| 3. Kapitel |
Sie saß an ihrem alten, schon etwas schäbigen Schreibtisch und schrieb Gedankenverloren auf ihren Blättern vor sich hin. Sie schrieb was ihr in den Sinn kam und was ihr in den Sinn kam, war er. Mr. Beaufort, oder wie er sich ihr vorgestellt hatte, als 'die Box'. Sie musste an jedes seiner einzelnen Worte denken, sie niederschreiben, seine Gestik und Mimik sich wieder vor Augen rufen. Sie schrieb einfach wahllos Wörter auf das karierte Blatt Papier vor sich hin. Sie erstarrte. Sah auf das Blatt. Auf die Worte, die so schnell und unordentlich irgendwohin auf das Papier geschrieben wurden, sah wie sich an manchen Stellen die blaue Tinte wegen ihrer Hand vermischt hatte. Es erschien ihr wie ein Sprenkel, wie ein Feuerwerk von eintausend stummen Worten. Faszinierend und doch so erschreckend. „Na immerhin besser als jemand, der in meinem Kopf herumstochern möchte." Ein Satz von ihm, den er aus purer Erleichterung hatte ausgesprochen. Sie zog die Augenbrauen zusammen und kaute am Ende ihres Kugelschreibers herum. Hatten ihn denn schon viele bezüglich seiner Psyche untersuchen müssen? War er vielleicht in seiner Seele ein kaputter Mensch? Sie wusste es nicht, sie wusste nicht eine einzige Antwort auf all diese Fragen, nur viele weitere 'Vielleicht', aber keine einzige Antwort. Verzweiflung breitete sich in ihr aus und die schleichenden Kopfschmerzen machten es ihr nicht besser voranzukommen. Sie musste doch nur einen verdammten Bericht über ihn schreiben, ihn abgeben, um endlich einen festen Job haben zu können. Aber sie fühlte sich gerade so unbeholfen und Ahnungslos. Angestrengt strich sie sich über ihre beiden Schläfen und schloss genervt die Augen. Sie hatte nicht all zu viel Zeit für die Fertigstellung ihrer Aufgabe. Unnötiger Stress füllte ihren Magen und ihr wurde leicht schlecht. Als ihr Handy neben ihr auf dem Tisch auch noch plötzlich zu vibrieren begann, zuckte sie leicht vor Schreck zusammen und griff schnell danach. Es war ihre Erinnerung. Und bei dem Gedanken musste sie schwer schlucken. die Erinnerung daran, dass sie sich wieder auf dem Weg zum Gefängnis machen musste. Sie stoppte die Erinnerung und Augenblicklich erstarrte das Vibrieren in ihrer Hand, es wurde kurze Zeit alles so still. So still und hätte sie nur die Augen wieder geschlossen, hätte sie gedacht, sie würde sich wieder im Raum, hinter der schmalen metallenen Tür befinden.
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„Ah, Charlotte. Ich dachte mir, dass man mich aus meinen Schönheitsschlaf geweckt hatte, nur um anschließend wieder mit Ihnen reden zu dürfen." Es war das Erste, was sie am heutigen Tag von ihm hörte, als die Tür hinter ihr abgeschlossen wurde und sie sich wieder auf den selben Platz, wie vor genau drei Tagen, hingesetzt hatte. Der kalte Stuhl fühlte sich unangenehm unter ihr an, ihre geliebte hellblaue Jeansjacke hatte sie wieder angehabt und als sie dieses mal aus dem Fenster hinter seinem Rücken sah, konnte man schon vereinzelt dunkle Wolken sehen. Innerlich verfluchte sie sich dieses mal an das Haargummi, aber nicht an den Regenschirm gedacht zu haben. Sie sah heute das erste mal zu Mr. Beaufort und sie erkannte, dass an seinem einem Auge, sich ein blauer Fleck gebildet hatte, der ungefähr Faustgroß war. Er muss sich wohl geprügelt haben, dachte sie sich. „Mich freut es auch Sie wieder zu sehen, Mr. " Fast hätte sie es vergessen, fast hätte sie vergessen, dass er seinen eigenen Nachnamen nicht leiden konnte und das obwohl sie sich seit dem letzten mal so viele Gedanken über ihm gemacht hatte. Fast. Er sah sie wieder so an, so leer in seinen Augen, aber so spitzbübisch auf seinen Lippen. War das alles nur eine Maske, die nur Trümmer und Asche versteckt hielt? Dieses Mal, griff sie zu ihrer Tasche auf ihrem Schoß, öffnete sie und wendete somit wieder den Blick von ihm ab. Sie holte nur ein einziges kleines Blatt Papier hervor, dass eher ein Notizzettel war und legte es mit ihrem schwarzem Kugelschreiber genau vor ihr auf dem Tisch. Ihre Tasche stellte sie sich neben ihrem Stuhl ab und sie richtete sich wieder auf und sah wieder zu Mr. Beaufort hin. „Um einen Bericht über mich zu schreiben, brauchen Sie ein weitaus größeres Blatt." Fast schon spottend erklang seine Stimme und sie sah ihn einfach nur an. „Nein. Machen Sie sich keine Sorgen über meine Notizen, denn um die geht es heute nicht." Er sah sie nicht an, starrte einfach nur zu einen Punkt neben ihrem Kopf, während sie versuchte, einen Blick in seine grauen Augen zu erhaschen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Augen jemals so leer sein konnten, sie mussten eine Regung, ein sanftes, schnelles Blitzen, eine Erkenntnis in sich tragen, denn er atmete und er lebte. Doch lebte auch seine Seele? „Sie sind wohl noch von der alten Schule. Schreiben mit Stiften noch auf Papier und packen nicht erst noch ihr Tablet oder Laptop aus. Hätte ich nicht von ihnen erwartet. Find ich gut." Verblüfft sah sie mit leicht hochgezogenen Augenbrauen auf seinen blauen Fleck unter seinem Auge, während er sie immer noch auf den Punkt neben ihr zu starren schien. Sie hatte schon oft gehört gehabt, dass sie eine alte Seele war, eine, die jedoch manchmal doch etwas zu sehr altmodisch war. Leise Aufseufzend sah sie wieder auf ihr kleines Notizzettel. Um ehrlich zu sein hatte sie sich schon seit längerem einen neuen Laptop gewünscht gehabt, weil ihr alter nur noch 24/7 am Ladekabel hängen musste und der ab und zu mal den Gedanken dazu liebte abzustürzen, weswegen sie vorsorglich sich immer alles sofort auf einen Stick runterzog, um ja auch alles sicher bei sich aufbewahrt zu haben. Es war ihr einfach nur peinlich gewesen ihren Laptop mitzunehmen. Deswegen ihr Stift und Papier, doch das würde sie ihm ganz sicher nicht unter die Nase reiben wollen. Sie hatte sich auf den Weg hier hin im Bus so viele Gedanken, so viele Fragen, welche sie zuerst stellen würde, ausgedacht gehabt. Sie hatte sich alle möglichen Szenarien ausgedacht gehabt und nun schien ihr Kopf wie leer gefegt worden zu sein. Sie