24 - Seelensplitter
Der Schultag geht mit meinen Freundinnen an meiner Seite recht schnell zu Ende. Ich bin ihnen dankbar für alles, was sie getan haben. Auch wenn wir einen kurzzeitigen – wohlbemerkt unnötigen – Streit hatten, haben wir uns wieder zusammengerauft und sind nun unschlagbar. Es ist, als würde etwas Magisches zwischen uns stehen, das uns miteinander verbindet.
All die Erinnerungen, die wir geschaffen haben.
All die Momente, in denen unsere Freundschaft grenzenlos war.
All die Ereignisse, die uns als Gruppe geformt haben.
„Lucy. Wir... Wir sollten reden." Blakes Stimme schiebt sich über meine Gedanken und lässt mich traurig zu ihm aufschauen. Er hat mich so sehr verletzt, dass selbst sein Anblick schmerzt. „Ach ja? Sollten wir das, Blake?", frage ich ihn verbittert und unterdrücke meine Tränen. „Du hast heute vor meinen Augen meine beste Freundin geküsst, du Arsch! Sag mal, geht's noch?!"
Ich bohre meinen Zeigefinger in seine Brust und schüttele den Kopf. Wir müssen sicherlich nicht miteinander reden. Das einzige, was wir jetzt brauchen, ist Abstand. Viel Abstand.
„Ich habe sie doch nur geküsst, weil du mich davor zurückgewiesen hast", versucht sich Blake zu rechtfertigen. Seine Augen suchen vergeblich nach meinen, doch ich weiche seinem Blick aus. Wie lächerlich kann ein Mensch bitteschön sein?
„Das ist nicht dein Ernst oder? Wie lächerlich verhältst du dich denn, Blake? Nur weil ich dich nicht küssen wollte, wirfst du dich also direkt einem anderen Mädchen an den Hals? Gut zu wissen – wirklich gut zu wissen", murmele ich und wische mir eine Träne der Schwäche aus dem Augenwinkel. Blake hat keine dieser Glasperlen verdient.
Wie soll ich ihm überhaupt noch vertrauen können, wenn er mich jedes Mal aufs Neue enttäuscht und verletzt?
„Deine Abweisung hat mich einfach wütend gemacht, okay?" Schuldbewusst greift der Blondhaarige nach meiner Hand und malt Kreise auf meine Haut. Nach wie vor hinterlassen seine Berührungen ein Feuer in meinem Körper, aber mit der Zeit wird dieses Feuer immer schwächer. „Nein Blake, nichts ist okay! Deine Tat hat mich wirklich verletzt! Und zwar genau hier", raune ich emotionslos, während ich seine Hand auf meiner Brust platziere. „Mitten in meinem Herzen."
-
Ich gehe unser Gespräch den ganzen Tag in Gedanken durch. Blakes schuldbewusster Blick zerreißt mir das Herz, aber dann erinnere ich mich wieder an den Kuss zwischen Leia und ihm und schon ist mein Mitleid verschwunden. Nur weil ich ihn abgewiesen habe, hat er sie geküsst.
Tränen rinnen über meine Wangen und fallen auf das Einhornplüschtier hinab. Hätte ich doch wenigstens noch das Foto von Lucia, das mir Trost spenden könnte. Sofort werden meine Schluchzer lauter und unkontrollierter.
„Lucy! Da ist jemand im Garten!", ertönt auf einmal die Stimme meiner Mutter. Ich erhebe mich auf wackeligen Beinen und tapse dann zu dem Fenster, das direkt in den Garten zeigt. Ich traue meinen Augen nicht, als ich Blake mit einer Gitarre auf dem Rasen sehe. Er starrt verzweifelt auf die Schiebetür im Wohnzimmer und wartet, dass ich zu ihm hinaustrete, aber das werde ich nicht tun.
Stattdessen öffne ich möglichst leise das Fenster und beobachte den Blauäugigen. Er atmet tief ein und wieder aus, ehe er die ersten Töne auf der Gitarre spielt. Ich erkenne das Lied direkt – I'm sorry von Tommy Reeve.
„I know I wasn't there when you needed me the most. I know I didn't care and was afraid to get so close. Tonight it's getting hard to fall asleep 'cause it's becoming clear that I broke all into pieces and I can not reverse it. So I've got one more thing to say." Blake singt fast jeden Ton schief, aber dennoch kullern immer mehr Glasperlen über meine Wangen.
Er weiß, dass er es dieses Mal so richtig verkackt hat und entschuldigt sich endlich anständig für seinen Fehler. Bedeute ich ihm womöglich doch etwas? Diese Hoffnung macht mich krank.
„I'm sorry for your pain." Er hat mein Herz schon so oft gebrochen, dass es nun eine zertrümmerte Ruine darstellt.
„I'm sorry for your tears." Ich wische mir über die Wangen, kann die Tränen jedoch nicht stoppen. Sie sind einfach da und zerfressen mich.
„For all the little things I didn't know." Er hat sich nie die Mühe gemacht, mich richtig kennenzulernen.
„I'm sorry for the words I didn't say." Manchmal ist es besser, wenn er gar nichts sagt, anstatt mich mit seinen Worten zu verletzen.
„But what I still do." Er hält kurz inne und tatsächlich rinnt eine Träne über seine Wange.
„I'm still loving you." Er hebt den Kopf und fängt meinen Blick auf. Grün trifft blau.
„I know I let you wait. I've been away for far too long, but now I can relate to everything that I did wrong. Stop breathing when I think I'm losing you and there'll be no excuse so I'm on my knees. So listen please." Blake sinkt auf die Knie hinab und streckt mir seine Hand entgegen. „Let me hold your hand once again."
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, geschweige denn was mir mein Herz sagt. Die Glasperlen tanzen bloß über mein Gesicht und stürzen mich in meine eigene Flut aus Herzschmerz. „Blake", forme ich seinen Namen mit meinen Lippen und verliere mich in seinen blauen Augen. Jetzt gerade sind sie ehrlich, aber wie lange wird das so bleiben?
Ich schaffe es nicht, die Treppenstufen nach unten zu gehen und mich in seine Arme zu werfen. Die Wunden sind zu tief und die Angst – erneut belogen zu werden – zu groß.
Meine Unterlippe zittert, als ich das Fenster schließe und die Gardinen zuziehe. Ich bin noch nicht dazu bereit, ihm zu verzeihen. „I'm sorry for the lies. I'm sorry for the fights", singt Blake verzweifelt weiter.
Ich kann und will seine Stimme nicht mehr hören! Also presse ich mir schluchzend die Hände auf die Ohren und lasse mich an der Wand hinabgleiten. Bin ich wirklich so ein schlechter Mensch, dass ich dieses Leben – geprägt von Schmerz – verdient habe? Ich finde keine Antwort auf meine Frage.
Am nächsten Morgen wache ich in der Position auf, in der ich eingeschlafen bin – an die Wand gelehnt. Meine Augen sind rot unterlaufen und angeschwollen. Ich spiele meinen Eltern vor, krank zu sein, aber meine Mutter durchschaut mich und schickt mich zur Schule.
Anstatt den Bus zu nehmen, gehe ich zu Fuß. Die kühle Luft wirbelt durch meinen Kopf und bringt mich auf andere Gedanken. Jedenfalls so lange, bis sich eine Hand auf meine Schulter legt. „Hau ab!", knurre ich wütend und balle meine Hände zu Fäusten. Sieht er denn nicht, dass ich ein bisschen Zeit für mich brauche? „Keine Sorge, Lucy. Ich bin nicht Blake." Ich erstarre augenblicklich in meiner Position und drehe mich erst nach ein paar Sekunden zu der Person um.
Karamellfarbene Augen und nussbraune Haare? „Claire?", frage ich verwundert und mustere das Mädchen. Was möchte sie von mir?
„Können wir reden, Lucy?"
„Ich muss zur Schule."
