21 - Versöhnung
Es ist bereits ein Monat vergangen, seitdem ich das letzte Mal mit meinen Freundinnen gesprochen habe. Na ja, eigentlich war das kein Gespräch, sondern ein Streit, der uns alle auf verschiedene Lebenswege geschickt hat.
Mayleen hat sich des Öfteren mit Ayden getroffen und ihm wahrscheinlich irgendwelche Gefühle vorgespielt, die sie gar nicht für ihn empfindet. Ich weiß, dass sie Toby liebt und Ayden nur als eine Art Lückenfüller ansieht.
Leia verbringt neuerdings mehr Zeit mit ihrem Bruder Liam und seinen Freunden. Soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann, existiert das schüchterne Mädchen, das sie einst war, nicht mehr.
Nur bei Roxana ist alles wie immer. Sie führt eine On-Off-Beziehung mit Fayn und steckt alle Leute in ihrem Umfeld mit guter Laune an. Sie ist ein Sonnenschein.
Und ich? Ich bin in einem Gefühlschaos gelandet, das den Namen Blake Archer trägt. Ich habe den Blauäugigen seit einer Woche nicht mehr gesehen und auch sonst nichts von ihm gehört. Es scheint, als hätten wir uns nie gekannt. Als wäre er nie in mein Leben getreten. Als hätte er nie Spuren auf meinem Herzen hinterlassen. Nur die Ed Sheeran Konzertkarten erinnern mich daran, was einst zwischen uns war.
Es macht mich traurig, dass es so enden musste.
„Beeil dich, Lucy, sonst verpasst du noch den Bus!", hetzt mich meine Mutter und drückt mir eine Wasserflasche in die Hand. Sie muss gleich mit Chaya zum Arzt, weshalb sie schon den ganzen Morgen so eine hektische Art an den Tag legt. „Ja ja", murmele ich mit vollem Mund und verstaue die Wasserflasche und meine Brotdose in dem Schulrucksack.
Die Winterferien hätten ruhig etwas länger andauern können. Im Gegensatz zu der ersten Woche, in der ich viel Zeit mit Blake verbracht habe, war die zweite Woche ziemlich langweilig. Ich lag die meiste Zeit in meinem Bett und habe gelesen oder mir mit meiner Schwester Filme angeschaut. Auch wenn ich es ungerne zugebe, aber Blake hat mir gefehlt.
Meine Gedanken kreisen den ganzen Schulweg über um die Winterferien. Heute werde ich sie alle wiedersehen. Blake, Roxy, Lee, May und Shane. Ich habe mir fest vorgenommen, noch einmal mit meinen Freundinnen zu reden, da ich sie wirklich sehr vermisse.
„Hey Lucy!", begrüßt mich ein gut gelaunter Shane am Schultor. Ich setze überrascht ein Lächeln auf und winke ihm zu. „Wie waren deine Ferien?", versucht er ein Gespräch aufzubauen und hebt die Augenbrauen. „Ganz okay", winke ich schnell ab. „Und deine?"
„Na ja, ehrlich gesagt ziemlich langweilig. Maya hat übrigens mindestens dreimal am Tag nach dir und deiner Schwester gefragt. Ich glaube, sie würde sich sehr freuen, euch wiederzusehen." Dieses Mal ist das Lächeln, das meine Lippen umspielt, echt. Ich fände es super, wenn Maya mehr Zeit mit Chaya verbringen würde. Sie tut meiner Schwester gut. „Wir könnten uns bald nochmal zu viert treffen", schlage ich vor, was Shane mit einem Nicken quittiert.
Ob ich ihm damit wohl falsche Signale sende? Hoffentlich nicht. In meinen Augen ist Shane nämlich nur ein Freund. Mein Herz schlägt für einen Idioten – Blake.
„Gut", lächele ich. „Lass uns in den nächsten Tagen darüber reden. Ich will dich echt nicht abwimmeln, aber ich muss los." Ich setze eine entschuldigende Miene auf und eile dann Richtung Klassenraum. Wer bei unserer Kunstlehrerin zu spät kommt, gräbt sich selber eine Grube.
