Papa
Menschen sind die grausamsten Wesen, die die Erde je betreten haben. Anstatt sich sich über das Privileg des Lebens zu freuen, treten sie es mit Füßen und halten sich für selbst ernannte Herrscher über die Welt. Um ihre Macht zu demonstrieren richten sie an jedem Ort, den sie betreten, Zerstörung an. Ohne guten Grund metzeln sie alles nieder, das ihnen in die Quere kommt, und schrecken auch nicht vor ihren Artgenossen zurück. Auf schrecklichste Art und Weise rauben sie sich gegenseitig das Privileg, das ohnehin schon zeitlich begrenzt ist. Was zurückbleibt sind die unterschiedlichsten Empfindungen. Jene reichen von Triumph bis hin zur Reue. Im Nachhinein folgt die Erkenntnis, dass das alles nicht nötig war - dass jeder ein Recht hätte zu Leben. Und der Prozess wiederholt sich dennoch.
Menschen werden nie aufhören sich gegenseitig umzubringen um ihren eigenen Zielen näher zu kommen.
Sie wusste nicht welche Ziele jener Mensch verfolgt hatte. Nächtelang lag sie wach in ihrem Bett, starrte an die Decke und dachte nach. Die Sekunden verstrichen und sie fand doch keine Antwort auf die Frage, die sich ihr immer wieder stellte.
Minuten verstrichen und sie verlor die Fassung.
Stunden verstrichen und sie verlor den Mut.
Tage gingen ins Land und sie verlor sich selbst.
Seit dieser Mensch ihren Mann erschossen hatte, war nichts mehr so wie es zuvor war. Bis zu dem Tag wusste sie nicht zu schätzen wie wertvoll das Leben doch war und wie schnell dieses vorbei sein konnte. Natürlich wusste sie, dass jeder einmal das Zeitliche segnen würde. Die einen früher als die anderen. Doch damit hatte sie nicht gerechnet. Er war gerade einmal Anfang dreißig gewesen - viel zu jung. So viele Jahre hätte er noch leben können. So viele schöne als auch nicht ganz so schöne Dinge hätte er noch erleben können. Jedoch lag die Betonung auf dem Wort hätte. Er hätte weiterleben können. Doch der Plan des anderen Menschen ließ das nicht zu. Er hätte nicht dort sein müssen. Nur ihr zu liebe war er am frühen Abend losfahren. Zurück kam er nicht.
Als sie die Nachricht erhalten hatte war ihr erste Gedanke: Es ist meine Schuld. Mit jedem Tag verfestigte sich dieser immer mehr bis sie denen, die ihr versuchten zu erklären, dass sie nichts dafür konnte, gar nicht mehr zuhörte. Sie hatte jeden, der so etwas behauptete, unverzüglich vor dir Tür gesetzt und war auf dem Sofa erneut in sich zusammengesunken. Sie hatte geweint bis ihre Augen aufgequollen waren und die Tränen nicht mehr nachkamen. Sie schrie bis sie heiser war. Sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf bis sie sich am Nachmittag auf den Weg machte.
Immer wieder drehte sie sich um, zuckte bei dem kleinsten Geräusch zusammen. Sie hatte zu viel Angst vor allem, weil die vergangenen Tage ihr gezeigt hatte wie grausam Menschen sein können, wenn sie im Auftrag ihrer eigenen Vorstellungen, ihrer eigenen Überzeugung handelten. Große Menschenansammlungen umging sie. Jedes Mal plante sie mehr Zeit für ihren Weg ein, weil sie sich nicht traute in dir Nähe des Marktes zu kommen. An keinem anderen Ort standen so viele Menschen so nah beieinander. Das Vertrauen hatte sie verloren. Ebenso ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebensfreude.
