16 - Lilys Bordell
„Sag mal Lucy, was hast du da eigentlich im Gesicht?", räuspert sich Blake plötzlich leise, ohne von seinem Handy aufzuschauen. Da ich heute kein Training geben muss - die Grippewelle lässt grüßen - und meine Eltern nicht zu Hause sind, haben wir uns dazu entschlossen, gemeinsam Zeit zu verbringen. Blake liegt mit seinem Handy auf meinem Bett und ich bin in ein Buch vertieft.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Blauäugige seit sechs Tagen - dem Tag, an dem wir in der Trampolinhalle waren - anders ist. Er hat mich nach der Schule nicht mehr nach Hause gebracht, mich auf dem Pausenhof mehr oder weniger ignoriert und ist generell ziemlich verschlossen. Er ist kaum wiederzuerkennen.
Die Zeit ohne ihn habe ich dazu genutzt, um ein Gespräch mit meinen Freundinnen zu suchen, doch sie haben alle drei komplett abgeblockt. Anscheinend ist ihnen unsere Freundschaft nicht mal ansatzweise so wichtig, wie mir.
„Was meinst du?", hinterfrage ich schließlich Blakes Worte und lege mein Buch zur Seite. Manchmal kann ich aus dem Blondhaarigen einfach nicht schlau werden und dieser Moment gehört eindeutig dazu. „Na, du. Du", druckst er verlegen herum und fuchtelt mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum. Kann er nicht normal mit mir reden?
„Ich, was?", hake ich leicht genervt nach und fahre die Konturen meines Gesichtes nach. Findet er es etwa schlimm, dass ich ungeschminkt bin und meine Haut deshalb an einigen Stellen gerötet ist? „Du-"
„Sag mir doch einfach, dass du mich ungeschminkt hässlich findest, Blake", stoße ich ihm spielerisch in die Seite. Doch anstatt mein Lachen zu teilen, bleibt er vollkommen ernst. Wow. Er findet mich also tatsächlich nur geschminkt hübsch. „Oh", raune ich. „Jetzt weiß ich ja Bescheid."
Warum müssen die Menschen immer so verdammt oberflächlich sein? Ich könnte zwar ein hübsches Gesicht haben, aber wenn mein Charakter hässlich wäre, so wäre ich als gesamter Mensch hässlich. Ich muss zugeben, dass mich Blakes Denkweise traurig macht und verletzt. Ich dachte, er hätte sich in den letzten Tagen geändert.
„Lucy", setzt Benannter verzweifelt an, während er den Pickel oberhalb meiner rechten Augenbraue fokussiert. „Nein nein, ist schon okay", wimmele ich ihn ab, da ich es nicht ertragen könnte, wenn er gemeine Bemerkungen von sich geben würde. Es ist wirklich lächerlich, dass ich dachte, Blake würde mich so akzeptieren, wie ich bin. Und dazu gehört auch mein ungeschminktes Ich. Nur weil ich kein Make Up trage, bin ich ja immer noch dieselbe Person.
„Es ist nur so, dass ich Pickel hasse. Die sind nämlich echt ekelig", schüttelt sich Blake, ehe er wieder auf sein Handydisplay starrt. „Das ist etwas vollkommen Natürliches. Ich bin sechszehn Jahre alt und mitten in der Pubertät. Ich hätte auch gerne so reine Babyhaut wie Mayleen, aber die habe ich nun einmal nicht." Verständnislos wende ich mich von dem Blondhaarigen ab und verstecke mein Gesicht hinter dem Buch.
Herzlichen Glückwunsch, Blake, du bist offiziell ein oberflächliches Arschloch!
Tatsächlich verletzt mich sein angewiderter Blick so sehr, dass mir eine Träne über die Wange kullert. „Ach ja, du musst nicht bleiben, wenn dich mein Anblick so sehr verstört. Du kannst auch gehen", gebe ich leise von mir und hoffe insgeheim, dass er bleibt.
