzensgut, wohingegen Fayn eingebildet und egoistisch aus. Außerdem musste er schon einige Sozialstunden wegen Diebstahles abarbeiten und ist bereits fremdgegangen.
Ich würde niemals mit so einer Person zusammen sein können. Ich weiß, dass mein Dad meine Mum auch schon einmal betrogen hat, allerdings wurde er zuvor unter Drogen gesetzt und war handlungsunfähig. Zum Glück konnte die Polizei die Frau finden, die meinem Vater etwas ins Getränk gemischt hat.
Ich bin so sehr in meinen Gedanken vertieft, dass ich viel zu spät realisiere, dass May ebenfalls zu der Raucherecke geht und stattdessen nun Blake vor mir steht. Seine blauen Augen starren mich neugierig an, doch ich bin nicht in der Lage irgendeine Reaktion zu zeigen. Die Tatsache, dass er mich gestern in der Stadt wegen eines anderen Mädchens ignoriert hat, verletzt mich mehr, als sie es sollte.
„Hallo, Lucy", begrüßt mich Blake schließlich. „Warum bist du gestern einfach abgehauen?" Obwohl mich diese Frage nicht überraschen sollte, trifft sie mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich kann ihm auf keinen Fall die Wahrheit sagen. „Ähm", kratze ich mich unwohl am Hinterkopf. „Ich habe vergessen, dass ich noch einen Zahnarzttermin hatte."
Innerlich ohrfeige ich mich für diese schlechte Ausrede, aber nach außen versuche ich überzeugend zu wirken.
„Einen Zahnarzttermin? Etwas Besseres fällt dir nicht ein, Lucy?" Blake schnaubt spöttisch. „Ich find's ehrlich gesagt ziemlich scheiße, dass du einfach ohne ein Wort zu sagen abgehauen bist. Ich wollte dir Claire vorstellen und noch etwas mit dir unternehmen, aber du hattest ja anscheinend kein Bock mehr. Sag's das nächste Mal einfach direkt, wenn ich dich abfucke. Dann kann ich mir den ganzen Zirkus auch sparen."
Seine Worte überraschen mich. Blake wirkt immer so kühl. So, als würde ihn nichts interessieren und als wäre ihm alles gleichgültig. Doch ich habe mich getäuscht. Er fühlt mehr, als er zeigt.
„Tut mir leid", murmele ich schuldbewusst und senke den Blick. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Blake das Treffen gefallen hat und er noch mehr Zeit mit mir verbringen wollte. Für mich hat es den Anschein gemacht, dass er mit dem anderen Mädchen viel glücklicher war und mich vergessen hat.
So sehr kann man sich also in einem Menschen täuschen.
„Mehr hast du nicht zu sagen? Irgendwie habe ich dich anders eingeschätzt, Lucy", meint Blake. „Ist es vielleicht einfach deine Art, andere Leute im Stich zu lassen?"
Sofort fliegen meine Gedanken zu Lucia.
„Macht es dir Spaß, sie alleine zu lassen?"
Lucia ist im Himmel. Ich bin auf der Erde. Wir sind beide alleine.
„Du warst diejenige, die mich unbedingt treffen wollte, Lucy. Anscheinend bist du eine gute Lügnerin."
Nein!
„Respekt. Du bist wirklich gut darin, andere Menschen zu enttäuschen."
Stimmt das? Bin ich eine Enttäuschung? Hätten meine Eltern gewollt, dass Lucia überlebt?
Ich kann es nicht verhindern, dass mehrere Tränen über meine Wangen kullern und mir die Luft abschnüren. Eine Enttäuschung. Ich bin eine Enttäuschung.
„Jetzt heulst du? Wow. Was anderes kannst du nicht, hm?"
Meine Hände zittern. Ich schluchze. Meine Gedanken überschlagen sich. Glasperlen rauben mir die Sicht. Ich sinke zu Boden.
„Bist du gestört oder was ist jetzt los? Gut, dass ich dem Treffen eh nur zugestimmt habe, um Shane eifersüchtig zu machen. Du bist ein Freak, Lucy, und besonders hübsch bist du auch nicht."
