28 - Herzschmerz
Als ich am nächsten Morgen aufwache, muss ich mich zunächst selber davon überzeugen, dass der gestrige Abend real war und nicht meiner Fantasie entsprungen ist. Blakes Jogginghose und meine verdreckten Schuhe sind der Beweis dafür, dass ich mir das alles nicht nur eingebildet habe.
Er hat mich tatsächlich geküsst. Dreimal. Sofort schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen und ich kann spüren, wie meine Augen zu leuchten beginnen. Ich bin so unglaublich glücklich!
Gut gelaunt hopse ich in die Küche hinab und finde meine Eltern am Esstisch vor. Chaya sitzt ebenfalls auf ihrem Kinderstuhl und leckt sich die Finger ab. „Einen wunderschönen guten Morgen", säusele ich und hauche meinen Eltern einen Kuss auf die Wange. Sie lassen synchron ihre Zeitungen sinken und starren mich an – mein Vater wissend und meine Mutter überrascht.
„Wow", murmelt Mum sarkastisch. „Heute mal mit dem richtigen Fuß zuerst aufgestanden?" Anstatt mich über ihre Worte zu ärgern, nicke ich. Nichts und niemand kann mir meine gute Laune nehmen. „Wie war der DVD-Abend mit Blake, Schätzchen?" Ich kann es nicht verhindern, dass sich meine Wangen rot färben und mein Lächeln noch breiter wird.
Gestern war der schönste Tag meines Lebens!
„Wir haben uns geküsst", falle ich direkt mit der Tür ins Haus und warte gespannt auf die Reaktionen meiner Eltern. „Ihr habt euch geküsst?", wiederholt Mum meine Worte und stellt ihre Kaffeetasse auf dem Tisch ab. „Ja und es war wunderschön. Er hat mich ganz romantisch unter dem Sternenhimmel geküsst und im Hintergrund lief Musik. Es war so perfekt", schwärme ich und seufze.
Wenn ich mich daran erinnere, dass Mayleen ihren ersten Kuss im betrunkenen Zustand hatte, dann habe ich eindeutig das bessere Los gezogen.
„Ich wusste, dass er dich nicht laufen lässt. Schlauer Junge", zwinkert mir Dad zu und drückt meine Hand. Ich bin überrascht, dass er es so gelassen nimmt und nicht den Beschützer raushängen lässt. „Ich glaube es nicht. Meine kleine Lucy wird endlich erwachsen", murmelt Mum und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Es ist schön, zu sehen, dass sich die beiden so sehr für mich und mein Glück freuen. Als würde Chaya verstehen, worüber wir gerade reden, gibt sie begeisterte Laute von sich und klatscht in ihre Händchen.
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„Erzähl uns alles!", quiekt Mayleen aufgeregt, als wir uns wie am Vortag zu viert in meinem Zimmer versammeln. Wir sitzen auf dem Boden und essen Schokoladeneis mit Sahne. „Es gibt nichts zu erzählen, Leute", versuche ich möglichst gleichgültig zu klingen, aber mein Grinsen verrät mich. „Wenn nichts passiert wäre, würden wir nicht an einem Sonntagmorgen um zehn Uhr in deinem Zimmer hocken und kiloweise Eis in uns hineinschaufeln", verdreht Leia ihre Augen und schüttelt den Kopf. May und Roxy geben zustimmende Schmatzgeräusche von sich.
„Okay, ist ja gut", beginne ich. „Er hat mich geküsst."
Wir verfallen in einen Kreischanfall und hämmern mit den Händen auf den Boden. Gut, dass meine Eltern mit Chaya zu Oma und Opa gefahren sind. „Ich wusste es!", ruft Roxy und umarmt mich stürmisch. „Wie war es?"
„Wunderschön!"
„Bitte nicht so viele Details auf einmal", murrt Mayleen sarkastisch und wippt ungeduldig vor und zurück. „Er hat mich nach draußen auf seinen Balkon geführt und mich dann unter dem Sternenhimmel geküsst."
„Aw, wie süß."
„Und im Hintergrund lief Thinking out loud von Ed Sheeran."
„Oh mein Gott!"
„Was sind das denn bitte für krasse Goals?!"
„Ist sonst noch etwas passiert?"
„Na ja", grinse ich. „Irgendjemand hielt es wohl für sinnvoll, ein Feuerwerk zu veranstalten und dann haben wir uns halt nochmal geküsst."
„Süßer geht es echt nicht mehr", quietscht Lee und strahlt mich an. „Dann sind wir zu einer leerstehenden Firma gefahren und haben Graffitis gesprüht. Aber psst", raune ich verschwörerisch. „Auf jeden Fall hat mir Blake dann seine Graffitis gezeigt und auf einem waren wir beide zu sehen – wie er sein Herz aus der Brust gerissen und mir dieses hingehalten hat." Meine Freundinnen kreischen erneut und ziehen mich in eine Gruppenumarmung. Die drei Idiotinnen sind einfach die Besten!