Doch mal wieder täusche ich mich in Blake.
„Okay. Wir sehen uns." Mit diesen Worten hastet der Blauäugige aus meinem Zimmer, ohne mir überhaupt einen letzten Blick zuzuwerfen. Der perfekte Ferienbeginn.
Von Wut geleitet erhebe ich mich von meinem Bett und husche ins Badezimmer. Ich habe mich noch nie richtig geschminkt, doch irgendwann ist anscheinend immer das erste Mal. Wenn Blake unbedingt eine Schminkpuppe haben will, dann bekommt er auch eine!
Eine gute Stunde später sehe ich so aus, wie ich eigentlich nie aussehen wollte: Wie eine unechte Barbiepuppe. Ich fühle mich, als würde ich mindestens zehn Kilo Schminke tragen und auch der knallrote Lippenstift erinnert mich wieder daran, wie lächerlich ich aussehe. Aber an genau solchen Mädchen hat Blake Gefallen.
Um mein Make Up zu unterstreichen, lackiere ich mir noch zusätzlich die Nägel und glätte meine Haare. Zum krönenden Abschluss schlüpfe ich in ein enganliegendes, schwarzes Kleid und ebenso nachtfarbene High Heels. Ein letzter, prüfender Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich albern aussehe. Trotzdem möchte ich meinen Plan unbedingt umsetzen, weshalb ich mich auf den Weg zu Blakes Wohnung mache.
Ich brauche fast eine Dreiviertelstunde und stehe nun durchgefroren vor seiner Haustür. Meine Hände zittern und mein Herz überschlägt sich, doch ich schiebe es auf die Kälte. Ich habe keinen Grund, um nervös zu sein. Das ist nur Blake. Ein oberflächlicher Idiot.
„Lucy? Was machst du denn hier?", fragt mich der Blondschopf verwundert und bittet mich dann in seine Wohnung. Im Gegensatz zu mir sieht er noch genauso aus, wie vor einigen Stunden. „Gefalle ich dir so besser? Ohne Pickel und dafür mit zehn Tonnen Make Up im Gesicht?"
Anstatt mir eine Antwort zu geben, führt mich Blake zu seinem Auto und verlässt die Stadt. Ich wage es nicht, die Stille zu durchforsten und wärme mich bloß an der Sitzheizung auf. Die Fahrt dauert etwas mehr als fünfzehn Minuten.
„Blake?"
„Hm?"
„Was machen wir hier?" Ich betrachte verwundert das Gebäude, auf dem in roten Leuchtbuchstaben Lilys Bordell steht. Ich hoffe wirklich, dass Blakes Grund plausibel ist, ansonsten renne ich von diesem Ort weg. Und zwar so schnell, es geht. „Wirst du schon sehen", schmunzelt mein Gegenüber und zieht mich am Arm hinter sich her. Nur mit Mühe und Not kann ich bei seinem schnellen Tempo Schritt halten.
Im Inneren des Bordells ist es stickig und warm. Obwohl noch keine Besucher da sind, riecht es überall nach Zigaretten und Alkohol. Irgendwie widert mich dieser Ort an. „Wie meinst du das? Sag mir jetzt sofort, was wir hier machen!" Ehe Blake zu einer Antwort ansetzen kann, kommt eine schlanke Frau in knallpinken High Heels auf uns zu stolziert.
„Blake, mein Hübscher. Lang ist's her", grinst sie den Blondhaarigen an und drückt ihm mit ihren roten Lippen einen Kuss auf die Wange.
Es dauert keine Sekunde, bis mir auffällt, dass ich ebenso lächerlich aussehe wie sie.
„Jillian", erwidert Blake erfreut die Begrüßung und zieht die brünette Frau in seine Arme. „Ist das die Kleine, von der du mir mal erzählt hast?", hakt Jillian lächelnd nach, während sie mich von oben bis unten mustert. Woher kennt Blake diese Frau? Hatte er etwa schon mal das Vergnügen, sich ein Bett mit ihr zu teilen? „Ganz genau. Jillian, das ist Lucy."
