23 - Küsse des Teufels
„Lucy! Essen ist fertig!", ruft meine Mutter lauthals nach mir und befreit mich somit aus meinem Selbstmitleid. Ich lag mindestens eine Stunde in meinem Bett und habe Breaking Free und Mistletoe in Dauerschleife gehört.
Ich trauere Blake nach, weil ich weiß, dass ich ihn verloren habe. Er hat so viel Schmerz in meinem Inneren hinterlassen, ohne sich dieser Tatsache überhaupt bewusst zu sein. Es wird schwer – vielleicht sogar unmöglich – ihn zu vergessen, aber es ist besser so.
Warum soll er mich weiterhin verletzen, wenn ich ihn einfach nur loslassen muss? Den Jungen, in den ich verliebt bin...
„Was bedrückt dich, Liebling?", reißt mich mein Vater in die Realität zurück. Während alle anderen ihren Nudelauflauf verschlingen, stochere ich bloß lustlos in meinem Essen herum. Mir ist der Appetit vergangen. „Nichts", winke ich ab und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. Jetzt, wo es Chaya wieder besser geht, möchte ich meine Eltern nicht mit meinen Problemen belasten. Sie haben sich eine Auszeit verdient.
„Du bist eine schlechte Lügnerin", seufzt Dad und schaut mich durchdringlich an. „Rede mit uns, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt!" Ich schüttele den Kopf und blocke ab. Worüber sollte ich auch mit den beiden reden? Dass ich das erste Mal unglücklich verliebt bin? Sicherlich nicht.
„Die Schule macht mich einfach total fertig. Ich muss mega viel lernen und habe das Gefühl, dass mein Schädel bald explodiert", nenne ich einen anderen Grund für meine schlechte Laune. Die Schule laugt mich zwar wirklich aus, aber das ist nebensächlich. Blake alleine trägt die Schuld an meinem Verhalten.
Irgendwie ist es ganz schön seltsam, dass er so viel Macht besitzt, um über meine Laune zu bestimmen.
„Stress dich nicht immer so, Lucy. Du brauchst auch mal Pausen", mischt sich Mum ein und wirft mir einen besorgten Blick zu. „Was hältst du davon, wenn wir gleich einen schön gemütlichen Filmabend mit Nachos und Käsesoße machen?" Weil ich meine Eltern nicht enttäuschen und ihnen keinen Kummer zufügen möchte, nicke ich.
-
Die fettige Käsesoße vom Vortag wirkt sich direkt negativ auf meine Haut aus. Zwei dicke Pickel schmücken mein Kinn, die sich kaum überschminken lassen. Um die Aufmerksamkeit nicht auf die Krater zu richten, trage ich Mascara auf, damit meine Augen wie Smaragde funkeln. Meine Haare stecke ich zu einem Dutt zurück und schlüpfe dann in eine Leggings und einen XXL Pullover. Ich laufe nicht gerade schultauglich herum, aber dafür fühle ich mich wohl.
Dieses Gefühl schwindet aber sogleich, als ich den Schulhof betrete und Blake entschlossen auf mich zu kommt. Automatisch ziehe ich mir den Wollschal tiefer ins Gesicht und senke den Blick zu Boden „Ich weiß, dass du mich gesehen hast, Lucy", ertappt mich der Blondschopf, während er mich am Oberarm zurückhält. Ich erkenne so etwas wie Reue in seinen Augen, bilde mir dies aber wahrscheinlich nur ein.
Blake ist ein begnadeter Schauspieler, der weiß, wie er andere Leute manipulieren kann. Mich eingeschlossen.
„Das kann so nicht mit uns weitergehen", ergreift er erneut das Wort und hebt vorsichtig mein Kinn an. Seine Berührungen lösen Stromschläge in meinem Inneren aus, die meinen Herzschlag kontrollieren. Wie gerne ich ihm doch einfach um den Hals fallen würde, aber ich beherrsche mich.
„Blitzmerker", keife ich stattdessen. „Und was schlägst du jetzt vor?" Blake kann zu keiner Antwort ansetzen, da er von Myron angerempelt wird. Ohne mir einen letzten Blick zuzuwerfen, verschwinden die beiden zwischen all den anderen Schülern und lassen mich alleine zurück. Wenn Blake sowieso alle anderen Leute bevorzugt, kann diese Freundschaft gar nicht funktionieren.
Freundschaft – ein ziemlich verhängnisvolles Wort. Aber ganz ehrlich? Ich würde lieber mit Blake befreundet sein, statt ihn aus meinem Leben zu streichen.
Ich setze meinen Weg zum Klassenraum fort und schildere Roxy und May die Begegnung mit dem Blondhaarigen. „Lass einfach die Finger von ihm. Du bist ihm nichts mehr schuldig, Lucy", meint Roxy und tätschelt über meinen Rücken. „Das war auch eigentlich mein Plan, aber ich weiß nicht, ob ich das tatsächlich schaffe", gebe ich zu und seufze.
Warum muss das auch immer so kompliziert mit Jungs sein?
