Schwarze Stille
Mit dem Handschuh fuhr sie über die Scheibe und entfernte staubartige Eiskristalle, die in einer Wolke davonschwebten. Dahinter zeigte sich das schlafende Gesicht einer 25-jährigen Frau. Die wallende Lockenpracht rankte ihr wie Efeu um den Kopf. Die Haarfarbe war unter dem leuchtenden Orange der Plastikfolie, die ihren gesamten Körper umschloss wie ein vakuumiertes Stück Fleisch, schwer zu bestimmen. Sie kannte jedoch die Farbe genau: ein dunkles Rotbraun wie Kastanien. Die Augen hinter den geschlossenen Liedern waren tiefgrün mit goldenen Sprenkeln. Auf dem lieblos gedruckten Plastikschild stand ihr Name: Frederike Müller. Ihre einzige Tochter. Sie hatte das Glück, einen Platz zu ergattern und war einige der wenigen Deutschen auf dem Schiff. Aber Nationen spielten in ihrer neuen Heimat keine Rolle mehr. Diese Bürde hatte sie mit ihrer Entscheidung an Bord zu gehen abgestreift wie ein zu enges Korsett. Zumindest war das ihre Hoffnung.
Andrea wandte sich ab. Im fahlen Schein der Leuchtpaneele erstreckte sich eine endlose Reihe der sargähnlichen Metallkästen mit orangenen Frontscheiben, durch die man die Gesichter der Eingefrorenen erkannte. Eingefroren, nicht verstorben, wie sie sich immer wieder im Laufe der letzten vier Monate an Bord versichert hatte. Trotzdem fühlte sie sich bei ihren regelmäßigen Inspektionsgängen wie eine Friedhofswächterin. Die Kryostase-Kammern, wie die Särge offiziell hießen, stapelten sich dicht an dicht. 500.000 Menschen bei minus 153,2 Grad schockgefroren, bis sie an ihrem Ziel – dem Planeten Pangaea – ankämen. In jedem autarken Container ihres Raumschiffs lagerten 10.000 Siedler. Hinzu kam Saatgut und 50.000 vollautonome Roboter in weiteren zehn, die erste Häuser, Felder und Fabriken herstellen würden. Tausende Tiere hatten sie als befruchtete Eizellen an Bord und würden sie später bei Bedarf züchten. Unvorstellbare Zahlen, die auch nach vier Monaten ihr geistiges Fassungsvermögen sprengten.
Ihre Aufgabe war keine geringere, als eine neue Menschheit aufzubauen. Eine Menschheit 2.0 sozusagen.
Die Kryostase war nicht notwendig, weil die Reise lange dauerte. Falls alles wie geplant verlief, würden sie bereits in vier Wochen ihre neue Wahlheimat erreichen. Sie war erforderlich, um möglichst viele Menschen mit möglichst geringen Ressourcen zu transportieren.
„Andrea! Komm sofort auf die Brücke. Uns nähert sich ein unbekanntes Objekt", hallte die blecherne Stimme ihres ersten Offiziers aus dem Helmlautsprecher. Hörte sie eine Spur Aufregung unter seinem schweren italienischen Akzent heraus?
„Aye. Bin schon unterwegs, Beppo." Sie gab sich am Handlauf einen kräftigen Impuls und schwebte zügig an der endlosen Reihe Särge vorbei in Richtung des Aufzugs.
Ein unbekanntes Objekt? Sie befanden sich kurz vor dem Jupiter. In diesem Sektor herrschte aufgrund des delikaten Zustands des Wurmlochs absolutes Flugverbot.
↼⇁
Keine fünf Minuten später öffnete sich zischend die Luftschleuse, die die luftleeren Frachtkammern mit ihren lebensfeindlichen Temperaturen mit den Räumen der lebendigen Crew verband. Die Reste eisiger Luft verpufften in weißen Dampffahnen. Zügig schwebte sie zur Wand und legte den leichten Raumanzug ab. Eine schlichtweiße Röhre führte zur Brücke. Unterwegs zweigten die Türen und Gänge zu den Quartieren der vier wachen Besatzungsmitglieder, Trainingsraum, Messe, Toilette usw. ab. Die Konstrukteure waren vermutlich der Meinung, dass sie trotz der enormen Größe ihres Schiffs, der Nostromo, die fünf Monate Flugzeit ohne Komfort überstünden.
Die Brückentür fuhr zischend zur Seite und öffnete den Blick in einen ebenfalls weißen, quaderförmigen Raum, der mit diversen Bildschirmen, zwei Pilotensitzen, breitem Frontfenster sowie separaten Sesseln und digitalem Kartentisch ausgestattet war. Das Standardmodell einer Brücke, wie sie sich in jedem modernen Raumschiff fand. Die anderen drei Mitglieder ihrer Brückenbesatzung waren anwesend und schwebten nahe am zentralen Tisch. Sorgenvolle Minen schauten ihr entgegen.