Leider kann ich in den ersten beiden Stunden kein Gespräch mit meinen Freundinnen suchen, da wir alle im Raum verteilt sitzen. Wir wurden vor zwei Jahren auseinandergesetzt, da wir angeblich unsere Mitschüler stören und immer so albern kichern würden. Meiner Meinung nach war Miss Brown einfach nur eifersüchtig auf uns, weil sie selber kein soziales Leben hat.
Als endlich der erlösende Pausengong ertönt, folge ich Leia zu den Schließfächern. Sie verstaut gerade ihre Kunstmappe in dem Fach und hält dann nach ihrem Bruder Ausschau. Stattdessen schleiche ich mich jedoch in ihr Sichtfeld. „Hey Lee", lächele ich sie vorsichtig an. „Können wir reden?" Ich kann die Überraschung in ihren Augen aufblitzen sehen, die allerdings schnell von Schmerz und Wut verdrängt wird.
„Ich habe keine Zeit, mich mit Verräterinnen zu unterhalten", gibt sie kühl von sich und möchte sich an mir vorbeidrängeln, doch ich halte sie am Handgelenk zurück. Dort, wo sich sonst immer unser Freundschaftsarmband befand, thront nun ein silbernes Armkettchen mit einem Herzen als Anhänger. Das ging ja wirklich schnell, dass sie uns ersetzt hat.
„Du musst auch nicht mit mir reden, sondern nur zuhören", flehe ich und suche Leias Blick. Ich brauche meine besten Freundinnen an meiner Seite, denn ohne sie bin ich aufgeschmissen. „Warum? Willst du mir sagen, dass das alles meine Schuld ist?" Ich schüttele den Kopf. „Ich möchte mich entschuldigen", erkläre ich.
Leia schweigt für einen Moment und starrt nachdenklich in die Ferne, ehe sich wieder ein emotionsloser Schleier über ihre Gestalt legt. „Ich will deine Entschuldigung aber nicht hören!", blockt sie ab und reißt sich von mir los. Mit zügigen Schritten entfernt sie sich aus meinem Blickfeld, bis sie als kleiner Punkt in der Menge verschwindet.
Ich kann und will einfach nicht realisieren, dass ich sie verloren habe. Dreizehn Jahre Freundschaft einfach so weggeworfen. Heiße Tränen brennen bei diesem Gedanken in meinen Augen, die einen Kontrast zu meinem Herzen aus Eis darstellen. Zwischen Leia und mir wird es nie wieder so sein, wie es einst war und das tut verdammt weh.
Der Schultag zieht sich wie Kaugummi in die Länge und raubt mir den letzten Nerv. Insbesondere der unangekündigte Politiktest trägt zu meiner schlechten Laune bei.
„May?", wende ich mich verletzt an meine einst beste Freundin und warte geduldig, bis sich ihre braunen Rehaugen mit meinen grünen vermischen. Vielleicht ist Mayleen im Gegensatz zu Leia offen für ein Gespräch? Ich hoffe es. Meine Hoffnung wird zerstört, als mir die Brünette ein wütendes „Was willst du, Lucienne?" entgegenspuckt.
Wie konnten wir bloß in so eine Situation geraten? Ich wünschte, Ayden wäre niemals in unser Leben getreten.
„Können wir reden?", frage ich Mayleen mit einem Hauch Hoffnung in der Stimme. Ich kann sie nicht länger ignorieren oder böse auf sie sein. „Möchtest du dich etwa über mein schlampiges Outfit beklagen? Ist der Rock zu kurz oder hat das Top zu viel Ausschnitt? Was stört dich, hm?"
„Mich stört, dass ich meine beste Freundin verloren habe!"
Für einen kurzen Moment schweigen wir. Ich kann sehen, dass May genauso denkt wie ich, aber ob sie dazu bereit ist, mir zu verzeihen, weiß ich nicht. „Eigentlich ist unser Streit total unnötig", murmele ich nach einigen Minuten und warte ihre Reaktion ab. „Ich weiß. Aber wir sind wohl alle zu stolz, um uns zu entschuldigen", seufzt die Braunäugige und schenkt mir ein trauriges Lächeln.