„Tja, dann wirst du wohl nie erfahren, was ich dir sagen möchte", seufzt sie theatralisch und wendet sich wieder von mir ab. Ich ringe kurz mit mir selber, ehe ich ein lautes „Warte!" über die Lippen bringe. Claire ist Blakes beste Freundin. Vielleicht kann sie mir ja weiterhelfen.
Einige Minuten später sitzen wir in einer Bäckerei und nippen an unseren Kakaos. Dafür, dass Claire unbedingt mit mir reden wollte, hat sie bis jetzt relativ wenig gesagt – um genau zu sein, noch gar nichts.
„Gibt es einen bestimmten Grund, warum ich jetzt deinetwegen die Schule schwänze?", durchforste ich schließlich die Stille und stelle meine dampfende Tasse vor mir ab. „Ich denke, du kennst den Grund."
„Blake?" Claire nickt und faltet die Hände auf dem Tisch. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie mir erzählen möchte. „Blake kann es nicht so gut zeigen, wenn er Leute mag."
„Also bei dir konnte er das ziemlich gut zeigen", widerspreche ich dem Mädchen direkt, als ich an ihre innige Umarmung in der Stadt zurückdenke. „Das war aber nicht immer so", seufzt Claire. „Wir kennen uns zwar schon seit unserer Geburt, aber zwischenzeitlich hatten wir keinen Kontakt mehr zueinander. Das war in der Zeit, in der er Myron kennengelernt hat. Blake hat angefangen, Alkohol zu trinken und Drogen zu nehmen. Und das mit gerade mal dreizehn Jahren."
Mein Hass auf Myron ist demnach mehr als berechtigt. Er ist ein schlechter Mensch, der alles in seinem Umfeld verdirbt.
„Blake war nicht immer so kalt und abweisend wie heute. Ich weiß selber nicht, wer oder was ihn so verändert hat. Vielleicht liegt es an seiner Persönlichkeit – keine Ahnung. Ich weiß nur, dass du ihm wichtig bist, Lucy. Sehr sogar."
„Wenn ich ihm wirklich wichtig wäre, hätte er mich nicht so oft verletzt!"
„Weißt du, warum er dich so häufig verletzt hat?" Ich schüttele mit großen Augen den Kopf. „Weil er unsicher ist. Er wollte nichts falschmachen, aber weil er sich so sehr daran festgekrallt hat, hat er im Endeffekt fast alles falsch gemacht."
„Klingt nicht wirklich logisch und überzeugend", murmele ich und wende meinen Blick von dem braunhaarigen Mädchen ab. Blake ist kein Mensch, der unsicher ist. Er hat mich verletzt und war sich dieser Tatsache jedes Mal bewusst.
„Klingt es logischer und überzeugender, wenn ich dir sage, dass Blake von Selbstzweifeln zerfressen wird? Dass er mit den Dämonen aus seiner Vergangenheit zu kämpfen hat? Dass er nicht die Person ist, die er gerne sein würde?" Ich schlucke schwer. Das, was Claire gerade sagt, kann unmöglich auf Blake zutreffen. Bevor ich ihr in irgendeiner Art und Weise antworten kann, spricht die Braunäugige auch schon weiter.
„Was ich dir eigentlich sagen möchte – Blake ist ein guter Mensch. Natürlich hat er unendlich viele Fehler gemacht, aber das weiß er auch selber. Er hat eine schwarze Mauer um sein Herz errichtet und du bist momentan die Einzige, die diese Mauer zu Fall bringen kann, Lucy."
„Was macht dich da so sicher?"
„Das fragst du noch?!" Ich komme mir ziemlich blöd vor, als ich nicke. „Blake vertraut dir, Lucy. Denkst du wirklich, dass sich jeder Junge mit einer Gitarre in deinen Garten stellen und sich zum Affen machen würde? Hat dir zuvor schon jemand Konzertkarten für Ed Sheeran geschenkt? Stand jemals ein Junge an Weihnachten um Mitternacht vor deiner Haustür? Mit wem warst du bereits in einer Trampolinhalle? Tanzen alle Jungs mit dir im Schnee zu Justin Bieber?"
Claires Worte veranlassen mich tatsächlich zum Nachdenken. Stimmt es, dass mir Blake vertraut?