wünschte sich, sie hätte sich all ihre Fragen aufgeschrieben gehabt, doch das hatte sie nicht. „Wie kommen Sie auf ihren Namen? Auf 'die Box'?" War dementsprechend das erste was ihre Lippen verließen, noch ehe sie sich über das Folgende hatte Gedanken machen können. Sie fluchte innerlich und erinnerte sich noch einmal daran, dass sie erst zu denken und dann zu reden hatte. Seine Augen sahen ohne Vorwarnung in ihre und wieder einmal spürte sie, wie sie mit voller Wucht von dieser Leere nach hinten geschleudert wurde. Es war ihr unangenehm in seine Augen zu schauen, weswegen sie kurz schlucken musste, doch weggucken wollte sie auch nicht, dass würde sie Schwach darstellen lassen. „Gefällt Ihnen denn der Name nicht, Charlotte?" Verwirrt versuchte sie zu verstehen, was er wohl genau damit meinte. Was wohl hinter all diesen versteckten Wörtern er wirklich zu meinen schien. „Es ist kein richtiger Name." Und ohne das er ihr ins Wort fiel, sagte er nur ein einziges Wort: „Doch." Sie war nun vollends Verwirrt. Wie konnte jemand denken, dass der Name 'die Box' ein richtiger Name für einen Menschen war? „Und wie stellen Sie sich das vor?" Sie konnte nicht umhin, sie war neugierig. Neugierig was er mit seinem gesprochenen Rätsel wohl meinte. „'Box' ist ein Name wie wir alle ihn tragen. Wie auch Sie, Charlotte." „Und auch wie Sie, Ethan." Als sie seinen Namen zum ersten Mal aussprach, sah sie, wie sich seine Lippen leicht öffneten, wie sein Blick wieder auf einen Punkt neben ihr starrte. So unsicher war sie sich gewesen, ob sie ihn wirklich jemals mit seinen Vornamen nennen sollte. Mit Ethan und gerade jetzt hatte sie es getan. „Genau. Wie auch bei mir." Er schien in einer anderen Welt zu sein, ein Schimmer hatte sich vor seinen leeren, grauen Augen gelegt, die den schein eines Sturmes vortäuschten. Seine Stimme wurde dabei leiser und fast schon rauchig. „Wieso würden Sie sich auf so etwas niedrigem herabstoßen wollen und sich selber als eine Box bezeichnen wollen?" Er sah sie immer noch nicht an und sie wusste nicht, ob sie einen Schritt zu weit gegangen war. Sie wusste nicht, ob diese Stille hier, nur die Stille vor dem Sturm sein würde, doch es geschah nichts. Er wurde nicht wütend, er schlug nicht um sich herum, er versuchte nicht wie wild seine Hände von den Handschellen am Tisch loszumachen. Nein, er blieb ruhig und mit immer noch leicht geöffneten Augen sah er vorsichtig, so vorsichtig als fürchte er, sie würde bei seinem Anblick flüchten wollen, ihr wieder ins Gesicht. „Ich bin auf der niedrigsten Stufe unserer Gesellschaft, Charlotte. Weiter herabstufen kann ich mich nicht mehr. Der Vorteil am ganz unten sein ist, ist der Blick immer nach oben. Ich stufe mich hinauf." „Indem Sie sich als 'die Box' bezeichnen? " Unglaube schwang in ihrer Stimme mit, so wie er von sich dachte, schwang Hoffnungslosigkeit mit ihm mit und es tat ihr etwas leid, ihn so zu sehen. Sie war schon immer schlecht darin, egal welchen Menschen, ihnen ihre kalte Schulter zu zeigen. „Eine Box, ist wertvoller als Sie sich je zu denken glauben würden." Sein Kopf war leicht schräg zur Seite gerichtet, sein Blick war zu ihrem Gesicht, während seine Hände brav gefaltet auf den kahlen Tisch vor uns lagen. „Und als wie wertvoll empfinden Sie eine Box?" Er blieb eine Weile lange Stumm und sie dachte schon keine Antworten mehr von ihm bekommen zu können, aber als er wieder zu reden anfing, hörte es sich so an als wäre er nicht mehr hier, sondern irgendwo in einer anderen Welt. „Sie ist immerhin so wertvoll, dass ein jedermann sein kostbarstes Hab und Gut in ihnen verstaut. Sein größtes Geheimnis in ihnen versteckt oder das tödlichste