17 - Ein altes Königspaar
Der vergangene Abend hat Spuren hinterlassen. Neben dem Muskelkater zeichnen sich nämlich Schatten unter meinen Augen ab, die verdeutlichen, dass ich kaum mehr als fünf Stunden geschlafen habe. Es ist in den letzten Tagen zu einer Art Routine geworden, dass mir meine Gedanken den Schlaf rauben. Ich denke über so vieles nach – einerseits über alles, andererseits über nichts.
Ich reibe mir erschöpft über das Gesicht und stoße einen Seufzer aus. Warum ist gerade alles so kompliziert?
„Ich gehe mit Chaya auf den Spielplatz", verkünde ich nach dem Frühstück und verschwinde mit meiner Schwester im Flur. Ich helfe ihr vorsichtig in die Winterjacke, setze ihr eine Bommelmütze auf und ziehe ihr die Schuhe an. „Pass bitte auf, okay Lucy?", mahnt mich meine Mutter besorgt. „Vor allem auf Chayas gebrochenen Arm."
„Ich weiß, Mum. Ich werde aufpassen", besänftige ich sie und verdrehe möglichst unauffällig meine Augen. Es ist richtig, dass sich Mum um uns sorgt, aber sie soll mich nicht immer unterschätzen. Ich bin schon sechzehn Jahre alt und kann gut auf meine Schwester aufpassen. Das sollte Mum auch wissen.
Damit wir endlich zum Spielplatz können, nehme ich Chaya an die Hand und hole mit ihr den Schlitten aus der Garage. Es hat die ganze Nacht geschneit, sodass die Erde nun unter einer weißen Schneedecke begraben ist. „Daaa!", jauchzt meine Schwester begeistert und deutet auf die glitzernde Masse. „Schnee", spreche ich ihr das Wort vor, was sie nachzuahmen versucht. Doch sie kann es einfach nicht aussprechen.
Chaya ist nicht die einzige, die kaum beziehungsweise gar nicht kommunizieren kann. Und vielleicht wird sie das auch niemals können. In solchen Situationen verfluche ich das Schicksal, dass ausgerechnet meine Schwester mit dem Down Syndrom geboren wurde.
Während ich vollkommen in meinen Gedanken versunken bin, trete ich den Weg zum Spielplatz an und ziehe die sechsjährige auf dem Schlitten mit. Sie brabbelt unverständliche Wörter vor sich her und lacht. Es ist wirklich schön, mitanzusehen, dass sie sich an der Welt erfreut und sich ihren Problemen nicht bewusst ist.
Ich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr wie sie.
„Wir sind da", verkünde ich der Blondhaarigen und hebe sie vom Schlitten. Wir stapfen gemeinsam durch den Schnee und steuern die Rutsche an. Bevor ich Chaya auf die Rutschfläche setze, befreie ich diese von dem Schnee. „Hui", lache ich und fange meine Schwester unten wieder auf. Ich nehme sie auf den Arm und wirbele sie einmal herum. Ihr ehrliches Lachen zaubert auch mir ein Lächeln auf die Lippen.
„Können wir euch Gesellschaft leisten?"
Ich verharre in meiner Bewegung und drehe mich erst nach einigen Sekunden um. Habe ich mich verhört oder gehört diese Stimme tatsächlich zu Shane? Ich muss schlucken, als ich daran denke, was Blake gesagt hat.
„Shane hat irgendwie Gefallen an dir gefunden."
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich dazu bereit fühle, mich umzudrehen. „Daaa", quiekt Chaya sofort aufgeregt und deutet auf den blondhaarigen Jungen. Sie scheint Shane wiedererkannt zu haben. „Ähm, natürlich könnt ihr uns Gesellschaft leisten", murmele ich und streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ich habe mich schon ziemlich lange vor einem Gespräch mit Shane gedrückt. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, meine Angst abzulegen.
„Ist das euer Schlitten?" Ich schaue überrascht auf das kleine Mädchen hinab, das auf einem Schlitten sitzt und von Shane gezogen wird. Sie hat dieselben blauen Augen wie er und auch ihre Haare erinnern mich an ihn. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Mädchen Shanes Schwester. „Ja", antworte ich ihr und lege den Kopf leicht schief. „Warum fragst du?"