„Was habe ich verpasst?", fragte sie anstelle einer Begrüßung.
Ihre Nummer eins, Beppo, ein Mittvierziger mit Vollbart und grauen Schläfen, wie sie alle im blauen Overall, deutete auf die 3-D-Darstellung des Großbildschirms, der die Tischplatte ersetzte: „Ein kleines Raumschiff nähert sich. Es sendet keine Kennzeichnung und reagiert nicht auf Kontaktversuche."
„Welcher Kurs?"
„Unmittelbar auf das Wurmloch."
„Mist. Geschwindigkeit?"
„Es wird uns überholen."
„Verflucht! Warum wurde es nicht abgefangen?"
„Keine Ahnung. Das ist auch unwichtig", antwortete Beppo. „Falls es vor uns das Wurmloch erreicht, ist unsere Mission gescheitert und wir fliegen ins Nirgendwo statt nach Pangaea."
Mila, ihre etwas ruppige, australische Bordingenieurin mischte sich ein: „Das ist doch wohl jedem klar. Warum schießen wir das Teil nicht ab?"
„So einfach ist das nicht", klärte Björn sie auf. Seines Zeichens Astrophysiker und als Entdecker des Wurmlochs ein echter Promi an Bord. „Mit den Railguns können wir sie durchlöchern und bestenfalls ihren Antrieb zur Explosion bringen – nur leider ändert sich dadurch weder ihre Masse noch Geschwindigkeit. Sie würden also weiterhin den Zugang vor unserer Nase kollabieren lassen."
Ratlos schauten sie sich an. Die Darstellung auf dem breiten Display war eindeutig: Das andere Schiff würde das Wurmloch etwa fünf Minuten vor ihnen erreichen – und es mit seinem Durchflug schließen. Damit wäre ihre Mission gescheitert und die halbe Million Menschen sowie ihre Tochter zum Tode verurteilt.
„Herb?" Mit dem Stichwort aktivierte sie ihren Bord-Computer. Eine künstliche Intelligenz, die im Grunde die gesamte Steuerung und Navigation des Schiffes im Alleingang erledigte. „Können wir sie noch Abfangen und wie viel Zeit bleibt uns für die Entscheidung?"
Ein blauer Punkt auf dem Display simulierte seine Anwesenheit und pulsierte passend zu seinen wohlmodulierten Worten: „Nur theoretisch. Zünden wir jetzt das Triebwerk, könnten wir ausreichend beschleunigen, um mit maximal 52 Sekunden Vorsprung das Wurmloch zu passieren. Für diese Entscheidung bleiben noch fünf Minuten. Mit jeder Minute schrumpft jedoch der Vorsprung."
„Was meinst du mit theoretisch?", hakte sie nach.
„Durch den enormen Treibstoffverbrauch dieser ungeplanten Zündung fehlt uns dieser für die Bremsphase. Wir würden an Pangaea vorbeifliegen", kam die Antwort im neutralen Tonfall.
„Shit!", entfuhr es der blonden Ingenieurin. „Dann haben wir keine Chance!"
Damit sprach sie aus, was ihr selbst in diesem Moment durch den Kopf schoss. Laut sagte sie jedoch: „Ruhig Blut, Mila. Herb: Ich will eine Botschaft auf allen Kanälen senden. Dort drüben hören sie garantiert zu."
„Kanal ist offen", bestätigte die Bord-KI.
„Fremdes Schiff. Hier spricht Commander Andrea Müller von der Nostromo. Falls Sie das Wurmloch passieren, zerstören Sie die Siedlungsmission und töten eine halbe Million Menschenleben. Drehen Sie sofort ab oder wir eröffnen das Feuer."
Außer statischem Rauschen war kein Laut zu hören.
„Fremdes Schiff. Wir geben Ihnen noch eine Minute."
Leider dürfte ihrem Gegenüber ebenfalls klar sein, dass ihnen dessen Abschuss nicht helfen würde. Mit einem Wink verdeutlichte sie Herb, den Kanal zu schließen.
„Irgendwelche Ideen?"
„Na ja", meinte Björn. „Im Grunde ist die Sache klar: Wir beschleunigen jetzt. Damit erreichen wir das Wurmloch als Erste und gewinnen knapp eine Stunde, um eine Lösung zu finden, bevor die Bremsphase auf der anderen Seite beginnt."