„Freut mich, meine Süße", umarmt sie mich überschwänglich und drückt mir einen Kuss auf. Ich schiebe die leicht bekleidete Frau von mir und wische mir angeekelt über die Wange.
„Kannst du mir jetzt bitte mal erklären, was dieses Theater hier soll, Blake?", erkundige ich mich bei dem Blauäugigen und verschränke die Arme vor der Brust. Er wird mich schließlich nicht umsonst in ein Bordell geführt haben. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. „Oh mein Gott!", kreische ich und entferne mich einige Schritte von ihm. „Du willst, dass ich mich für dich ausziehe und strippe, habe ich Recht? Scheiße Blake, das werde ich nicht tun. Niemals!" Geschockt von meiner späten Einsicht schüttele ich den Kopf. Das ist wirklich krank.
„Beruhige dich mal wieder, Lucy. Das hier ist ein sauberes Bordell und du bist noch minderjährig", versucht mich Blake zu besänftigen, scheitert jedoch kläglich. Jedes Wort, das seine Lippen verlässt, stimmt mich noch wütender. „Bring mich nach Hause! Sofort!", fordere ich ihn auf und verlagere mein Gewicht von dem einen Bein auf das andere.
Ein paar Minuten länger in diesem Bordell und ich verliere den Verstand.
„Chill doch! Jillian ist meine Cousine und da du so nuttig vor meiner Haustür aufgekreuzt bist, dachte ich, bringe ich dich hierher", erklärt Blake und verdreht seine Augen. Meiner Meinung nach ist das keine gute Erklärung. „Auf jeden Fall sehr temperamentvoll deine Freundin, Blaki", amüsiert sich Jillian, während sie ihre giftgrünen Nägel betrachtet. Wie können diese beiden Personen miteinander verwandt sein?
Obwohl - sie wirken beide oberflächlich.
„Ich bin nicht seine Freundin!", zetere ich auch sogleich los und marschiere Richtung Ausgang. „Und nach dieser Aktion werde ich es auch niemals sein!"
Erstarrt halte ich inne. Ich kann Blakes Blick in meinem Rücken spüren, weshalb ich es nicht wage, mich zu ihm umzudrehen. Ich habe gerade tatsächlich indirekt zugegeben, dass ich mir vorstellen könnte, unter anderen Umständen seine feste Freundin zu sein.
Scheiße!
„Ich hatte beziehungsweise habe keine bösen Absichten, Lucy", ignoriert der Blondschopf zum Glück meine vorherige Aussage und greift nach meinem Handgelenk. Er dreht mich langsam zu sich um, sodass meine grünen Augen mit seinen blauen verschmelzen. „Du hast es nicht nötig, wie eine Nutte herumzulaufen. Das bist nicht du, Gabriella", haucht er und führt mich zu einem Spiegel. Mir wird erneut vor Augen geführt, wie lächerlich ich aussehe.
„Nur weil ich eine totale Abneigung gegenüber Pickeln habe, sollst du dich nicht verstellen. Ich habe dich mal wieder mit meinen Worten verletzt - das weiß ich jetzt. Nimm dir bitte nicht immer alles so sehr zu Herzen, was ich sage oder mache." Ich wende den Blick von meinem Spiegelbild ab. „Du bist hübsch, so wie du bist." Blake ringt kurz mit sich. „Ob mit oder ohne Pickel ist vollkommen egal."
Um seine Worte zu unterstreichen, greift er nach einem Abschminktuch und beginnt damit, die ganze Schminke aus meinem Gesicht zu entfernen. „Siehst du? Viel besser", lächelt er mich an und hebt mein Kinn, sodass ich gezwungen bin, in den Spiegel zu gucken. Meine Haut glänzt ein bisschen und weist wieder die üblichen roten Stellen auf, doch es ist mir egal.
Ich fühle mich schön. Blake hat mir das Gefühl gegeben, hübsch zu sein.