Eigentlich habe ich schon öfter versucht, mit den Mädels zu reden, aber das reibe ich May dann doch nicht unter die Nase. Ich möchte mich schließlich mit ihr versöhnen und nicht einen weiteren Streit anzetteln.
„Na ja, um ehrlich zu sein bin ich sogar gekommen, um mich zu entschuldigen", offenbare ich. „Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Du bist ein toller Mensch, May."
„Ich muss mich aber auch entschuldigen", seufzt Mayleen und tritt einen Schritt auf mich zu. „Ich habe dich echt vermisst", fügt sie hinzu und schaut mich hoffnungsvoll an. „Und ich dich erst!", grinse ich, ehe ich der Brünetten um den Hals falle. Freudentränen kullern über meine Wangen und perlen an meinem Kinn ab. Ich hätte schon viel früher persönlich auf May zugehen sollen.
„Alles wieder gut zwischen uns?" Automatisch schleicht sich ein Grinsen auf meine Lippen. „Endlich habe ich die erste von drei Idiotinnen wieder!", lache ich zufrieden und umarme meine Freundin erneut von der Seite. Die Angst, die ich vor diesem Gespräch hatte, erweist sich plötzlich als vollkommen unberechtigt.
Eine halbe Stunde später sitzen May und ich in einem kleinen Café in der Innenstadt und nippen an unseren Kakaos. Irgendwie erinnert mich das sofort an den Abend, an dem wir bei Blake auf der Couch saßen und ebenfalls eine heiße Schokolade getrunken haben. Auch wenn ich es verhindern möchte, schweifen meine Gedanken immer wieder zu Blake ab.
„Tut mir übrigens leid, dass ich neulich deinen Anruf weggedrückt habe", murmelt Mayleen irgendwann und stellt ihre Tasse vor sich ab. Ich erinnere mich noch vage daran, dass ich sie nach dem Besuch in der Trampolinhalle anrufen wollte, weil ich mit jemandem über meine Gefühle reden musste. „Schon gut", winke ich ab.
Es dauert länger als gedacht, Mayleen von Blake zu erzählen und am Ende weiß auch sie keinen Rat. „Blake ist halt-" Sie sucht nach dem passenden Wort. „Blake. Keine Ahnung, was in dem Kopf von diesem Jungen vorgeht, aber er ist echt ziemlich dumm, wenn er dich einfach gehen lässt." Ich zucke nur mit den Schultern. Der Blondhaarige hat schlimmere Stimmungsschwankungen als eine schwangere Frau. Mal ist er superlieb und süß, aber einen Wimpernschlag später ist er der Teufel in Person. Ich versuche mir selber einzureden, dass es besser ist, diesem Chaos aus Gefühlen fernzubleiben.
„Vielleicht solltest du aufhören, Blake nachzutrauern und stattdessen mehr Zeit mit Shane verbringen. Er scheint dich wirklich zu mögen und im Gegensatz zu dem Idioten ist er verdammt nett und zuvorkommend – wohlbemerkt immer und nicht nur dann, wenn er gerade Lust darauf hat."
„Ja, das ist er wirklich. Aber Shane ist nicht blöd. Er würde merken, dass ich ihn als Ersatz für Blake nehme", widerspreche ich meiner Freundin und stütze den Kopf in meinen Händen ab. Bis vor einigen Monaten hatten Jungs gar keinen Platz in meinem Leben und jetzt drehen sich meine Gedanken beinahe ununterbrochen um sie? Eine ziemliche Ironie des Schicksals. „Ach Quatsch. Shane würde niemals so über dich denken, Lucy!"
„Ich werde es mir mal überlegen", murmele ich. „Aber jetzt ein anderes Thema. Was läuft da zwischen dir und Ayden? Ich habe euch letzte Woche zusammen auf der Eisbahn gesehen." Mays Wangen färben sich feuerrot, während sie den Blick abwendet. Sie hat doch wohl nicht ernsthaft Gefühle für ihn entwickelt oder?