„Noch zwei Minuten, um mit der ungeplanten Beschleunigung zu beginnen", informierte sie Herb leidenschaftslos.
Damit hatte der Astrophysiker recht, auch wenn es ihr Problem nicht löste, sondern nur verlagerte. Die Zündung bedeutete jedoch, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit scheiterten. Wie konnte man nur so egoistisch sein? Mit welchem Recht nahm es sich der unbekannte Kapitän heraus, eine halbe Million Menschen zum Tode zu verurteilen?
„Nostromo. Hier spricht Tai Yang." Sie zuckte zusammen, als die Stimme des fremden Schiffsführers durch ihre Brücke hallte, da sie nicht mit einer Antwort gerechnet hatte. „Wir werden nicht abdrehen. Ich wiederhole: Wir werden nicht abdrehen. Wir haben 10.000.000 befruchtete Eizellen sowie die entsprechende Ausrüstung an Bord, um auf ‚Zǎo Chén Yáng Guâng', das ihr ‚Pangaea' nennt, eine neue Menschheit zu gründen. Unverbraucht durch die Vorbelastungen, Feindschaften und verdorbenen Erinnerungen in den Köpfen der lebendigen Leichen an Bord eures Schiffes."
„Tai Yang?", fragte Beppo. „Ist das nicht dieser chinesische Multi-Milliardär? Er glaubt, seine eigene Siedlungsmission auf unsere Kosten durchziehen zu können?"
„Noch eine Minute", informierte sie Herb.
„So scheint es, aber wir haben keine Zeit für philosophische Diskussionen, er hätte seine Idee schon vor Jahren bei der UNO einbringen können. Und wer weiß, ob er nicht blufft." Sie hielt kurz inne und schloss die Augen. „Herb? Beschleunige, um vor dem anderen Schiff durch das Wurmloch zu fliegen."
„Stimmt der erste Offizier zu?", fragte die Bord-KI.
„Ich stimme zu", antwortete Beppo.
„Bitte unverzüglich Plätze einnehmen und sichern. Ungeplante Beschleunigungsphase beginnt in 10 Sekunden. 10 ... 9 ..."
„Los!", schrie sie über den Lärm der einsetzenden Vibrationen hinweg. „Anschnallen!"
Die Beleuchtung wechselte auf Rot und ein quäkender Alarm hallte durch das Schiff. Zügig hangelte sie sich zu ihrem Pilotensitz, drückte sich in das Polster und schloss den Gurt. Hinter und neben sich hörte sie das Klacken von den Verschlüssen der anderen. Schwerelos schwebend, würde die kommende Schwerkraft sie ansonsten an die Rückwand des Raumes klatschen, wie eine Fliege auf die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos.
„... 2 ... 1 ... Energie."
Innerhalb von Sekunden setzte sich ein zentnerschweres Gewicht auf ihren Brustkorb und ließ die Rippen knacken. Ein Zittern und Vibrieren durchdrangen ihren Körper, als der Plasmaantrieb am Heck in diesem Moment einen unvorstellbaren Schub entwickelte. Er katapultierte den Millionen Tonnen schweren Zylinder des Raumschiffs mit einer Länge von rund zwei Kilometer und einem Durchmesser von 100 Metern unbarmherzig vorwärts. Befände sich der Erdmond in Reichweite ihres Antriebsstrahls, würde die blaue Plasmaflamme glatt ein Loch hindurchbrennen.
„Eintritt in 20 Sekunden."
Durch die breite Frontscheibe war eine tennisballgroße Kugel zu sehen, eine schillernde Murmel, die das Sternenlicht in gebogenen Bahnen ablenkte. Sie wuchs rasendschnell auf die Größe eines Medizinballs. Zum ersten Mal sah Andrea das Wurmloch mit eigenen Augen statt in einer Simulation. Kurz darauf hatte es die Ausmaße des Mondes angenommen. Reflexionen wanderten in langen nadelfeinen Streifen über die Oberfläche und wurden von einem scheinbar öligen Film abgelenkt. Im Hintergrund schienen schemenhaft violette und grüne Nebel hindurch, die in ihrer eigenen Galaxis nicht existierten. Inzwischen füllte die Kugel ihr gesamtes Sichtfeld aus. Ihr Herz wummerte ungestüm. Blut rauschte in ihren Ohren. Kein Training hatte sie auf diesen selbstmörderischen Moment vorbereiten können. Jeden Augenblick würden sie auf der massiven glasharten Außenhülle aufschlagen und zerplatzen.
„Übergang in 3 ... 2 ... 1 ... Jetzt!"
Schwärze. Stille. Kein Herzschlag. Kein rauschendes Blut. Alles verloren.
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