„Seid ihr jetzt offiziell zusammen?", möchte Roxy wissen und schaut mich an. „Keine Ahnung", gebe ich zu. „Wir haben nicht darüber gesprochen." Ich denke, dass das alles seine Zeit brauchen wird und wir nichts überstürzen sollten. Außerdem möchte ich Blake nicht mit einer Beziehung überrumpeln.
„Das kommt schon noch", muntert mich May auf, indem sie meine Schulter tätschelt. „Bestimmt lässt er sich wieder so etwas Romantisches einfallen."
„Wie ist das denn noch zu toppen?" Mein Blick wandert automatisch zu den Ed Sheeran Konzertkarten. „Das Konzert ist schon in zwei Wochen. Vielleicht fragt er mich ja dort", fantasiere ich und zucke mit den Schultern. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich überraschen zu lassen.
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Meine Handyuhr springt gerade von 12:59 Uhr auf 13:00 Uhr um, als ich die Haustür hinter mir schließe. Roxy, May, Lee und ich haben noch Musik gehört, über die ein oder andere Person gelästert – typisch Mädchen, ich weiß – und Pfannkuchen gemacht. Ich bin wirklich froh, dass wir diesen unnötigen Streit hinter uns lassen konnten und jetzt wieder alles so ist, wie vorher. Mit der einzigen Ausnahme, dass ich nicht mehr die Unerfahrene in unserem Bunde bin. Jetzt hatten wir zumindest schon alle unseren ersten Kuss.
Ich eile zufrieden in mein Zimmer zurück und verpacke Blakes nachträgliches Weihnachtsgeschenk. Ich habe ein Foto von uns auf Facebook gefunden, auf dem wir zusammen auf der Silvesterparty tanzen. Ich habe es ausgedruckt, eingerahmt und mit einem Kinogutschein versehen. Ziemlich einfallslos, aber mein Budget hat nicht mehr hergegeben. Außerdem sollte der Wert des Geschenkes keinen Stellenwert einnehmen. Der Fokus liegt darauf, dass wir Zeit zusammen verbringen.
Nachdem das Geschenk verpackt ist, schlüpfe ich in wettertaugliche Kleidung und verstaue Blakes Jogginghose in meiner Handtasche. Ich habe keine Garantie, dass er gleich zu Hause ist, aber wenn ich ihn überraschen möchte, muss ich dieses Risiko eingehen.
Auf dem Weg zu seiner Wohnung begegne ich Shane. Der Blondhaarige wechselt einen kurzen enttäuschten Blick mit mir, ehe er weitergehen möchte. Ich hebe eine Braue und rufe seinen Namen: „Shane!" Tatsächlich verharrt er in seiner Position und dreht sich dann zu mir um. Tränen schwimmen in seinen Augen.
„Was willst du, Lucy?", fragt er mich verletzt und senkt den Blick. Sein äußeres Erscheinungsbild bringt mich so sehr aus der Fassung, dass ich kein Wort über die Lippen bekomme. Er sieht schlimm aus. Müde, erschöpft und ausgelaugt.
Was hat sich bloß zwischen uns geändert?
„Übrigens", haucht Shane. „Viel Glück. Glaub mir, du wirst es brauchen." Ehe ich mich aus meiner Starre lösen kann, ist der Blondschopf auch schon hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. Ich werde ihm heute noch einen Besuch abstatten und ein Gespräch mit ihm suchen. Ich kann nämlich nicht länger dabei zusehen, wie unsere Freundschaft wegen eines Grundes, den ich gar nicht kenne, zerbricht.
Aber erstmal überrasche ich Blake. Je näher ich seiner Wohnung komme, desto schneller verblassen die Gedanken an Shane. Mein Herzschlag beschleunigt sich und schickt Stromschläge durch meinen Körper. Gleich werde ich Blake wiedersehen und endlich seine Lippen auf meinen spüren. Ich vermisse diese Hitze, die bei jedem unserer Küsse in mir aufgestiegen ist und mich beinahe um den Verstand gebracht hat.
Ich erreiche das Hochhaus und atme tief ein. Sobald ich gleich in Blakes Augen versinken werde, wird die Nervosität – die mich gerade innerlich ausrottet – verpuffen. Ich steige die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinauf und halte vor seiner Tür inne. Soll ich ihn mit einem Kuss begrüßen oder lieber abwarten, was er macht? Meine Hand nähert sich wie von selbst der Klingel, doch sinkt blitzschnell wieder hinab.
Ein Stöhnen dringt zu meinen Ohren hindurch. Es ist nicht richtig, zu lauschen und dennoch presse ich mein Ohr gegen die Haustür. Ich höre ein Quietschen, gefolgt von einem Stöhnen. Was treibt er bloß da drinnen?