„Wir können ein Wettrennen machen", schlägt sie begeistert vor und klatscht in die Hände. Dabei funkeln ihre Augen vor Freude. „Das ist eigentlich eine tolle Idee, aber meine Schwester hat sich den Arm gebrochen. Ich muss ein bisschen auf sie aufpassen", gebe ich zu bedenken und zeige dem Mädchen Chayas eingegipsten Arm. Ihr Blick wird direkt von Trauer und Mitgefühl verschleiert. „Hm", überlegt sie. „Aber sie wird wieder gesund oder?"
Ich nicke. Ihr Arm wird verheilen, das Down Syndrom hingegen nicht.
„Jeder wird wieder gesund, nur ich nicht!"
„Wie meinst du das?", hake ich nach und ziehe meine Augenbrauen in die Höhe. Die Blauäugige sieht eigentlich gesund und fit aus. „Maya sitzt im Rollstuhl", mischt sich Shane in unser Gespräch ein und schenkt mir ein Lächeln. Ich merke selber, wie ich mitleidig auf das Mädchen hinabschaue, obwohl ich solche Blicke hasse. Die meisten Menschen würden jetzt so etwas wie „Oh, das tut mir leid" sagen, aber das erscheint mir in diesem Moment nicht richtig.
Ich erinnere mich daran, wie Shane Chaya im Supermarkt zu mir zurückgebracht hat. Er war der Erste, der nicht mitleidig geguckt hat, weil er selber keine gesunde Schwester hat. Er hat ein gutes Herz.
„Wenn du möchtest, können wir das Wettrennen mit ein paar anderen Regeln trotzdem machen", schlage ich vor, da ich Mayas traurigen Blick nicht länger ertragen kann. Ihr Kopf schnellt sofort in meine Richtung, sodass ich fortfahre: „Chaya und ich bräuchten allerdings einen ordentlichen Vorsprung, da ich sie wirklich nicht schnell ziehen kann. Du und Shane müsst dann versuchen, uns einzuholen." Die Blondhaarige nickt begeistert, ehe sie zu ihrem Bruder aufschaut.
„Glaubst du, dass du es schaffst, einmal schnell zu laufen? Also so richtig schnell?", fragt sie ihn grinsend, woraufhin Shane mit den Augen rollt. Ich weiß nicht, was genau seine Reaktion in mir auslöst, aber ich nehme mir vor, heute mit ihm zu reden!
„Eben ist Shane einmal hingefallen. Dabei ist er echt ziemlich langsam gelaufen", kichert Maya leise, wofür sie sich strafende Blicke einhandelt. „Es war glatt", verteidigt sich Shane und wuschelt dem Mädchen durch die Haare. Sie scheinen eine sehr gute Geschwisterbindung zueinander zu haben, was ich total süß finde. Die Familie steht an oberster Stelle.
„Okay", klatsche ich in die Hände. „Ihr startet am Zaun und wir starten am Karussell. Das Ziel ist am Eingang, einverstanden?" Maya und Shane nicken, sodass wir uns alle auf unsere Position begeben. Ich stelle noch einmal sicher, dass Chaya richtig auf dem Schlitten sitzt, ehe ich das Startkommando gebe.
Ich laufe langsam durch den Schnee und höre das ausgelassene Lachen von Maya, Shane und Chaya. Sie alle genießen diesen Moment, ohne darüber nachzudenken, was in den kommenden Tagen passieren könnte. Sie leben im Hier und Jetzt und das sollte ich auch tun. „Schneller, Shane!", ruft Maya. „Beeil dich!" Das Geschwisterduo kommt immer näher auf uns zu und könnte uns eigentlich überholen, aber Shane lässt Chaya und mich extra gewinnen.