So wie jedes Mal atmete sie tief ein und aus bevor sie den Ort betrat, der ihr in letzter Zeit wohl die meiste Kraft geraubt hatte. Die Rede war nicht etwa von ihrem Büro, das hatte sie nämlich als Witwe noch nicht besucht. Nein, der Ort, der ihr die meiste Kraft geraubt hatte, war der Kindergarten ihrer kleinen Tochter gewesen. Hier wurden ihr neugierige Blicke zugeworfen. Jeder sprach ihr mehrfach sein Mitleid aus, da niemand wusste über was man sonst noch mit einer leeren Hülle reden sollte. Sie verstand, dass es alle nur gut meinten. Allerdings fühlte es sich nicht gut an.
Gut fühlte sich nur die Umarmung an, die Anna ihr schenkte, als sie ihre Mutter erblickt hatte. Diese kleinen Gesten waren es, die ihrem Leben wieder einen Sinn gaben. Ohne Anna hätte sie schon längst aufgegeben. Nur für ihr Tochter versuchte sie stark zu bleiben. Auch, wenn Anna noch so jung war, wusste sie, dass das Mädchen viel von dem, was geschehen war, verstanden hatte. Wenn sie mal wieder mitten in der Nacht aufwachte und ihre Mutter im Schlafzimmer schluchzen hörte, stand sie auf, tippelte zu ihr, schlüpfte ins Bett und kuschelte sich an sie. Einerseits war sie Anna unfassbar dankbar dafür. Andererseits wollte sie doch diejenige sein, die Anna beruhigend in den Arm nahm und sie tröstete. Es sollte nicht andersherum sein. Jetzt, wo sie nur noch zu zweit waren, wollte sie ihre Tochter vor allem beschützen. Das war ihre Aufgabe.
,,Können wir zu Papa gehen? Ich habe Blumen für ihn", plapperte Anna vor sich her und sah sie auffordernd an. Fast hätte sie vor Schreck den Rucksack fallen lassen. Nur langsam begriff sie, dass Anna nicht vergessen hatte, dass ihr Vater nicht mehr unter den Lebenden weilte. Sie wollte auf den Friedhof gehen und ihm Blumen aufs Grab legen. Sie nickte und stimmte dem mit zitternder Stimme zu.
Fröhlich hüpfte Anna neben ihr her. Sie schien kein wenig bedrückt, weil sie gleich das Grab ihres Vaters besuchen würde. Vielmehr sah es so aus als würde sie sich auf ein Wiedersehen freuen. Es war so als würde Anna einen alten Freund besuchen, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Mit dem Betreten des Friedhofs hörte Anna auf zu hüpfen. Sie steuerte an ihrer Seite den grauen Grabstein in der dritten Reihe neben der Engelsstatue an. Bereits jetzt rollten ihr dicke Tränen über die Wangen und ein Schluchzen konnte sie nur mit Mühe unterdrücken. Warum sie das tat wusste sie nicht. Vielleicht um Anna nicht zu stören.
Die Kleine stand nun unmittelbar vor dem Grabstein. Eine Weile lang starrte sie mit zusammengekniffenen Augen auf die Schrift. Es wirkte fast so als würde sie versuchen die ihr unbekannten Zeichen zu entziffern. Doch das gab sie auf, senkte ihren Blick und begann zu erzählen was sie heute erlebt hatte. Sie berichtete davon, dass sie mit Marie einen riesigen Turm gebaut hatte. Sie erzählte, dass es zum Mittag ihr Lieblingsessen - Spinat mit Kartoffeln und Spiegeleiern - gegeben hatte und schließlich auch dass sie extra für ihn Gänseblümchen gepflückt hatte, weil sie die doch immer für ihn gemalt hatte.
Mit einem sanften Lächeln im Gesicht betrachtete sie ihre Tochter. Anna war so stark und sie bewunderte sie dafür. Sie drehte sich zu ihrer Mutter um und sagte: ,,Denkst du, dass Papa die Gänseblümchen gefallen werden?" Sie wischte sich eine Träne von der Wange. ,,Ganz sicher" Anna gluckste zufrieden, legte die Blumen sorgfältig ab und murmelte: ,,Die sind für dich, weil ich dich so lieb habe, Papa"
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