„Ich glaube, du hast ein wesentliches Detail bei deinem Plan nicht berücksichtigt." Meine Augen weiten sich und ich schaue May abwartend an. „Welches Detail?"
„Dass du dich in Blake verliebt hast."
Die Worte hängen beißend schwer im Raum und lassen mich nach Luft schnappen. Laut ausgesprochen hört sich diese Tatsache lächerlich an. Ich bin in Blake verliebt, obwohl ich das Gefühl habe, ihn gar nicht richtig zu kennen. „Seit ich ihn kenne, besitze ich ein Herz aus Papier", hauche ich und unterdrücke das Verlangen, zu weinen.
Jedes gemeine Wort und jede verletzende Tat hinterlassen einen Riss in meinem Herzen. Blake hat Stahl in Papier verwandelt.
Es fällt mir schwer, mich auf den Unterricht zu konzentrieren und nicht durchgängig gebrochene Herzen in mein Matheheft zu kritzeln. Warum ausgerechnet Blake? Warum hat sich mein blödes Herz nicht für Shane oder einen anderen zuvorkommenden Jungen entschieden? Eine Träne – gefüllt mit Kummer und Herzschmerz – tropft auf mein Heft.
Mein Herz trifft immer die falschen Entscheidungen.
„Kommt ihr kurz mit zu meinem Spind?", fragt Roxy nach der Mathestunde und balanciert mehrere Hefte und Bücher auf ihrem Arm. „Klar", stimme ich sofort zu. „Sollen wir dir etwas abnehmen?" Roxana drückt mir ein paar Bücher in den Arm und stolpert dann die Treppe hinunter. „Pass a-" Schon im nächsten Moment wird sie von einem Jungen umgerannt, sodass die Hefte zu Boden fallen.
„Diese kleinen Kiddies haben gar keinen Respekt mehr!", flucht die Braunäugige genervt und sammelt die Hefte wieder auf. „Ich weiß schon ganz genau, warum ich später keine Kinder bekommen möchte!"
May und ich können uns nur schwer ein Kichern verkneifen und folgen unserer Freundin schließlich zu ihrem Bücherspind. Die Innenseite ist mit Fotos und Stickern verziert. Mir springt direkt das Bild von Lee, May, Roxy und mir entgegen, das im Sommer vor drei Jahren entstanden ist. Wir sind gemeinsam in einem Feriencamp mitgefahren und haben den Leitern den letzten Nerv geraubt. Auf dem Foto sind nur unsere Köpfe zu sehen, da unsere Körper im Sand eingebuddelt sind. Ich würde alles dafür geben, um diese Zeit noch einmal erleben zu können.
„Achtung! Der Teufel namens Blake Archer kommt hierher", raunt mir plötzlich May zu. „Bleib ganz gelassen." Anstatt auf meine Freundin zu hören, drehe ich ruckartig meinen Kopf in Blakes Richtung und verankere unseren Blick miteinander. Entschlossenheit und etwas, das ich nicht richtig deuten kann, liegen in seinen Augen.
Als Blake direkt vor mir steht, bringt er kein einziges Wort über die Lippen, sondern platziert nur seine Hände an meinen Wangen. Sein Blau huscht von meinen Augen zu meinen Lippen und wieder zurück. Ehe ich überhaupt weiß, wie mir richtig geschieht, beugt er sich zu mir hinunter und verringert langsam den Abstand zwischen unseren Lippen.
Ach du Scheiße!
Ich spüre die Blicke der umherstehenden Schüler auf mir und höre ganz genau, wie Mayleen und Roxana überrascht die Luft einziehen. Es besteht kein Zweifel – er möchte mich küssen.
Doch anstatt meinen ersten Kuss mit dem Jungen zu teilen, in den ich verliebt bin, lege ich meine Hände auf seine Brust und schiebe ihn von mir weg. Ich kann Blake nicht küssen, wenn ich nicht weiß, wo das mit uns hinführen soll. „Sorry", murmele ich deshalb und trete einen Schritt zurück. Meine Abweisung kratzt an Blakes Ego – das kann ich sehen.
„Pech gehabt", knurrt der Blauäugige verbittert und wendet sich von mir ab. Er steuert direkt auf Leia zu, die gegenüber an einer Wand lehnt, und platziert seine Hände an ihrer Taille. Ich ziehe erschrocken die Luft ein und schüttele kaum merklich mit dem Kopf. Er wird sie doch wohl nicht küssen, oder?
Blake schaut ein letztes Mal zu mir und vergewissert sich somit, dass ich es sehe.
Dass ich sehe, wie er Leia küsst.
Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, aber irgendetwas in mir stirbt. Mein Herz explodiert in tausend Splitter, die sich schmerzhaft in meine Brust bohren. Tränen rinnen über meine Wangen und lassen mich in Schmerz ertrinken. Ich nehme kaum wahr, wie ich kraftlos zusammensacke und von zwei Leuten nach draußen getragen werde.
Ich kann nichts mehr sehen – nur der Kuss spielt sich immer und immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Das, was ich gerade erlebe, ist schlimmer als jede Panikattacke, die ich hatte.
„Lucy?" Ich kann Shanes Stimme nicht hören. Nicht jetzt. „Soll ich dich nach Hause bringen?" Ich schüttele den Kopf und wische mir über die tränenbenetzten Augen. May, Roxy, Shane, Ayden, Fayn und Damian stehen um mich herum und schauen auf mich hinab. Ich mobilisiere meine letzten Kräfte und hieve mich vom Boden auf. Bevor ich wieder zu fallen drohe, schließt mich Shane in seine Arme und streichelt mir über den Rücken.
Warum nicht er? Warum hat sich mein bescheuertes Herz nicht für ihn entschieden? Shane würde mich niemals so verletzen, wie Blake es getan hat.
„Was hat er gemacht?", wispert mir der Blondhaarige ins Ohr und tupft mir dabei die Glasperlen von den Wangen. Es auszusprechen, wird noch schmerzhafter sein, als das Gesehene zu verarbeiten. „Er. Er." Meine Stimme bricht ab und wird von einem Schluchzer davongetragen. Ich schaffe es nicht, zu erzählen, was Blake getan hat, weshalb May und Roxy diesen Part für mich übernehmen.
Zum Pausenende schicken sie die Jungs wieder in den Unterricht und bleiben mit mir in der Kälte sitzen. Meine Freundinnen zittern schon am ganzen Körper, ziehen es aber nicht in Betracht, mich alleine zu lassen. „Es kam alles so plötzlich", schluchze ich leise und fixiere irgendeinen Punkt in der Ferne. „So unerwartet."
„Tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber er wird einen Grund gehabt haben, warum er dich so plötzlich küssen wollte – und damit meine ich nicht, dass er ebenfalls in dich verliebt ist." Mayleen streichelt mir mitleidig über den Arm. „Du hättest Myrons selbstgefälligen Blick sehen sollen, als du ihn abgewiesen hast."
Hass ist ein starkes Wort, aber es trifft am besten zu. Ich hasse Myron. Der Schwarzhaarige schüchtert mich nicht nur ein, sondern stellt sich auch noch zwischen Blake und mich.
„Ich werde diese Bilder niemals vergessen können", flüstere ich und schüttele den Kopf. Wie sich seine Hände an Leias Taille legen. Wie er sich langsam zu ihr hinunter beugt. Wie ihre Lippen miteinander verschmelzen.
Als hätte Lee gewusst, dass meine Gedanken um sie kreisen, tritt sie zu uns an die kalte Luft. Ihr Blick wird von Reue und Schuld gesäumt. „Lucy", greift sie nach meinem Arm, doch ich ziehe ihn weg. Leia ist doch sowieso egal, wie ich mich fühle.
„Ich habe Blake direkt eine Ohrfeige gegeben. Meinen Handabdruck kann man wahrscheinlich immer noch auf seiner Wange sehen", versucht sie mich aufzumuntern und schenkt mir ein Lächeln. Ihre Ohrfeige bringt mir auch nichts. „Ich wusste nicht, dass mich Blake küssen will. Er hat mich total überrumpelt."
„Ich weiß", seufze ich schließlich und presse die Lippen zusammen. Das, was eben passiert ist, geht nicht auf Leias Rechnung. Blake ist Schuld und ich irgendwie auch. Hätte ich ihn geküsst, wäre das bestimmt nicht passiert.
„Ich bin selber schuld, dass ihr mich jetzt alle hasst, immerhin bin ich nicht auf euch zugegangen, um mich zu entschuldigen. Wir haben meinetwegen gestritten – ich weiß – und das tut mir echt leid. Was ich gesagt und gemacht habe, ist nicht zu verzeihen, aber ich kann und will euch nicht verlieren!" Leias verletzter Ausdruck hinterlässt weitere Risse in meinem Papierherzen.
„Wir könnten dich niemals hassen, Lee", lächele ich versöhnlich und ziehe sie in meine Arme. Meine Freundinnen sind mir wichtiger, als alles andere auf dieser Welt!
Nach wenigen Sekunden gesellen sich auch Roxy und May zu uns, sodass wir uns zu viert umarmen. Es wird etwas dauern, aber vielleicht kann es ja bald wieder so werden, wie es einst war – bevor ich Kontakt zu Blake hatte.
„Ich habe übrigens jemand kennengelernt", offenbart uns Leia, als wir uns auf den Weg Richtung Klassenzimmer machen. Ich hebe überrascht meine Brauen und fordere sie mit meinem Blick auf, fortzufahren. „Er ist zwar schon zwanzig Jahre alt, aber wir verstehen uns echt super", schwärmt sie. „Er heißt Jason."
Jason wie Jason aus dem Club, den May und ich kennengelernt haben?
Ich starre zu Mayleen, die meinen Blick überrumpelt auffängt. Ohne es verhindern zu können, verfallen wir in Gelächter und müssen Lee versichern, dass es nicht ihretwegen ist. Jason ist nett, aber sicherlich nicht der Typ für Beziehungen. Dennoch sagen wir nichts dazu, sondern freuen uns für sie. Leia kennt ihn immerhin besser als wir.
„Es gibt Schmerz, der dich verletzt und Schmerz, der dich verändert."- Unbekannt
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro