14 - Tränen der Sehnsucht
Tränen rinnen über meine Wangen. Tränen rauben mir den Atem. Tränen lassen mein Herz entzweigehen.
Ich hocke schluchzend auf den Küchenfliesen und versuche, mich gegen die aufkeimenden Emotionen zu wehren. Angst. Ich habe solche Angst. Eigentlich muss ich stark bleiben – wenigstens dieses eine Mal – doch es klappt nicht. Mein Herz hämmert viel zu schnell gegen meine Brust und die Schluchzer ersticken in meinen Tränen. Der Schmerz schlängelt sich durch meine Venen, bis er eine Spur aus Gift in meinem ganzen Körper hinterlassen hat.
Von überall prasseln Stimmen auf mich nieder, die sich zu einem Schreien verwandeln und mir den Verstand rauben. Ich bilde mir ein, Lucia sehen zu können. Ihre Stimme zu hören, obwohl sie nie die Chance hatte, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Sie hatte nicht einmal die Chance, zu leben.
Und ich bin diejenige, die ihr diese Chance genommen hat.
Ich alleine.
Eine Mörderin – ja, das bin ich.
„Lucy!" Da ist diese Stimme, die sich beißend schwer über meine Gedanken legt. Hört sich so der Tod an? „Lucy Schatz, das ist nicht real!" Wenn es nicht real ist, warum fühlt es sich dann so verdammt echt an? Ich versuche meine Hand anzuheben und sie der Person entgegenzustrecken, doch ich kann nicht. Mein Körper zittert und hört nicht auf meine Befehle.
Ich bin wie gelähmt. Der Schmerz betäubt mich.
„Lucia!"
Der Name meiner Zwillingsschwester reicht aus, um mich in die Realität zu befördern. Mein Vater hockt besorgt neben mir und streicht mir vorsichtig die Tränen von den Wangen. Mum steht mit Chaya auf dem Arm im Türrahmen und schaut nicht weniger besorgt auf mich hinab.
Ich habe das Gefühl, dass ich momentan ein Problemkind bin und ihnen bloß Sorgen bereite.
„Es- Es tut mir leid", hauche ich mit brüchiger Stimme. „Alles." Ich erhebe mich wackelig von den Fliesen und nehme meiner Mutter Chaya ab. Sie ist meine kleine Schwester, also sollte ich sie nicht so sehr vernachlässigen. Ich kann froh sein, überhaupt eine Schwester zu haben, die noch lebt. „Tut mir leid, Chaya", entschuldige ich mich bei ihr und drücke ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie gibt daraufhin unverständliche Laute von sich und tatscht mit ihren Händchen über mein Gesicht. Ihr linker Arm ist von einem Gips umhüllt. Sofort fühle ich mich wieder schuldig.
Wie konnte ich auch nur so blöd sein und vergessen, auf meine Schwester aufzupassen? Seit wann hat Blake eine höhere Priorität als sie?
„Ich wollte das nicht", murmele ich und setze die sechsjährige auf dem Boden ab. Hätte ich nicht vergessen, dass ich heute auf sie aufpassen müsste, wäre das alles nicht passiert. Ohne es kontrollieren zu können, kullern die nächsten Tränen über meine Wangen. Ich bin ein schlechter Mensch. „Ganz ruhig, Lucy", redet Dad auf mich ein, doch ich kann seine Worte nicht mehr ertragen. Er hält mir gerade nur keine Standpauke, weil ich schwach bin.
Mit verschleierter Sicht irre ich in mein Zimmer und lasse mich auf mein Bett fallen. Momentan ist irgendwie alles scheiße. Ich habe zwar Blake an meiner Seite, aber dafür meine besten Freundinnen verloren. Ohne Mayleen, Leia und Roxana bin ich ein Niemand.
Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen. Vielleicht sogar so weit, dass Lucia überlebt und ich an ihrer Stelle in den Himmel aufsteige.
„Lucy. Darf ich reinkommen?", ertönt plötzlich die Stimme meiner Mutter, gefolgt von einem Klopfen. Ich wische mir schnell über das Gesicht und presse mein Kopfkissen noch enger an meine Brust. „Nein!", antworte ich und beobachte die Glasperlen, die von meinem Kinn auf meine Bettdecke tropfen.
„Schatz, ich höre doch, dass du weinst", sagt Mum besorgt. Ich wische mir erneut über das Gesicht, ehe ich ein „Nein! Und geht jetzt!" hervorpresse.
Einige Sekunden ist es vollkommen still, sodass ich denke, meine Mutter lässt mich tatsächlich wieder alleine, doch da öffnet sich auch schon die Tür. Noch bevor Mum meinen verweinten Blick auffangen kann, verstecke ich mein Gesicht hinter dem Kopfkissen. „Was ist passiert?" Ich verweile in meiner Position und lausche den Schritten, die sich auf mein Bett zubewegen. Im nächsten Moment sitzt Mum neben mir.