„Der Junge ist absolut verzweifelt, weil er nicht mehr weiß, was er machen soll. Er hat sogar heute Morgen überlegt, ob er in eine andere Stadt ziehen soll!", erhebt Claire ihre Stimme. „Er will dir beweisen, dass er dich mag, schafft das aber nicht. Gib ihm noch eine Chance, Lucy!"
„Er wird mich wieder verletzen."
„Natürlich wird er das", raunt die Brünette verbittert. „Aber das Band der Liebe wird stärker sein."
Das Band der Liebe? Blake ist nicht in mich verliebt – da bin ich mir sicher. „Warum wollte er mich plötzlich in der Schule küssen? Sag mir die Wahrheit, Claire!" Die Angesprochene weicht meinem Blick aus. Gerade als ich denke, dass sie nichts mehr sagt, antwortet sie: „Eine Wette zwischen Myron und ihm."
„Da siehst du es. Würde ich Blake wirklich etwas bedeuten, hätte er sich niemals auf diese Wette eingelassen!"
„Blake lässt sich aber von Myron manipulieren, weil dieser seine Schwachstellen kennt und ausnutzt!", verteidigt Claire ihren besten Freund.
„Na und? Blake manipuliert ja schließlich auch jeden in seinem Umfeld!"
„Urteile nicht über ihn, wenn du ihn nicht kennst!"
„Er hat mir nie die Gelegenheit gegeben, ihn richtig kennenzulernen!"
„Weil du ihn nicht gelassen hast, Lucy!"
Jetzt reicht es mir! Ich stehe wütend auf, werfe Claire giftige Blicke zu und eile dann Richtung Schule. Ich war immer diejenige, die offen und ehrlich war, während sich Blake mir gegenüber verschlossen hat. Es ist einfach nur ungerecht, die Schuld auf mich zu schieben.
„Lucy, warte!" Ich hebe meinen Mittelfinger in die Luft und verschnellere meine Schritte. Noch einmal lasse ich mich nicht auf ein Gespräch mit Claire ein. Sie versteht doch eh nur ihren besten Freund und gibt sich nicht einmal die Mühe, auch meine Seite zu verstehen.
-
Bis die zweite Schulstunde endet und endlich der Pausengong ertönt, schließe ich mich auf den Toiletten ein. Hier kann ich immerhin nicht so schnell gefunden werden und bin vor Claire sicher.
„Wo zur Hölle warst du?", begrüßt mich Leia mit einer Mischung aus Wut und Besorgnis. Ich würde diese Frage gerne umgehen, aber letztendlich erzähle ich meinen Freundinnen doch von dem Gespräch mit Claire.
„Blake sah heute echt nicht gut aus", murmelt May. „Und er hat sich vor Schulbeginn mit Myron geprügelt." Meine Augen weiten sich. Auch wenn ich dem Blondschopf nichts mehr schuldig bin, überwiegt meine Sorge. „Geht es ihm gut?"
„Keine Ahnung. Ich habe die beiden auch nur zufällig im Park gesehen. Jedenfalls ist Blake nicht in der Schule angekommen, glaube ich."
„Was?!", stoße ich einen panischen Schrei aus. Ich will mir gar nicht erst vorstellen, was zwischen ihm und Myron vorgefallen ist. „Ich gehe ihn suchen", teile ich meinen Freundinnen meine Entscheidung mit und eile vom Schulgelände. Meine Beine tragen mich wie von selbst zu dem kleinen Park und bleiben erst dann stehen, als meine Augen Blake erblicken.
Er ist an einen Baumstamm gelehnt und atmet schwer. Sein rechtes Auge ist blau unterlaufen und verleiht seinem Gesicht mit der Schürfwunde, die sich über seine linke Gesichtshälfte zieht, etwas Gruseliges. Blake sieht so krank und erschöpft aus, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterläuft. „Lucy?" Ein überraschter Ausdruck verschleiert seine Pupillen. „Was machst du hier?"
„Irgendwann einfach aufgehört zu hoffen und nur noch alles akzeptiert."- Unbekannt
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