„Härter Blake!"
Die beiden Worte ziehen mir den Boden unter den Füßen weg, sodass ich an der Tür hinabrutsche. Ich drücke meine Hand auf meinen Mund, um die aufkommenden Schluchzer zu dämpfen, und versuche, die Tränen zurückzuhalten. Das war eindeutig eine weibliche Stimme. „Oh ja! Genau so!", kreischt das Mädchen erregt. Kurz darauf ertönt wieder Blakes Stöhnen. „Sa-Sabrina", keucht er ihren Namen.
Es ist wie ein Schlag in die Magengrube, nur schmerzhafter und mitten ins Herz. Die Glasperlen, die über meine Wangen strömen, rauben mir die Sicht und die Luft zum Atmen. Wie kann Blake mir das nur antun? Gestern küsst er mich noch und heute vergnügt er sich mit einer anderen im Bett?
Mein Körper steht unter Strom und zeigt keinerlei Regung. Ich habe ihm vertraut. Scheiße, warum war ich so blöd und habe ihm geglaubt? Es ist nicht mal vierundzwanzig Stunden her und schon hat er sein Versprechen – mein Herz nicht fallen zu lassen – gebrochen.
Ich kann hören, wie mein Herz an dieser Tatsache zerbricht und die Scherben klirrend zu Boden fallen. Blut sickert aus der Wunde und verteilt den Schmerz in meinem Körper.
„Oh ja, Blake! Ich komme gleich!" Sein Name klingt einfach nur ekelig aus ihrem Mund.
Da ich mir das Gestöhne nicht länger anhören kann, erhebe ich mich und stolpere mit tränenverschleierter Sicht die Treppen hinunter. Auf der Hälfte falle ich, doch die aufgeschürften Knie schmerzen nicht mal ansatzweise so sehr wie mein Herz. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, den zersplitterten Bilderrahmen und die Jogginghose aufzuheben, sondern lasse beides liegen.
Die kalte Winterluft erschlägt mich. Ich taumele die Straßen entlang, ohne zu wissen, wo mich mein Weg hinführt. Blake hat mich die ganze Zeit verarscht. Ich bin ihm weder wichtig noch hat er sein Herz an mich verloren. Er ist einfach nur ein begnadeter Schauspieler, der sich nichts aus den Gefühlen anderer Leute macht.
Aber was war sein Ziel? Vielleicht wieder eine Wette mit Myron? Wer schafft es zuerst, eine Jungfrau ins Bett zu bekommen?
Meine Beine tragen mich zu Leias Haus, aber als ich die Umrisse von zwei Personen in ihrem Zimmer ausmachen kann, wende ich mich wieder zum Gehen ab.
Es dauert über eine halbe Stunde, bis ich bei Mayleen ankomme und mich in ihren Armen ausheule. Sie fragt nicht, was passiert ist, kann es sich aber wahrscheinlich schon denken. „Wir haben zwar kein Eis hier, aber Tiefkühlpizza sollte ihren Zweck auch erfüllen", murmelt meine Freundin mitleidig und schiebt drei Pizzen in den Backofen. Dann führt sie mich ins Badezimmer und schminkt mich ab.
„Du hattest Recht", schluchze ich irgendwann und beiße mir auf die Unterlippe. „Ich hätte mehr Zeit mit Shane verbringen sollen und nicht mit... mit Blake." Mayleen streicht über meinen Arm, ehe sie mir die Tränen wegwischt. „Nachher ist man immer schlauer als vorher", lächelt sie traurig.
Jeder hat mich vor Blake gewarnt und ich war trotzdem so dumm und naiv und habe ihm vertraut. Mehr als nur das. Ich habe ihm mein Herz geschenkt. Plötzlich bereue ich den gestrigen Abend. Ich wollte mir meinen ersten Kuss immer für die richtige Person aufbewahren, aber das habe ich nicht getan. Blake hat mir etwas gestohlen, das er mir nie wieder zurückgeben kann.
„Er hat mit Sabrina geschlafen. Ich habe es gehört", murmele ich etwas gefasster, als wir uns die dritte Pizza teilen. Ich habe mit der Zeit aufgehört zu weinen, weil einfach keine Tränen mehr vorhanden waren. „Wow", raunt Mayleen verbittert. „Ich dachte wirklich, dass er sich geändert hätte."
„Aber das hat er nicht", führe ich ihren unausgesprochenen Gedankengang fort. Es ist lächerlich, zu glauben, dass sich Menschen von heute auf morgen ändern. Denn das können sie nicht. „Der Schmerz wird irgendwann nachlassen, aber die Narben wirst du ewig spüren, Lucy."
„Wenn Schmerz und Leid das Herz zerreißt, die Welt nur noch in Trümmern liegt; Wo ist der Weg, der weiterführt und Glück und Hoffnung zu mir bringt?"- Tina Seidler
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