„Gewonnen, Caya", lächele ich meiner Schwester zu und nehme sie auf den Arm. Ihr Jauchzen erfüllt die kalte Winterluft und steckt uns alle an. „Darf ich mit ihr spielen?", reißt mich Maya in die Realität zurück. Shane ist gerade dabei, sie vom Schlitten zu heben und im Schnee abzusetzen. „Du musst aber besonders gut auf ihren linken Arm aufpassen", mahne ich sie und warte auf ihr Nicken.
„Unser Cousin hatte auch schon Mal den Arm gebrochen. Erst durfte ich nicht mit ihm spielen, aber nachher hat Mama das doch erlaubt. Und es ist auch nichts passiert! Ich passe gut auf!", beteuert die Blondhaarige mit großen Augen. „Gut", lächele ich und setze ihr vorsichtig Chaya auf den Schoß.
Es ist schön, zu sehen, dass Maya meine kleine Schwester nicht verurteilt oder sie anders behandelt. Sie sieht, dass Chaya nicht normal ist, aber das scheint ihr egal zu sein.
Shane und ich stehen mehrere Minuten stumm neben unseren Schwestern, ehe ich mich zusammenreiße und das Wort ergreife. „Können wir reden?" Als hätte er bereits mit dieser Frage gerechnet, nickt er und führt mich zu einer Bank. Wir sitzen nun etwas abseits von unseren Schwestern, haben sie aber immer noch gut im Blick.
„Stimmt es, was Blake gesagt hat?", frage ich Shane gerade heraus und breche unseren Blickkontakt ab. Blakes Augen sind eisblau, Shanes hingegen erinnern an ein himmelblau. „Was hat er denn gesagt?" Ich seufze. „Er meinte, dass du Interesse an mir hättest", murmele ich. „Und das, obwohl du mich nur aus Erzählungen kennst." Shane schweigt für einen kurzen Moment. Sein Blick verliert sich am wolkenvergangenen Himmel und droht, davonzufliegen.
„Ja, es stimmt", gibt er schließlich zu. Seine Worte überraschen mich ehrlich gesagt und treffen mich somit auch unvorbereitet. Bis jetzt habe ich nicht gewusst, dass auch nur ein einziger Junge Interesse an mir zeigt. „Ich kann das nicht richtig erklären, aber du bist ziemlich interessant. Ich habe mich immer gefragt, was wohl hinter deiner Fassade ist", wispert Shane. „Was du zu verstecken versuchst."
Ihm ist also aufgefallen, dass ich mit einer Maske herumlaufe. Auch wenn ich es süß finde, dass er so aufmerksam ist, kann ich ihm nicht von meiner Panik und Lucia erzählen.
„Ich wollte dich schon so verdammt lange ansprechen, aber ich habe mich nie getraut. Blake ist zwar mein bester Freund, aber wir sind komplett gegensätzlich. Er ist selbstbewusst und ich bin zu schüchtern, um Kontakt zu dir aufzubauen." Shanes Augen sind wie ein Spiegel seiner Seele. Ich kann in ihnen sehen, dass er die Wahrheit sagt.
„Na ja, aber wie es scheint, habe ich jetzt gerade meine Chance erhalten – dank Maya." Ein breites Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Shane war schon immer der Unscheinbare für mich, dabei hat er ein sehr großes und reines Herz. Er sollte aufhören, seine Zeit mit den falschen Personen zu verschwenden.
„Du und Blake – was läuft da eigentlich zwischen euch?", erkundigt er sich nach einer Weile bei mir. „Ich habe ihm gesagt, dass er nicht mit dir spielen soll, aber ob er sich daranhält, weiß ich nicht. Ich hoffe es jedenfalls."
„Wir sind Freunde", wiederhole ich die verhängnisvollen Worte vom Vortag. Irgendwie war diese Tatsache gestern schmerzhafter als heute. „Okay", lächelt Shane. „Vielleicht können wir zwei auch Freunde werden?!" Die Unsicherheit in seiner Stimme lässt mich schmunzeln.
