Kapitel 3 - Unangenehmes Aufeinandertreffen Teil 2
Leonie
Meine Hände wurden ganz schwitzig und mein Herz raste wie verrückt. Hier waren so viele Personen in dem kleinen Raum ... Die Stimmen fraßen sich laut und wild in meine Ohren, während ich das Gefühl hatte, dass die jungen Kunststudenten, die gar nicht wie solche aussahen, mir immer wieder merkwürdige Blicke zuwarfen. Nervös starrte ich zu Levi hinüber. Mal wieder hatte er Probleme sich zu integrieren und den Anweisungen zu folgen, die er gesagt bekam. Sein Gruppenleiter mit der grauen Basecap und den auf seiner ganzen Haut verteilten Tattoos kniete neben ihm nieder und redete auf ihn ein.
Meine Atmung wurde immer unkontrollierter und ich spürte, wie mein Blutdruck von Minute zu Minute fiel und stieg. Nun zeigte der Kunststudent auch noch auf mich und sagte irgendwas. Bemerkte er vielleicht, dass ich hyperventilierte? Dass ich eine Panikattacke bekam, weil ich seit Benedikts Beerdigung nicht mehr in der Lage war, mit so vielen Menschen, und seien es auch nur Kinder, in einem Raum zu sein? Und wie konnte ich von meinem Sohn verlangen, sich zu integrieren, wenn ich es selbst nicht schaffte?!
Ich konnte nicht mehr sitzen bleiben ... Ich musste aufstehen, mich bewegen, versuchen den Stress abzubauen, der meinen Körper plötzlich durchflutete. Es quietschte laut, als die Füße meines Stuhls über den Boden schrubbten. Meine Handtasche fiel zu Boden. Zitternd raffte ich sie auf und legte sie auf den Stuhl, während Levis Augen mich zu durchbohren schienen.
,,Ich gehe nur auf Toilette'', formte ich mit meinen Lippen und bemühte mich um ein aufrichtiges und sorgloses Lächeln. Ohne seine Reaktion abzuwarten, hastete ich anschließend aus dem Kursraum hinaus in den Flur, wo mir die Deckenbeleuchtung viel zu grell vorkam. Mit bebenden Gliedern lehnte ich mich an die kühle, ganz in weiß gehaltene Wand und bemühte mich um eine ruhige Atmung. Tief ein und aus, tief ein und aus, ganz so, wie ich es zu Levi in der engen Friedhofskapelle vor einem Jahr gesagt hatte. Tränen füllten augenblicklich meine Augen, doch war dies nicht der richtige Zeitpunkt. Ich ärgerte mich ... Warum nur, war ich so verdammt schwach? Benedikt hätte das nicht gewollt.
Ich zuckte zusammen, als plötzlich jemand neben mir aus der Tür schlüpfte. Mit großen Augen erkannte ich den Kunststudenten mit der Basecap. Besorgt sah er mich an.
,,Ist alles in Ordnung bei Ihnen?''
Unsicher stieß ich mich von der Wand ab und rang nach Luft.
,,Ja ... Ich ... Es ist nur ... der Kreislauf.''
Er zog die Augenbrauen zusammen, machte einen Schritt auf mich zu und fasste kaum merklich meinen Arm. Schockiert sah ich ihn an. Was fiel ihm ein, mich zu berühren? Doch anstatt mich loszureißen, ließ ich mich von ihm einige Meter den Flur hinunter zu einer gläsernen Tür führen.
,,Sie brauchen frische Luft'', sagte der junge Mann und öffnete mir einen Notausgang.
Wie ein Fisch, der viel zu lange auf dem Trockenen gezappelt hatte und nun endlich ins Wasser zurückgeworfen wurde, genoss ich den kühlen Herbstwind auf meiner erhitzten Haut und nach nur wenigen Sekunden verlangsamte sich auch mein Herzschlag wieder.
,,Warten Sie hier'', hörte ich die tiefe Stimme des Studenten hinter mir, ''Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.''
Ohne mich zu ihm umzudrehen, nickte ich verlegen und fühlte, wie meine Wangen rot wurden. Ich hoffte inständig, dass Levi sitzen bleiben und sich an seiner Übung versuchen würde. Lange durfte ich nicht weg bleiben.
Einige Minuten später öffnete sich die Notausgangstür wieder. Peinlich berührt drehte ich mich um und sah in die grauen Augen des Studenten, die erstaunlich gut zu seiner Basecap passten. Er streckte mir das versprochene Glas Wasser entgegen.
,,Danke'', flüsterte ich und nippte vorsichtig daran.
,,Kein Problem'', entgegnete er lächelnd.
Meine Augen huschten ungewollt zu seinem tätowierten Hals und seinen tätowierten Armen, die ausschließlich von geometrischen Mustern geschmückt wurden.