„Das Kleid steht dir übrigens super", zwinkert er mir frech zu und leckt sich über die Lippen. Eine einfache Geste, die mir zeigt, dass ich von ihm begehrt werde - trotz Pickel. „Wir sehen uns, Jillian", verabschiedet er sich schließlich von seiner Cousine und macht sich dann mit mir auf den Heimweg.
Wir schweigen. Ich weiß nicht so richtig, ob ich den Besuch in dem Bordell als positiv oder negativ einstufen soll. Blake war zwar total süß und liebevoll zu mir, aber ob er tatsächlich die Wahrheit ausgesprochen hat, bleibt fraglich.
„Ist zwischen uns alles wie immer?", frage ich ihn nach einer Weile unsicher und beiße mir auf die Unterlippe. Ich merke, dass sich etwas zwischen uns geändert hat. Wir sind vertrauter miteinander und fühlen uns vielleicht sogar zueinander hingezogen. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass uns diese Veränderung nicht auseinandertreibt.
„Alles wie immer", murmelt Blake zu sich selber. „Wir sind Freunde." Ich nicke.
Freunde...
Blakes Stimme hört sich so gebrechlich und verletzlich an, dass ich dem Gedanken folge, mir diesen Unterton bloß eingebildet zu haben. Normalerweise ist er selbstbewusst und lässt sich seine Gefühle nicht anmerken. „Freunde klingt gut", hauche ich und ringe mir ein schiefes Lächeln auf die Lippen. Menschen, die mich wirklich kennen, würden direkt erkennen, dass es kein echtes Lächeln ist. Ich weiß selber nicht genau, was mich an dem Wort Freunde stört.
Ich vertraue Blake - auch wenn er mich verletzt - und kann mit ihm zusammen Spaß haben. Er ist in den letzten Tagen ein ziemlich guter Freund geworden. Wenn ich ehrlich zu mir selber bin, fühle ich mehr als nur Freundschaft. Ich bin zwar nicht in den Blauäugigen verliebt, allerdings fühle ich mich zu ihm hingezogen. Jetzt, wo ich ihn näher kennengelernt habe, nehme ich sein Erscheinungsbild ganz anders wahr.
Ich sehe nicht mehr den aggressiven Jungen aus dem Park in ihm, sondern den fröhlichen Mann, der mit mir im Mondschein und Schnee getanzt hat. Der mich zum Lächeln bringt und mein Herz erwärmt.
„Bitte denk daran, dich nicht zu verstellen, okay?", vergewissert sich der Blauäugige mit Nachdruck in der Stimme, als er das Auto vor unserem Haus parkt. Unsere Blicke verschmelzen miteinander, doch binnen weniger Sekunden schauen wir beide in eine andere Richtung. Schon wieder so ein Moment, der mir zeigt, dass sich etwas geändert hat.
„Okay", wispere ich und öffne die Autotür. „Schöne Weihnachten, Blake."
„Frohe Weihnachten, Lucy."
Sobald ich die quietschenden Autoreifen höre, ruht eine unheimliche Last auf meinem Herzen. Es ist ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Blake und ich sind uns teilweise so nahe, aber dann doch so weit voneinander entfernt. Wie gerne ich mit meinen Freundinnen darüber reden würde.
Für den Rest des Abends schließe ich mich in meinem Zimmer ein und drehe die Musikbox auf volle Lautstärke. Ich mache zum ersten Mal ein Workout, um mich abzulenken.
In zwei Tagen ist schon Weihnachten - die angeblich schönste Zeit im Jahr. Doch für mich ist es momentan die schlimmste Zeit im Jahr. Ich habe meine Freundinnen verloren und das, was zwischen Blake und mir war, zerbricht auch so langsam. Lucia hätte es verdient, ein besseres Leben zu leben, als ich es tue.
„Schönheit beginnt in dem Moment, in dem du beschließt du selbst zu sein."- Coco Chanel
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