„Klar", antworte ich und umarme ihn. „Aber dafür musst du mir sagen, wer Sabrina ist." Seine Gesichtszüge verhärten sich. „Tut mir leid, wenn ich es jetzt so grob ausdrücken muss, aber sie war Blakes Fickobjekt. Sie haben fast über ein halbes Jahr Freundschaft Plus miteinander geführt. Sie-"
Ich bedeute ihm hastig, zu schweigen, denn die Informationen erreichen nur langsam mein Hirn. Ich hätte mir denken können, dass die Gerüchte stimmen und Blake zu dieser Sorte Jungs gehört. Anstatt auf die große Liebe zu warten, sucht er sich ein beliebiges Mädchen, das seine Bedürfnisse befriedigt.
„Eine Frage habe ich aber noch. Was hat es mit Blakes Stimmungsschwankungen auf sich?" Ich hoffe wirklich, dass Shane meine Frage beantworten kann, aber ich sehe schon an dem Ausdruck in seinen Augen, dass das Gegenteil zutrifft. „Tut mir leid, aber das muss er dir selber sagen. Es reicht, wenn du weißt, dass er nichts für diese aggressive und bösartige Seite kann."
Shanes Worte verwirren mich. Da mir allerdings bewusst ist, dass er mir keine weitere Auskunft darüber geben wird, wechsele ich das Thema. „Sollen wir mal nach unseren Schwestern sehen?" Der Blauäugige nickt, sodass wir wenig später zu viert im Schnee sitzen.
„Was macht ihr?", wendet sich der Blondhaarige neugierig an die Mädchen und zieht sich die Mütze wieder über die Ohren. „Wir haben einen Schneepalast gebaut. Das sieht man doch", schüttelt Maya den Kopf und verweist auf einen Haufen Schnee. „Chaya ist die Eisprinzessin und ich bin die Schneekönigin."
„Und wer dürfen wir sein?", frage ich und tausche einen Blick mit Shane aus. Chaya und ich sollten uns von nun an häufiger mit den beiden treffen. „Hm", grübelt Maya. „Vielleicht das alte Königspaar?"
„Hey! So alt sind wir noch gar nicht!", beschwert sich ihr Bruder grinsend und seift sie mit Schnee ein. Maya windet sich lachend unter seinen Berührungen und schlägt mit den Armen um sich. Meine Schwester beobachtet das Szenario und stimmt in Mayas Lachen ein. „Na gut. Dann seid ihr halt der normale Prinz und die normale Prinzessin", entscheidet die Blauäugige und wendet sich dann wieder Chaya zu. Ich bewundere ihre Loyalität wirklich sehr.
„Was macht Blake denn hier? Er wohnt doch gar nicht in dieser Gegend", reißt mich irgendwann Shanes Stimme aus den Gedanken. Meine Augen suchen automatisch die Umgebung ab, bis sie auf ein kaltes Blau treffen. „Vielleicht war er in der Nähe", zucke ich mit den Schultern und erhebe mich. Ich klopfe mir den Schnee von der Hose und eile dann mit einem „Komme sofort wieder" zu Blake.
Blake hat seine Hände in den Hosentaschen vergraben und mustert mich eindringlich. „Hey", begrüße ich ihn freundlich, doch er erwidert diese Geste nicht. „Du und Shane also?", fragt er und runzelt die Stirn. Wo genau liegt gerade sein Problem? „Wir haben uns zufällig auf dem Spielplatz getroffen. Unsere Schwestern spielen zusammen", rechtfertige ich mich vor ihm, obwohl ich ihm keine Erklärung schuldig bin. „Wenn du willst, kannst du dich zu uns gesellen."
Ein spöttisches Lachen überkommt seine Lippen. „Wir haben glaube ich eine andere Definition von Spaß. Meine Definition heißt nämlich Sabrina Carter." Ich presse meine Lippen aufeinander und verenge meine Augen zu Schlitzen. Was Blake kann, kann ich schon lange!
„Okay. Meine Definition heißt Shane Wyler!" Mit diesen Worten drehe ich mich von Blake weg und stapfe zurück auf den Spielplatz. Soll er doch zu seiner Sabrina gehen und sie aus Versehen schwängern!
„Im Winter wird jedes Lächeln zum hellsten Licht."- Monika Minder
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