Andererseits bin ich die Letzte, die das verurteilen sollte. Ich weiß schließlich selber ganz genau, dass man seine Gefühle nicht steuern oder kontrollieren kann.
„Wir treffen uns ab und zu und eigentlich ist er schwer in Ordnung. Vielleicht ein bisschen pervers, aber er war für mich da, als es kein anderer war." Ich nicke verstehend. Blake war diese Person für mich, nur dass ich ihn jetzt auch verloren habe. „Wusstest du, dass sich seine Eltern getrennt haben und er jetzt bei seinem Vater wohnt?"
„Nein."
„Na ja, auf jeden Fall leidet Ayden ziemlich stark unter der Trennung. Kann man sich bei ihm eigentlich gar nicht vorstellen, aber er hat mir sein ganzes Herz ausgeschüttet." Es fällt mir tatsächlich schwer, zu realisieren, dass wir gerade über Ayden Hunter reden. Ayden ist arrogant und eiskalt – ein Junge, der keine Gefühle zeigt. „Er vertraut dir", stelle ich fest, womit ich Mayleen ein Lächeln entlocke.
Trotzdem ist es unmöglich, dass sie Toby gegen Ayden austauschen würde. Oder?
„Aber um auf deine Frage zurückzukommen – wir sind nur Freunde." Ich hebe meine Augenbrauen und mustere sie skeptisch. „Wirklich! Er hat mir sogar dabei geholfen, den Streit mit Toby geradezubiegen."
„Oh mein Gott! Seid ihr wieder zusammen?!", frage ich etwas zu laut, sodass sich die anderen Leute interessiert zu uns umdrehen, und klatsche in die Hände. Meiner Meinung nach sind und bleiben Mayleen und Toby das Traumpärchen schlechthin. Die glänzenden Augen und das breite Lächeln meiner Freundin sprechen für sich. „Ich freue mich so unglaublich doll für dich!", sage ich ehrlich und umarme May über den Tisch. Wenigstens läuft es in ihrem Leben besser als in meinem.
„Und weißt du, was er mir zu Weihnachten geschenkt hat?" Ich schüttele mit großen Augen den Kopf. „Einen XXL Teddybären!" Kaum sind die Worte ausgesprochen, kreischen wir. Seit der fünften Klasse haben wir immer darüber geschwärmt, wie süß es doch wäre, von dem festen Freund einen Teddybären geschenkt zu bekommen und für Mayleen ist dieser Traum nun wahrgeworden.
„Weißt du, was mir Blake zu Weihnachten geschenkt hat?", frage ich schließlich verschwörerisch, nachdem wir uns wieder beruhigt haben. May schüttelt so wie ich vor einigen Minuten den Kopf. „Zwei Ed Sheeran Karten", berichte ich immer noch fassungslos. „In der siebten Reihe!" Meine Freundin starrt mich sprachlos an und schüttelt den Kopf. „Nein", stößt sie die angehaltene Luft aus und mustert mich prüfend. Sie denkt, dass ich lüge. „Doch", erwidere ich und nicke.
„Da soll mal noch jemand sagen, dass Blake Archer kein Herz besitzen würde", gibt Mayleen von sich und bestellt sich einen weiteren Kakao mit Sahne. „Was hast du ihm denn geschenkt?" Peinlich berührt senke ich den Blick. „Gar nichts", gebe ich dann zu. „Ich wollte ihm eigentlich noch etwas schenken, bin aber irgendwie nicht mehr dazu gekommen."
Und wahrscheinlich werde ich auch nicht mehr dazu kommen. Ich weiß, dass Blake nicht so einfach mit sich reden lässt und dieser Streit vermutlich auf ewig andauern wird. „Irgendwann bekommst du noch die Chance dazu", versucht mich May aufzumuntern, doch ich kann ihren Worten keinen Glauben schenken.
Ich habe Blake verloren.
„Bei jedem Streit ziehe die Versöhnung selbst dem leichtesten Siege vor."- Georg Christoph Lichtenberg
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro