9. Kapitel
«Jetzt erklär mir aber, warum du raus darfst», murmelte ich in Darios Jacke eingekuschelt. Er hatte sie nicht ausgezogen. Ich war bloß halbwegs zu seiner Decke geworden.
Am liebsten würde ich mich an ihn klammern und kein bisschen Luft zwischen uns lassen, doch Dario hatte mich beschämt und zutiefst bedrückt darum gebeten, es im Moment vielleicht zu lassen, noch näherzukommen. Gut, dass er es gesagt hatte. Perfekt, dass er kommunizierte und mich wissen ließ, wann es zu viel wurde.
Ich wusste, dass dies von Tag zu Tag variieren konnte, denn wir beide waren uns schon um einiges näher gewesen als ich eben an ihn heranrücken wollte. Doch heute, genau jetzt, bevorzugte er es, wenn er das Sagen über unser Handeln hatte. Er küsste mich, wann er wollte. Er langte nach mir und meiner Taille, wie und wann immer er wollte, und mich störte das ganz und gar nicht.
Ich, als Freundin und vor allem Mensch, hatte zu verstehen, dass die Folgen eines Missbrauchs tief schneidend waren und oftmals länger im Kopf blieben als auf dem Körper selbst. Ich war da, wenn er Schritte wagen wollte, sein Trauma zu überkommen, aber ich war auch für ihn da, wenn er einen bestimmten Abstand zwischen uns bevorzugte und auf nur emotionaler Ebene auf mich eingehen wollte.
«Weil es laut Giacomo im Moment keinen Sinn ergibt, mich Trottel einzusperren. Aber ich muss morgens und abends einen Drogentest machen.» «Wolltest du mir jemals von deinem Rückfall erzählen?» Dario zuckte mit den Schultern. «Wollen nicht, nein. Aber ich hätte es irgendwann getan. Aber ich wollte dir eigentlich nicht noch mehr aufbinden, weißt du?» Ich nickte. «Schon klar, aber ich trage lieber etwas mehr rum als direkt angelogen zu werden.» Dario sah mich aus entschuldigenden Augen an.
Er wusste, dass er mir damit ein ganz wenig wehgetan hatte. Nicht, weil er rückfällig geworden war, nein. Eher, weil mir geradewegs ins Gesicht gelogen hatte. Und verraten hatte er es mir nie. Ich musste es selbst miterleben und andere mussten mir davon erzählen. Wie peinlich war es bitteschön, dass ich, seine Freundin, als Letzte davon erfahren hatte?
«War es wegen meiner Mom?» Wieder ein Schulterzucken. Er rieb sich die Nase und schloss seufzend seine Augen. «Zum Teil, ja. Ich kam einfach an einen Punkt, wo das, was ich dann getan habe, der einzige Ausweg für mich war.» «Trinken und Pillen schlucken?» «Man, Noè. Es tut mir leid, okay?!» Ich winkte ab. «Ich weiß. Ich bin dir nicht böse. Ich versuche nur gerade zu verstehen, wo du jetzt im Moment stehst. Ich nehme an, du bist wieder clean, oder? Zumindest versuchst du es.» Dario zuckte wieder mit den Schultern und mied meinen Blick.
Er versuchte es zumindest, oder? Er konnte mir jetzt nicht sagen, dass das nicht der Fall war. Als er mir keine Antwort gab, musste ich einfach nachfragen. «Wie lange bist du wieder clean?» «Wovon?» «Alkohol.» Er rieb sich übers Gesicht. «2 Tage.» «Und Pillen?» «Keine Ahnung. Knappe 16 Stunden vielleicht.» Immerhin. «Weed?» «Ich habe heute früh was geraucht. Musste mich irgendwie beruhigen. Hatte eine horrormäßige Nacht.»
«Aber so kommen die Tests doch positiv raus.» Er nickte und begann seinen Kopf zu schütteln. «Ich arbeite dran, man!» Ich langte nach seiner Wange und holte ihn schnell wieder runter. Ich hatte Angst, ihn wütend zu machen. Er hatte wieder Stimmungsschwankungen, doch ich passte mich ihnen an, denn ich wollte bei ihm bleiben und nicht wieder streiten.
Der Drang zur Nähe war ihm wieder entkommen. Er musste mich nicht mehr durchgehend anfassen, wie noch vor knappen 40 Minuten. Jetzt genügte ihm bloßer Augenkontakt und vielleicht ab und zu ein sanftes Streicheln oder Kraulen. «Okay, ich bin stolz auf dich», lächelte ich sanft und hoffte auf einen Kuss, doch Dario sprang nicht darauf an. Er spielte nur nervös mit dem Reißverschluss von meiner Jacke. «Was macht dich nervös?» Ein Kopfschütteln. «Nichts, nur-» Er schaute nach vorn in die dunkle Nacht, aufs weite Meer hinaus. «Es wird langsam verdammt spät und du hast morgen Schule.»
«Seit wann interessiert sich der liebe Dario denn dafür?» Er grinste sanft auf, doch es zerfiel schnell wieder. Zu schnell. Es lag nicht daran, dass ich Schule hatte. Nein, es ging um etwas ganz anderes. «Das heißt, dass du langsam nach Hause solltest und ich auch. Aber-» Er biss sich wieder einmal in seiner Unterlippe fest. «Das- Ich will nicht schlafen gehen. Ich habe Angst.» «Du kannst bei mir schlafen, wenn du möchtest.» «Aber dein Dad-» Ich winkte ab. «Der hat mir heute seinen Segen gegeben, bei dir sein zu dürfen. Also? Bei mir?»
Dario zögerte. «Ich weiß nicht, Micina. Meine Träume haben sich verändert. Sie sind nicht mehr so, wie vor 5 Tagen.» Was meinte er damit? «Ich verfalle in verdammte Panik, sobald ich einschlafe.» So schlimm? «Wenn das so ist, solltest du wirklich mal mit Kelly darüber sprechen. Also nur, wenn du dich dafür bereit fühlst. Aber wirst du das überhaupt jemals?»
Dass sie bereits davon wusste, würde sein Geständnis nicht beeinträchtigen, denn das, was ich verraten hatte, durfte sie nicht in Darios Akten übernehmen, ohne es selbst von ihm gehört zu haben. Plus, sie hatte ärztliche Schweigepflicht. Was sie von mir zu hören bekam, hatte nichts in anderen Sitzung zu suchen. Ich wusste, dass ich Kelly hier vertrauen konnte.
«Ich überlege es mir. Mal schauen.» Er vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte erschöpft. Seine Schultern sackten ein und ich umarmte ihn reflexartig. Zu schnell und hektisch. Er zuckte zusammen, doch sagte nichts und ließ meine Arme um ihn ruhen. Es dauerte ein bisschen und dann lehnte er sich in meine Umarmung und seufzte ein zweites Mal. Dieses Mal aber erleichtert und losgelassener.
Dad hatte Dario und mich genaustens im Visier gehabt, als wir durch die Haustür traten. Warum? Tja, weil es 2 Uhr morgens war und ich in 4 Stunden wieder aufstehen musste, um mich für die Schule bereitzumachen. Aber er wusste, dass sein Blick reichte. Ich hatte kapiert und verstanden, dass er nicht wütend, sondern enttäuscht war und mir morgen einen Vortrag über Verlass und Vertrauen halten würde, weil ich seines dezent gebrochen hatte, da ich die Fliege gemacht hatte, ohne ihm zu sagen, wo ich hinging. Hätte ich ihm davon erzählt, hätte er wahrscheinlich etwas sanfter, aber trotzdem wie ein normaler Vater reagiert.
Und, dass Dario bei mir schlief, kam für ihn auch als Überraschung. Doch er duldete es. Zum Glück. Aber Giacomo hatte er trotzdem informiert. Und einen Drogentest musste Dario auch bei uns machen. Er kam positiv raus, aber er hatte Dad bereits beim Machen vorgewarnt und ehrlich zugegeben, was er wann zuletzt zu sich genommen hatte.
Und auch, wenn es dem Italiener nicht einfach gefallen war, hatten wir meinen Vater etwas über seine Alpträume aufklären müssen. Vor allem, da sie ja immer schlimmer wurden und nicht mehr wirklich zu verstecken oder ignorieren möglich waren.
Ich kam gerade vom Bad zurück in mein Zimmer und erwischte Dario aus Versehen beim Umziehen. Er stand mit dem Rücken zu mir und zog sich den Hoodie über den Kopf. Dad hatte ihm ein Shirt von sich gegeben. Dass es kurze Ärmel hatte, war nicht ideal, doch jemand anders als ich würde nicht bei Dario schlafen. Jedenfalls nicht meines Wissens nach. Und ich kannte seine Armbänder beinahe schon auswendig.
Ich wollte mich bekannt geben oder einfach wieder rausgehen, weil Dario mich noch nicht bemerkt hatte, doch ich musste einfach kurz schauen. Nur ganz kurz. Die Neugier war halt schon da und manchmal einfach stärker als mein Verständnis für Privatsphäre.
Dario hatte zugenommen. Nicht viel, aber genug, um es einen Erfolg nennen zu können. Unter der weiten Kleidung, die er bevorzugte, konnte man nicht sehen, wie schmal seine Taille war und einen prägnanten Kontrast zu den breit gebauten Schultern kreierte.
Und- Und in der Nähe vom Nacken, etwas weiter unten zwischen den Schulterblättern, schlängelte ein kleiner Schriftzug. Oder war es ein Symbol? Vielleicht ein Tattoo? Definitiv ein Tattoo. Ich hatte nicht gewusst, dass er eins hatte. Aber, was war es?
Ich wollte näher heran, doch er zog sich Dads Shirt über und drehte sich dabei zu mir um. Shit. Das war jetzt komplett falsch von mir gewesen. Ich hätte nicht starren sollen. Er erstarrte und stoppte Mitte seines Bauches. Noch ein paar. Noch mehr Tattoos. Fuck! Nicht hinschauen, Noè! Ich wusste nicht, wie ich diese Situation noch retten konnte, weshalb ich mir einfach meine Hände vor die Augen klatschte.
«Es tut mir so verdammt leid! Scheiße, ich hätte klopfen oder was sagen sollen! Wirklich, sorry!» Doch ich bekam keine Antwort. Dario sah mich bloß an. Irgendwie verloren und verängstigt. War es, weil ich die Schnitte, die aus seinem Hosenbund ragten, gesehen hatte?
«Es tut mir wirklich verdammt leid. Das war so falsch von mir.» Ich schüttelte meinen Kopf und bettelte mit hilflosem Blick um eine Reaktion. Ich bekam keine. Ich wusste nicht, was jetzt gerade in ihm vorging. Doch er brach aus seiner Starre aus und strich sich das Shirt glatt. Abwinkend warf er sein Handy aufs Bett. «Ist okay.»
Huh? Er musste mir angesehen haben, dass ich diese ruhige Antwort nicht erwartet hatte, doch er wusste mich zu beruhigen. «Ich glaube dir, wenn du sagst, dass es dir leid tut. Ich weiß, dass du es nicht extra gemacht hast.» Also war es ihm doch unangenehm? Hä? «Du bist mir nicht böse?» Er schüttelte den Kopf und schlang seine nackten Arme um meinen Bauch. «Kommt darauf an. Zeigst du mir auch was?» Dieser verdammte Bastard.
Spätestens jetzt hatte ich verstanden, dass seine Stimmung wieder drastisch angestiegen war. Ich versuchte mir zu merken, ob es ein bestimmtes Muster gab. Getroffen hatten wir uns vor 6 Stunden. Vor 4 Stunden hatte er ein Tief gehabt und das hatte bis vor Kurzem angehalten. Hieß das, er könnte in 4 Stunden wieder crashen? Funktionierte das so? Hatte er eine innere Uhr? Ich kannte mich zu wenig mit Boderline aus.
«Ich kann dir zeigen, wo die Tür ist.» Ich deutete zu ihr und erbte ein leises Lachen von Dario. Er zog mich enger an sich heran und verfiel einer Stille. Ich konnte wahrnehmen, wie er diesen Moment und die Ruhe in sich aufnahm. Und so dreist und unpassend es jetzt sein mochte, aber ich musste fragen. «Wie viele Tattoos hast du? Und warum hast du mir nicht davon erzählt?» «4.»
Seine Hand fuhr meinen Rücken runter, über meinen Po und wieder hoch. Es fiel mir schwer, bei der Sache zu bleiben. «Vergesse manchmal, dass ich sie habe.» «Wie lange hast du die schon?» Er zuckte mit den Schultern und richtete sich wieder auf.
«Das da hinten war mein erstes. Hab's mir mit 13 machen lassen.» Dann aber definitiv nicht auf professionelle Art und Weise. «Quinn hat einen Kumpel, der das schon Jahre macht. Glaub mir, ich lass mir nicht einfach so was stechen, ohne darüber nachzudenken.» Meine Arme um seinen Nacken schlingend, tasteten meine Finger vorsichtig den Kragen runter. Ich wollte es anfassen. Aber, ob ich es traf, würde wohl nur der liebe Gott wissen.
«Und die anderen drei habe ich mir vor knapp einem Jahr stechen lassen. Das da-», er zeigte auf sein Brustbein und wanderte wenige Zentimeter runter, genau in der Mitte seiner Brust, «Ist ein kaputter Dolch. Vielleicht 10 oder 12 Zentimeter groß. Und hier-», er zeigte auf die rechte Seite seines Bauches, bei seiner Taille, «Da- ehm- Das steht La vita è seminata di spine più che di fiori. Das heißt- eh- Das Leben ist mit Dornen gesät und nicht mit Blumen.»
Wohe- «Ist so ziemlich das Einzige, was mir von der Zeit, bei der ich bei meiner Mutter gelebt habe, geblieben ist. Komisch, ich weiß. Hat sie mir mal gesagt. Und hier-», er wanderte runter zum Hosenbund und stoppte auf der linken Seite,
«Das ist eine kleine Schwalbe. Heißt das Schwalbe? Keine Ahnung, aber stell es dir so vor: Eine Schwalbe, aber sie ist gebrochen und zerstört.» Ich schluckte. Ich wusste, was er mir sagen wollte, doch- Meine Augen wollten es selbst sehen. «Darf ich sie sehen?»