„Ich habe gesagt, dass du gehen sollst, Mama!", schluchze ich und kneife meine Augen zusammen. Sie sollte gerade bei Chaya sein und ihr ein Buch vorlesen, anstatt bei mir auf der Bettkante zu hocken. Ich bin ihre Aufmerksamkeit gar nicht wert. „Du kannst immer mit mir reden, wenn dich etwas bedrückt. Ich hoffe, das weißt du, Lucy", streichelt mir Mum zärtlich über den Kopf.
Ich überlege einen Augenblick. Vielleicht ist es sogar hilfreich, mich einer Person anzuvertrauen.
„Ich habe mich mit May, Lee und Roxy zerstritten. Aber so richtig", bringe ich schließlich unter mehreren Schluchzern hervor. Ich kann es immer noch nicht realisieren, dass wir von nun an getrennte Wege gehen werden. Wir kennen uns schon so lange, dass die drei bereits ein Teil meiner Familie geworden sind.
Ich kann diesen Teil nicht verlieren!
„Oh, Lucy. Ihr bekommt das wieder in den Griff – glaub mir. Eure Freundschaft hat jetzt schon über so viele Jahre angehalten. Das werdet ihr nicht so einfach wegschmeißen."
„Wir haben unsere Freundschaft aber schon längst weggeschmissen. Wir ignorieren uns. Wir sind wie Fremde. Das, was bis vor ein paar Tagen noch war, gibt es heute nicht mehr." Es tut weh, diese Tatsache laut auszusprechen. Mayleen, Roxana und Leia leben zwar noch in meiner Vergangenheit, aber die Zukunft werde ich ohne sie bestreiten müssen.
„Wie lange kennst du Roxy nun schon?", möchte Mum vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen wissen. Mit gerunzelter Stirn mustere ich sie. „Seit fünfzehn Jahren, warum?", antworte ich und wische mir die Tränen von den Wangen. „Und wie lange kennst du Leia schon?", fährt sie unbeirrt mit ihrer Fragerei fort. „Was soll das, Mum?"
„Antworte einfach!", befiehlt sie und knufft mich leicht in die Seite. Warum möchte sie das auf einmal wissen? „Seit dreizehn Jahren."
„Und Mayleen?"
„Seit acht Jahren." Sie nickt zufrieden. „Na siehst du. Ihr kennt euch viel zu lange, als dass eure Freundschaft nun für immer zerbrochen sein wird. Die Vergangenheit verbindet euch miteinander", versucht sie mir Mut zuzureden, bevor sie mir einen Kuss auf die Stirn haucht. So gerne ich Mums Worten auch Glauben schenken möchte, ich kann es nicht.
„Richtig, die Vergangenheit, aber nicht die Gegenwart", murmele ich und kuschele mich unter die Bettdecke. Der Schlaf ist meine einzige Möglichkeit, für ein paar Stunden zur Ruhe zu kommen. „Hab ein bisschen Geduld, Maus. Und wenn etwas ist, kannst du jederzeit mit mir oder deinem Vater reden", seufzt Mum und erhebt sich von der Bettkante. Die Anstrengung der vergangenen Stunden zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. „Ich weiß. Danke."
„Schlaf jetzt, Lucy", haucht sie und lässt mich wieder alleine in der Dunkelheit zurück.
-
Ich dachte tatsächlich, dass mir der Schlaf Ruhe spenden würde, aber das hat er nicht getan. Albträume haben mich geplagt und dafür gesorgt, dass ich die halbe Nacht kein Auge zugemacht habe.
„Wow", grinst Blake spöttisch, als ich das Schultor erreiche. „Willst du den Preis für die hässlichste Schülerin bekommen oder warum läufst du wie ein Zombie herum?" Natürlich verletzt mich seine Aussage, aber ich ignoriere sie.
Ich weiß, dass Schatten unter meinen Augen liegen, meine Haut unrein und gerötet ist und meine Haare in alle Richtungen abstehen. Es ist also nicht nötig, dass mich Blake noch einmal daran erinnert. Außerdem habe ich keine Lust, mich wieder mit ihm zu streiten und mich seinetwegen unwohl zu fühlen.
Ich durchlebe den Schultag wie in einer Art Trance. Körperlich bin ich zwar anwesend, aber geistig ganz und gar nicht. Meine Gedanken kreisen um meine Freundinnen, um meine Schwester und um das Gespräch mit meiner Mutter. Ich kann mich weder auf den Unterricht konzentrieren noch auf Blakes fiese Worte, die er mir nach Schulschluss an den Kopf wirft.
„Wenn du die hübsche Lucy wiedersiehst, richte ihr einen Gruß von mir aus."
„Arschloch", murmele ich und laufe Richtung Bushaltestelle. Warum sollte ich mich auch von Blake nach Hause fahren lassen, wenn er mich eh den ganzen Weg über erniedrigen würde? So langsam zweifele ich an ihm und seinen Worten. Angeblich kann er ja nichts dafür, wenn er sich so dämlich verhält, aber wer kann es dann?
„Lucy, warte! Ich habe es nicht so gemeint!" Ich ignoriere den Blondschopf und verschnellere meine Schritte. Als ich jedoch bemerke, dass er mir folgt, schreie ich wütend: „Lass mich in Ruhe, Blake! Du verletzt jeden um dich herum mit deinen Worten, ohne dass du es überhaupt merkst!" Ich drehe mich so schwungvoll zu ihm, dass ich gegen seine Brust pralle. Seine blauen Augen sind geweitet und ich bilde mir ein, einen Funken Reue in ihnen aufblitzen zu sehen.