Gift in ihnen verschließt. Haben Sie auch eine Box, in der Sie all Ihre Wichtigkeiten verstauen?" Und während er ihr seine letzte Frage stellte, sah er sie wieder vollkommen an, so als wäre er wieder im Hier und Jetzt und nicht mehr in dieser fernen, fernen Welt. Sie dachte über seine Worte nach, über diese Box. Hatte sie eine? Eine so ihr wertvolle Box? Ja, die hatte sie. Eine Box, in der sie all ihr liebstes Zeug drin verstaut und gut behüten ließ. Sie hatte eine wertvolle Box. „Sehen Sie, manchmal sind so unbedeutende Dinge doch die, die für manche an so großer Bedeutung nagen." Sie sah ihn nicht an, sah auf ihre in sich verknotenden Finger auf ihrem Schoß, die halb vom Tisch bedeckt wurden. „Und was hat Ikarus oder eine Pandora mit all dem zu tun?" Sie wollte endlich eine vernünftige Antwort haben, sie erhoffte sich eine Antwort zu bekommen, zumindest nur eine einzige. Und er antwortete ihr auch, nur nicht mit der Antwort, die sie sich vielleicht gewünscht hätte. „Ein anderes mal zu denen, für heute würde es wohl nicht mehr reichen." Wie vom Blitz getroffen sah sie auf ihre Uhr und stellte wieder einmal erschrocken fest, wie schnell die 20 Minuten an ihr vorbeigezogen sind. Als sie einen Blick aus dem vergitterten Fenster erhaschte, musste sie verbittert feststellen, dass die dunklen Wolken fast schon vollständig den Himmel bedeckt hatten. Sie konnte schon förmlich den Regen riechen und sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen oder aufregen sollte. Als ihr Blick auf ihrem leeren Notizzettel landete, musste sie auch noch enttäuscht feststellen, dass sie wieder einmal zu nichts gekommen war. „Machen Sie doch kein so betrübtes Gesicht, wir werden uns schon noch oftmals genug hier treffen, so hat man es mir zumindest gesagt." Sein spitzbübisches Lächeln kam zum Vorschein und diese eine Strähne seines Haares, ließ er einfach auf seiner Stirn ruhen. Innerlich musste sie dem Drang widerstehen, ihm einfach die Strähne aus seiner Stirn zu streichen. „Sie sind nicht am untersten Stand unserer Gesellschaft. Es gibt noch viele weitere Stufen, die tiefer gehen." Sie musste es sagen, sie musste ihn trösten, sonst würde ihr Gewissen sie bis zum nächsten Treffen nicht mehr schlafen lassen. Sein Lächeln erstarb, seine Augenlider bedeckten, wie beim letzten male, halb seine grauen Augen und sie fragte sich, ob vielleicht das die Momente waren, in denen seine Augen doch von einem Gefühl durchbebt werden. „Vielleicht haben Sie recht. Niemand weiß wo ganz unten bei uns ist, weil nie jemand von denen je wieder zurück kam." Und genau in diesem Moment wurde die metallene Tür aufgeschlossen. Dreimal klickte es und sie verfluchte die fiel zu schnell verlaufende Zeit. Die zwei Wärter machten ihn wieder vom Tisch los, packten ihn unsanft an seinen Armen und genau in diesem Moment konnte sie sehen, wie er Schmerzhaft und so leise die Luft einzog und wie etwas in seinen leeren Augen aufblitzte. Nach dem die Wärter ihn hinausgebracht hatten und der ältere, bierbauch Wärter vom letzten mal sie abwartend ansah, griff sie schnell nach ihrem schwarzen Kugelschreiber und schrieb noch schnell ein Wort auf ihren orangenen Notizzettel. Sie griff nach ihrer Tasche, verstaute Stift und Papier hinein und ging schnellen Schrittes an den Wärter, mit einem leisen „Auf Wiedersehen" vorbei. Vorbei an der stark nach Eisen riechenden Tür. Vorbei an all den anderen. Und sie musste an das Wort denken, welches sie noch schnell auf das Papier gekritzelt hatte.
Schmerz.
Es war Schmerz, den sie in seinen so leeren Augen erkannt hatte. Es muss Schmerz gewesen sein.
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