Ich wusste bereits nach der ersten Sekunde, dass es ein nein war. Er hatte den Kiefer angespannt und mied meine Augen. Und dann, als er nicht einmal auf meine Frage einging, ließ ich sie schnell wieder fallen. «Und im Nacken habe ich einen kleinen Schmetterling, der auf der einen Seite normal ist und die andere Seite ist zerrissen und hässlich.»
«Hat es einen Grund, warum du sie hast?» Er seufzte auf und schlang die Arme wieder um meine Wenigkeit. Er fühlte sich wieder etwas besser. Gut. «Macht süchtig.» Ich erinnerte mich an Dads Worte: Dario wird schneller von Dingen süchtig und abhängig, als er es selbst realisieren konnte. «Was? Sie zu haben-» «Sie zu bekommen. Der Schmerz hat was Angenehmes.»
Er drehte mich in Richtung Matratze und deutete, dass wir es uns bequem machen sollten. «Und wenigstens kommt was Schönes dabei raus. Nicht so, wie beim anderen Schmerz.» Dass er so locker darüber redete und einfach abwinkte, lag nicht ganz richtig bei mir.
Ging es ihm gerade wirklich gut? Oder versuchte er wieder von etwas abzulenken? Warum war ich wieder so paranoid? Ich wollte ihm vertrauen. Das gehörte schließlich zu einer Beziehung. Ich wusste, dass er mir vertraute. Also was hielt mich davor auf, nicht dasselbe bei ihm zu tun?
Was auch immer es nun sein mochte, spielte keine Rolle mehr, denn ich vergrub meine Sorgen genauso stark, wie mein Gesicht an seiner Brust. Ich zwang mich förmlich in den Schlaf, doch es war doch immer so: Wenn man es dringend wollte, bekam man es nicht auf die Reihe.
Ich hatte Darios Erlaubnis bekommen, meine Hand unter sein Shirt auf seine Brust zu legen und er döste halbwegs vor sich hin. Aber ich hatte irgendwie Angst davor, jetzt einzuschlafen und dann inmitten purem Chaos wieder aufzuwachen. Ich wollte bereit und für ihn da sein, wenn er einen Flashback haben würde. Und ich hatte genauso Respekt davor, wieder eine in die Fresse zu bekommen.
«Mhm...» Er zuckte nur zusammen, doch ich war schon auf höchster Alarmstufe. Ich zog mich sofort zurück. Irgendwie hatte diese letzte Nacht mit ihm wohl doch etwas mit mir angerichtet. Teilweise hatte ich schon genauso Bangen vor seinen Alpträumen, wie er selbst. Ich hatte zu große Angst. Ich wollte es nicht riskieren.
Langsam rüttelte ich ihn wach, bevor es überhaupt losgehen konnte. «Was?» «Du-» «Ich? Warum weckst du mich? Habe ich dir wehgetan?» Irgendwie lustig, dass er direkt auf meine Nase schaute. «Nein, ich- Ich habe einfach Angst, dass du leidest.» Er seufzte und rieb sich das Gesicht. «Schau, wenn es passiert, suchst du einfach das Weite, okay? Weck mich nicht. Ich werde es schon überleben. Habe ich ja schon tausend verdammte Male.»
Ja, aber ich würde es nicht überleben, ihn so zu sehen. «Oder, nein. Ich schlaf unten auf dem Sofa.» Er stand auf und blies sich vertrottelt und verschlafen die Locken von der Stirn. «Was? Nein, bleib!» Ich zog ihn hastig zurück ins Bett. «Noè... Du nervst mit deinem Rumgezappel und komischen Zögern.»
Okay, nein! Ich würde ihm da jetzt beistehen. «Nein, ist gut! Schlaf hier. Tut mir leid. Ich bin nur grade irgendwie verwirrt und wahrscheinlich auch verdammt müde. Komm.» Und mit Mühe und Not schaffte ich es, Dario zu überzeugen. Wir beiden schliefen ein.
Und ich biss durch. Ich wagte es kein einziges Mal, ihn zu wecken, wenn er wimmerte, weinte und sich verkrampfte. Ich hörte auf ihn und ließ ihn die schlimmste Nacht seines Lebens kontinuierlich, bis mein Wecker am nächsten Morgen klingelte, durchleben.
Und während draußen die Sonne anstieg, sahen Dario und ich aus wie verkohlte und halbtote Menschen. Kurz gefasst: Ich würde heute auch nicht zur Schule gehen.
Tats? Always!
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