Mein Herz zieht sich zusammen. Ich kann nicht mehr atmen.
„Meine Fresse, mach nicht so eine Show und steh wieder auf!"
Ich kann nicht. Mein Körper bebt und kämpft dagegen an, sich nicht von der Finsternis umhüllen zu lassen. Ich habe eine Panikattacke. Mir wird übel und ich muss mich erbrechen.
„Okay, das ist gruselig. Alles okay, Lucy? Kann ich dir helfen?"
Blakes Stimme entfernt sich immer weiter von mir. Er verschwimmt zu einem schwarzen Farbklecks.
Ich habe solche Angst. Angst, unerwünscht zu sein. Angst, Lucia getötet zu haben. Angst, ihr ihren rechtmäßigen Platz auf der Erde weggenommen zu haben. Angst, nicht leben- und liebenswert genug zu sein. Angst, vergessen zu werden.
„Hey! Du musst atmen!"
Ich kann nicht. Meine Lunge brennt.
„Lucy! Atme! Scheiße!"
Ich merke, wie meine Augenlider zuflattern und mich die Dunkelheit mit offenen Armen empfängt.
„Ich brauche Hilfe! Hilfe!"
-
Als ich meine Augen wieder öffne, hocken Mayleen, Leia und Roxy neben mir. Sie schauen mich besorgt an und helfen mir vorsichtig beim Aufstehen. In diesem Moment wünschte ich, dass uns jemand die blöde Tür zur Sporthalle geöffnet hätte. Ein paar verstauchte Finger wären deutlich angenehmer gewesen, als meine Panikattacke.
„Wie geht's dir, Lucy?", fragt May unsicher. „Ich dachte, du hättest nicht mehr so oft Panikattacken." Das war gelogen. Meine Panikattacken werden immer schlimmer und die Zeiträume dazwischen immer kürzer. „Es geht schon wieder. Macht euch keine Sorgen", versuche ich meine Freundinnen zu beruhigen. „Wo ist Blake?"
„Wir haben ihn weggeschickt."
„Danke."
Der restliche Schultag ist für mich gelaufen. Nach meiner Panikattacke bringt mich Roxy nach Hause. Ich bewege mich nicht mehr aus meinem Bett und starre bloß wie ein Zombie an die weiße Zimmerdecke. Vielleicht ist es an der Zeit, tatsächlich eine Psychologin aufzusuchen. So wie es mir meine Eltern schon vor vier Jahren geraten haben.
Ich war gerade mal zwölf Jahre alt, als sie mir von Lucia erzählt haben. Meine Welt ist zersplittert und seither versuche ich aus all den Scherben etwas Neues zu erschaffen.
„Lucy, es hat geklingelt! Gehst du bitte aufmachen? Ich bin im Badezimmer!", höre ich meine Mutter am späten Nachmittag nach mir rufen. Ich habe weder ihr noch meinem Vater erzählt, was heute in der Schule vorgefallen ist. „Ja, mache ich!" Genervt lege ich mein Handy bei Seite und jogge die Treppenstufen zur Haustür hinunter. Wahrscheinlich mal wieder der Postbote oder der Nachbarsjunge, der sich ausgesperrt hat.
Lustlos öffne ich die Haustür und möchte gerade ein Lächeln aufsetzen, da erstarre ich auch schon in meiner Position.
Blake? Was macht er hier und woher weiß er, wo ich wohne?
„Oh", entfährt es mir. „Hallo." Der Blondhaarige schenkt mir sein breites Zahnpastalächeln, ehe er seine Augen über meinen Körper wandern lässt. „Netter, ähm, netter Kleidungsstil", kratzt er sich amüsiert am Kopf, weswegen ich peinlich berührt an mir hinabschaue.
Ed Sheeran Fan Shirt, Jogginghose und Wollsocken mit Weihnachtsbäumen. Dazu habe ich einen unordentlichen Dutt auf dem Kopf, bin ungeschminkt und trage eine Brille. Blake ist der Letzte, der mich so sehen sollte.
