Sechs
Gegenwart
Ich weiß, dass mich Changbin die ganze Zeit anschaut. Mit diesen dunklen braunen Augen. Dreckiges Braun. Bitte, er soll aufhören, mich so anzuschauen. Sonst wird noch was passieren. Da bin ich mir ganz sicher. Solange er mit mir reden will, schwebt er in Gefahr. Ich bin gefährlich. Ich hätte ihn fast umgebracht. Menschen sagen, dass man irgendwann die schlimme Zeit vergisst. Man soll einfach Gras über die Sache wachsen lassen. Leider klappte das nicht bei mir. Das Gras ist bei mir nie gewachsen, es ist noch in den Samenkörner unter der Erde und die Erinnerung an diese eine Nacht so real und existent wie meine Panik, wenn ich nichts weißes anziehen kann. Er schaut mich immer noch an. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er damit aufhören soll. Vorher hat er mich sogar noch gefragt, wieso ich nicht mit ihm reden will. Langsam soll Changbin doch wissen, dass es keinen Sinn mehr gibt, mit mir reden zu wollen. Für seine eigene Sicherheit.
Es ist schwer nicht mit der Person zu reden, die man einst geliebt hat. Während meinen Weg in Richtung Panik und Perfektion haben sich die Gefühle für Changbin von mir abgewendet. Sie verschwanden einfach. Gut, dass sie mich nicht mehr begleiten. Sonst würde ich echt zu kämpfen haben. Mein Herz ist nur noch für meinen weißen Perfektionismus bestimmt. Kein Platz für Liebe zu Changbin. Liebe ist aber die einzige Sache, die gegangen ist, welche mich mit Changbin verbindet. Da waren noch die Schuldgefühle. Sie lebten seit dem Vorfall in meinem Kopf. Brachten mich regelmäßig zum verzweifeln. Ich versuche sie krampfhaft zu brechen, damit sie aufgeben, mich zu terrorisieren. Es klappte am schwersten in der Schule. Immer wenn ich Changbin sehe, werde ich sofort daran erinnert, was ich ihm angetan hab und dann will ich mich tausend Mal bei ihm entschuldigen, doch auch Entschuldigungen können die Schuldgefühle nicht auflösen. Deswegen muss ich ihn ignorieren. Ich muss jeden ignorieren.
Nach der Stunde Englisch hatten wir Chemie. Wie wundervoll. Ich hasse Chemie. Das einzig gute dran war, dass wir alle den hässlichen dunkelroten Blazer ausziehen mussten. Zum Glück sitze ich da nicht neben Changbin. Das würde alles noch schwieriger machen, trotzdem ist er immer noch in meinem Blickfeld und das stört mich. Wie immer schaute er zu mir rüber, als würde er sich jedes Mal erhoffen, dass ich wieder mit ihm rede. Binnie, ich werde nicht mehr mit dir reden. Es tut mir Leid. Ich hörte Frau Lee zu, unserer Chemielehrerin. Sie erklärte uns etwas und schrieb einen Versuch an die Tafel, wo wir durchführen mussten. Ich weiß, dass ich ihr Lieblingsschüler bin. Auch wenn ich Chemie nicht mag, versuche ich stets mein Bestes zu geben und gute Noten zu schreiben. Meine Eltern erwarten es auch nicht anders. Ich will sie nicht enttäuschen. Der Versuch war etwas schwer. Am Ende klappte es dann durch und wir hatten gleich Mittagspause. Dann kann ich mir Fischkuchen kaufen. Ich hab Hunger. Frau Lee sagte, dass wir aufräumen durften. Überall Klirren von Reagenzgläsern. Murmeln. Niemand will noch länger hier bleiben. Alle wollten endlich in die Pause. Deswegen räumten sie alle hektisch auf. Wussten sie nicht, dass man dann Fehler macht? In der Ruhe liegt die Kraft.
Als ich zum Waschbecken gehen wollte und die Reagenzgläser waschen wollte, stolperte ich, wegen einem verdammten Rucksack. Ich konnte mich auch nicht mehr festhalten, denn ich hatte beide Hände voll. Es ging auch so schnell, dass kein anderer meinen Fall aufhalten konnte. Sofort zerbrachen die Reagenzgläser und die Chemikalie verteilte sich auf den grauen Linoleumboden. „Es tut mir Leid!", sagte eine Mitschülerin, die neben mir auftauchte. War wohl die Besitzerin des Rucksacks. Ich sah, wie die durchsichtige Chemikalie meine Finger berührte. Zum Glück war es nichts giftiges. „Komm, ich helfe dir hoch, sonst schneidest du dich noch an den Splitter", sagte meine Mitschülerin. Die Splitter hab ich gar nicht bemerkt. Jetzt erst sehe ich sie. Kleine Glasfragmente inmitten von durchsichtiger Flüssigkeit. Die Chemikalie kribbelte etwas an meinen Finger. Das Mädchen bückte sich runter und nahm meine Hand in ihre, damit sie mir aufhelfen konnte. WAS FÄLLT IHR EIN, MICH EINFACH ZU SO BERÜHREN?! Sie ist schmutzig! Dreckig! Sofort riss ich meine Hand von ihr weg und starrte sie wutentbrannt an. „Ich hab nicht gesagt, dass du meine Hand nehmen sollst!", fauchte ich.
Der Schlamm kommt zurück. Er verteilt sich auf meiner Handfläche. Kalt und nass. Es passiert alles in meinem Kopf, das weiß ich, aber ich spüre ihn trotzdem auf meiner Haut. Er ist nicht sichtbar für andere, aber für mich umso mehr. Ich kann ihn sehen. Dunkler, brauner Schlamm. Panik kroch in meine Adern und verteilte sich rasend schnell wie Gift. Ich muss meine Hände waschen. Jetzt sofort. Oder ich werde wegen dem Schlamm ersticken. Das Mädchen war wohl eingeschüchtert, denn es ging wortlos. Frau Lee kam zu mir. „Ist alles okay? Hast du dich verletzt?" Ich schüttelte den Kopf, als ich wieder auf den Beinen stand.
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