Obwohl er einige Jahre jünger als ich sein musste und sehr hilfsbereit war, schüchterte mich seine rebellische Gestalt ziemlich ein.
,,Geht es Ihnen schon etwas besser?''
Ich nickte hastig.
,,Ja. Danke für Ihre Hilfe.''
Der Kunststudent lachte und entblößte dabei zwei Reihen perfekter Zähne.
,,Bitte, nennen Sie mich einfach Diego.''
Überrumpelt drückte ich das Wasserglas an meine Brust und ging nicht weiter auf seine Bitte ein.
,,Mein Sohn fragt sich sicherlich schon, wo ich bin ...'', murmelte ich stattdessen und machte Anstalten, wieder das Gebäude zu betreten.
,,Meine Kommilitonen haben alles unter Kontrolle und ich gehe auch gleich wieder rein. Bleiben Sie lieber noch einen Moment hier draußen.''
Unsicher zog ich meine Augenbrauen zusammen.
,,Aber Levi macht sicherlich nicht richtig mit, wenn ich ...''
,,Also eben hat er fleißig seine Aufgaben befolgt'', unterbrach mich ... Diego.
,,Wirklich?'', fragte ich skeptisch.
,,Ja, wirklich'', meinte der Student beruhigend.
Ich räusperte mich und strich mir eine meiner braunen Haarsträhnen hinters Ohr.
,,Darf ich fragen, was Sie vorhin zu meinem Sohn gesagt haben, bevor er mich angesehen hat?''
Diego schmunzelte frech.
,,Sie meinen, als ich auf Sie gezeigt habe?''
Eine enorme Hitze stieg mir in den Kopf und ich nickte. Zu meinem Entsetzen trat der Kunststudent einen Schritt auf mich zu, dabei war es auf dem kleinen Steg der Feuertreppe ohnehin schon viel zu eng ...
,,Ich sagte, er solle Sie als Inspiration nehmen'', meinte er da plötzlich und hob langsam seine Hand. ,,Zur Proportionsbetrachtung wird das Gesicht beim Zeichnen in drei gleiche Abschnitte eingeteilt. In das obere Gesichtsdrittel, also die Stirn bis zur Nasenwurzel, in das mittlere Gesichtsdrittel, bis zur Nasenspitze, und das untere Drittel.''
Um seiner Erklärung Ausdruck zu verleihen, zeichnete der muskulöse Kunststudent, der mich um einen halben Kopf überragte, imaginäre Linien in der Luft vor meinem Gesicht. Und wieder begann mein Herz zu rasen, doch diesmal auf eine andere, irgendwie beschämende Weise.
,,Sie sind sozusagen das perfekte Modell'', fügte er mit einem eigenartigen Funkeln in seinen geheimnisvollen grauen Augen hinzu, was mir eine unangenehme Gänsehaut bereitete. Ich war keine Komplimente mehr gewohnt und wollte ehrlich gesagt auch gar keine hören, weshalb ich mich dazu entschloss, die Flucht zu ergreifen.
,,Danke für das Wasser'', nuschelte ich also überfordert und wäre beinahe gegen die viel zu saubere Glastür gelaufen. Eilig lief ich zurück in den Kursraum, wo Levi zu meinem Erstaunen tatsächlich die Skizze eines Gesichts zu Papier gebracht hatte. Erfreut lächelte ich ihn an, doch trotz seiner Teilnahme schaute er noch immer grimmig drein. Kurz nach mir erschien auch Diego wieder im Kursraum, noch ein zusätzliches Päckchen weißes Papier unter seinen muskulösen Arm geklemmt. Verlegen wich ich jedem seiner Blicke aus und hoffte, dass die restliche Zeit schnell verstreichen würde.
- - -
,,Wieso warst du so lange weg? War das Wasser von dem Lehrer etwa für dich?'', fragte mich Levi auf dem Weg zum Auto.
,,Ja'', antwortete ich ehrlich. ,,Mir wurde irgendwie übel ... Es war so stickig in dem kleinen Kursraum.'' Ich räusperte mich. ,,Und wie fandest du es?''
Levi zuckte schlecht gelaunt mit den Schultern.
,,Keine Ahnung.''
,,Du hast das wirklich toll gemacht, mein Schatz'', versuchte ich ihn zu motivieren. ,,Ich bin sehr stolz auf dich, Levi.''
Ich bekam keine Reaktion.
Trotz dieses unangenehmen Aufeinandertreffens mit dem viel zu selbstbewussten Kunststudenten hoffte ich, dass Levi sich dazu durchringen würde, nochmals zu dem Kurs zu gehen. Doch eines stand fest, dass nächste Mal, würde ich nicht dabei bleiben!
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