„Was machst du hier?", lenke ich seine Aufmerksamkeit wieder auf meine Augen. „Na ja, ich wollte schauen, wie es dir geht. Und ich wollte mich entschuldigen. Es war nicht fair, was ich dir alles an den Kopf geworfen habe." Ich nicke. „Eigentlich wollte ich noch fragen, ob wir etwas unternehmen wollen, aber hätte ich gewusst, wie du aussiehst, wäre ich nicht vorbeigekommen."
Blake Archer ist und bleibt ein verdammtes Arschloch.
„Dann kannst du ja wieder gehen", erwidere ich wütend und blinzele gegen die aufkommenden Tränen an. Warum ist Blake so gemein? Heute Morgen hatte ich noch das Gefühl, dass er mich mag, aber davon ist mittlerweile nichts mehr übriggeblieben. „Na gut, Lucy. Morgen gibt es dich ja wieder in schön", verabschiedet sich der Blondhaarige von mir und macht auf dem Absatz kehrt. Ich schaue ihm noch so lange hinterher, bis er als kleiner Punkt in der Ferne verschwindet.
Warum mischt er sich überhaupt in mein Leben ein? Ich möchte nichts mit diesem Jungen zu tun haben!
Den restlichen Tag verbringe ich mit Chaya zusammen. Wir spielen gemeinsam mit ihren Barbiepuppen und helfen Mama bei der Zubereitung für das Abendessen.
Eigentlich dachte ich, dass mein Verhalten niemandem auffallen würde, doch Dad kommt nach dem Essen in mein Zimmer und legt sich neben mich in mein Bett. Auch wenn ich die ganze Zeit schweige, zwingt er mich nicht zum Reden. Er hält mich bloß in seinen Armen und streichelt mir über den Kopf.
„Ich weiß, dass wir dich in den letzten Jahren ziemlich vernachlässigt haben, Lucy. Du musstest schneller erwachsen werden, als andere Kinder", beginnt mein Vater schließlich doch noch zu sprechen. „Wir haben uns die meiste Zeit um Chaya gekümmert und dich alleine gelassen. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du immer mit uns reden kannst. Deine Mutter und ich lieben dich, Lucy."
Ich nicke dankbar. Dad hat mit allem Recht, doch das nehme ich ihm nicht übel. Chayas Down Syndrom hat nun mal Vorrang. „Mir geht es gut, Dad", schlucke ich all meine zerreißenden Gedanken und Gefühle hinunter. Er sieht, dass ich lüge, belässt es aber dabei.
„Und wie läuft es momentan in der Schule?" Unbewusst trifft er mit seiner Frage genau ins Schwarze. In der Schule läuft alles drunter und drüber. „Bis auf Bio ganz gut", lüge ich erneut und zwinge mich zu einem Lächeln.
„Weißt du, ich kann verstehen, dass du in deinem Alter nicht mehr über alles mit deinen Eltern reden möchtest, aber rede wenigstens mit deinen Freundinnen über deine Probleme. Du kannst mir nämlich nicht erzählen, dass es dir gutgeht. Ich sehe, dass du lügst." Dads Blick ist voller Sorge. Es ist derselbe Blick, der sich jedes Mal auf seinem Gesicht abzeichnet, wenn ich eine Panikattacke habe. „Mach dir keine Sorgen, Dad. Ich habe dich lieb", lächele ich dieses Mal aufrichtig und hauche ihm einen Kuss auf die Wange.
An diesem Abend liege ich noch lange wach. Ich lasse den Tag ungefähr hundertmal Revue passieren und weiß selber nicht, warum. Ich erinnere mich an Blake, an die Panikattacke und wieder an Blake.
Eigentlich hat alles mit ihm angefangen. Hätte er nicht dafür gesorgt, dass ich einen Krankenhausbesuch umgehen kann, wäre alles anders gekommen. Ob besser oder schlechter weiß ich nicht. Doch eine Sache weiß ich ganz genau.
Ich brauche diesen Jungen nicht in meinem Leben!
„Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt."- Ingmar Bergman
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