„Es tut mir leid, okay?", stößt er einen Seufzer aus und öffnet die Arme. „Hör auf, zu lügen!" Dieses Mal werde ich es ihm nicht so einfach machen. Ich vergebe ihm erst, wenn er seine Worte wirklich bereut. „Lass es mich wiedergutmachen, indem ich dich heute Abend zum Essen ausführe."
„Hörst du mir eigentlich gar nicht zu, wenn ich mit dir rede?", frage ich ihn enttäuscht. „Ich muss heute die Kleinen trainieren!"
„Danach", murmelt Blake. „Nachdem du geduscht hast", fügt er noch hastig hinzu. Ich weiß selber nicht warum, aber ich würde ihn gerne wiedersehen. Das Problem ist nur, dass ich meinem Vater heute Morgen versprochen habe, mich um Chaya zu kümmern. Ich kann sie nicht wieder fallen lassen. Meine Schwester hat Priorität.
„Ich habe keine Zeit für dich", sage ich daher emotionslos und stelle genervt fest, dass der Bus bereits abgefahren ist. Und zwar ohne mich.
„Dann lass mich dich wenigstens nach Hause fahren", deutet Blake meinen Blick und greift nach meinem Handgelenk. „Meine Hässlichkeit würde dich nur vom Fahren ablenken", gifte ich zurück und trete den Heimweg an. Ich habe gerade keinen Nerv für den Blondschopf und seine dämlichen Stimmungsschwankungen.
Mittels meiner Kopfhörer kapsele ich mich von der Außenwelt ab und gewähre den ersten Tränen Zugang an die Freiheit. Es dauert nicht lange, da vermischen sie sich mit Regentropfen. Wie ironisch, dass sich das Wetter meiner Gefühlslage anpasst. Klitschnass renne ich die Straßen entlang, ohne meinem Haus näher zu kommen. Ich laufe Umwege, damit ich Zeit schinden kann.
Ich möchte nachdenken. Über meine Freundinnen. Über Blake. Über mein Leben.
Nach einer Weile fährt ein Auto in Schrittgeschwindigkeit neben mir her, sodass ich mir schnell über das Gesicht wische. Ich bin mir bewusst, dass es nur Blake ist, aber er soll mich trotzdem nicht in diesem Zustand sehen. Wenn ich weine, bin ich schwach und wenn ich schwach bin, bin ich angreifbar.
„Steig bitte ein", ertönt Blakes Stimme. Unsere Blicke verschmelzen miteinander, weshalb sich seine Augen weiten. „Du hast geweint", stellt er fest. Da ich ihm diese Genugtuung nicht geben möchte, starre ich bloß weiterhin in seine Augen, ohne eine Reaktion von mir zu geben.
„Steig bitte in das Auto, Lucy", wiederholt sich der Blondhaarige und klopft auf den Beifahrersitz. Irgendwie bin ich mir heute zu stolz dafür, so schnell nachzugeben und laufe deshalb an seinem Auto vorbei.
Gerade als ich denke, dass mir Blake nicht mehr folgt – weil ich keine Motorengeräusche mehr höre – umschließen zwei Hände meine Oberarme. Blakes Hände. Er dreht mich zu sich und schaut mich besorgt an. „Ich war mein Leben lang scheiße zu anderen Menschen", beginnt er zu reden. „Und dieses Verhalten kann ich leider nicht von heut auf morgen ändern. Vielleicht kann ich es auch nie ändern. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber diese gemeine Seite ist ein Teil von mir."
Die Wahrheit ist erschreckend.
„Glaub mir bitte, wenn ich sage, dass es mir wirklich leidtut, Lucy. Ich würde dir so gerne alles über mich erzählen, aber es ist zu früh. Hab Geduld und gib mich nicht auf." Blake tritt einen Schritt auf mich zu und streicht mir die nassen Haarsträhnen aus der Stirn. Fürsorge verschleiert seine Pupillen und verdrängt somit die Abscheu, die noch vor wenigen Minuten in seinem Blick lag.
„Okay", hauche ich schließlich erschöpft und lasse mich in seine Arme fallen. Vermutlich ist es naiv, aber ich glaube Blake wirklich, dass es eine Erklärung für sein Verhalten gibt.
„Darf ich dich dann jetzt nach Hause bringen?", durchforstet der Blauäugige nach einigen Minuten, in denen wir umarmend im Regen stehen, die Stille und schenkt mir ein Lächeln. „Nichts lieber als das", erwidere ich und hake mich bei ihm unter. Wir schlendern gemeinsam zu seinem Auto und hören auf dem Weg zu meinem Haus Weihnachtsmusik.
Und erst jetzt wird mir bewusst, dass ich Blake schon längst verfallen bin.
„Nichts kann den Menschen mehr stärken als Vertrauen, das man ihm entgegenbringt."- Paul Claudel
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