Aufgrund Moms Bitte saß ich noch immer am Esstisch und tippte nervös mit meinem Zeigefinger am Rand meines Glases rum.
Mom hatte mich, eigentlich uns alle, darum gebeten, Dario erstmals allein zu lassen, um ihm Zeit zu geben. Aber ja, einfach war es nicht. Doch seine Worte von letzter Nacht kamen mir wieder in den Sinn.
Er wollte das doch. Er hatte mich letztens darum gebeten, allein sein zu können. Vielleicht brauchte er das ja wirklich grade... Ich meine, es fiel ihm alles andere als leicht, vor anderen zu fallen. Ihm jetzt also Privatsphäre und Zeit für sich zu geben, könnte ihm helfen, mit aufgestauten Emotionen klarzukommen.
Aber wir alle hier am Tisch wussten, wie Dario damit umging. Nicht auf gesunde und sichere Weise. Das schon gar nicht. Eben, als er aus der Küche gekommen war, hatte ich direkt kapiert, dass er sich heißes Wasser über die Hand gießen lassen hatte, um sich abzulenken.
Warum auch sonst war er dann tiefst entschlossen und in einer Art Trance zurückgekommen, um direkt nach der Gabel und der Kartoffel zu langen? Er hatte sich kurz betäubt, um vor allen essen zu können. Das Essen war ja gut und alles. Aber die Art und Weise, wie er wieder versuchte, anderen vorzuspielen, dass er große Fortschritte machte, nicht.
Ja, er machte Fortschritte. Fortschritte, was sein Essverhalten anging, aber auf emotionaler Ebene wartete er noch immer auf eine Erlösung. Irgendwas, was ihm helfen würde, alles besser zu überstehen. Ein Wundermittel, was die Tage und Nächte wieder für ihn trennen würde. Ein Elixier, dass ihm aus dem endlosen alleinstehenden Tag, den er schon seit Jahren durchlebte, retten und herausholen würde.
Aber er war auf dem richtigen Weg. Ich wusste, dass es zu viel verlangt war, von ihm gar keine Fehler und Rückfälle zu erwarten. Ich hatte es schon einmal erwähnt. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, alles in Einem zu schaffen. Darios Weg nach Rom war ewig lange und ich war mir im Klaren, dass wir erst die ersten Meter hinter uns hatten. «Reagiert er immer so, wenn er was isst?», fragte Dad an mich gewandt und ich zuckte mit den Schultern. «So ziemlich, ja. Ihm wird verdammt übel und danach quält ihn die Tatsache, dass er etwas im Magen liegen hat.» Gio stimmte mir schwach nickend zu, als würde sie verstehen, was ich sagen wollte. «Aber das eben war wohl einfach allgemein zu viel für ihn.»
«Ja», stimmte Mom mir zu und sie schaute besorgt in Richtung Flur, wo Dario verschwunden war. «Gibt's eigentlich schon mehr zu Santiago? Ihr habt ihn vor Gericht geholt, nicht wahr?» Mom nickte langsam und sah mich kurz entschuldigend an. Warum? Weil sie das mir nicht erzählt hatte oder, weil mich ihre Antwort auf Giacomos Frage enttäuschen würde?
«Ja, er hat zugegeben, dass er Dario vernachlässigt und ihm als Vater nicht beigestanden hat, wie es bei einem kleinen Kind der Fall sein müsste. Dank Darios medizinischer Akte konnten wir die Aussage fürs Vergiften unterstützen. Was Santiago jedoch verneint, ist das regelmäßige Vergiften von Dario. Sein Statement ist, dass er es ein oder zweimal getan hatte, um Dario eine Lektion zu erteilen, was das Nehmen von Süßigkeiten anging, ohne zu fragen.» Ich musste nach meinem Glas greifen und einen großen Schluck nehmen. So, als wäre es Alkohol. Den könnte ich gerade auch brauchen. Ein oder zweimal zuviel, Santiago...
«Wie es nun wirklich war, kann nur Dario sagen und es wird auch noch auf eine Aussage seinerseits gewartet. Aber im Moment sieht es für Santiago so aus, dass er eine gröbere Geldstrafe und sicher schon mal ein Jahr Probation auf dem Buckel hat. Je nachdem können auch noch wenige Tage oder Monate im Gefängnis dazukommen.» Hoffentlich. Und wenn wir gerade bei dem Thema waren: «Und haben das System und der Staat schon was für Dario entschieden?» Mom und Dad verzogen beide das Gesicht. Ja oder nein? «Halbwegs. Es ist klar, dass er nicht hierbleiben kann.» Ich konnte nicht anders und verdrehte meine Augen.
Wie oft wollten sie seine Tapeten denn noch wechseln? Bis er den Verstand vollkommen verlieren würde? «Denkt ihr nicht, dass das konstante hin und her, ihm alles nur noch schwerer macht?» Dad stimmte mir zu und schaute dann verkrampft zu Mom rüber, die auch nickte. «Ja, aber die Entscheidung liegt kaum mehr bei uns. Wir warten noch auf Kellys Diagnose, aber sie meinte, es ist beinahe unmöglich, Dario in so kurzer Zeit zu diagnostizieren. Zumindest jetzt. Sie hat einen Verdacht, aber möchte ihm nicht noch mehr Stress machen, indem sie einfach auf die Schnelle ein Schild auf seine Brust nagelt. Der Staat geht also von Baytons Diagnose aus, die jetzt auch nicht sooo weit daneben liegt.»
«Was vermutet Kelly denn, was er hat?» Gio wagte es auch einmal, ihre Stimme zu benutzen. «Das darf sie nicht teilen, weswegen auch ich nicht weiß, was es sein könnte.» Irgendwie wurde mir dieses Gespräch zu viel, weshalb ich mich in die Lehne meines Stuhls sinken ließ und seufzend an die Decke hochschaute.
Und von Dario hatten wir noch immer nichts gehört. Ich machte mir langsam große Sorgen um ihn. Wie immer. «Um es kurz und einfach zu halten: Er kommt in den nächsten Monaten sicher in eine Klinik. Aber in welche und mit welchen Zielen kann noch nicht gesagt werden. Bis dahin wäre er hier wohl am besten aufgehoben. Wenn das für dich okay ist, Giacomo.» Er nickte und winkte ab. «Er hat hier immer ein Bett frei. Er hatte es schon vor Jahren. Er kann so lange hier bleiben, wie es nötig ist und er will.»
Er war sein Sohn, den er nie hatte. Giacomo wollte Darios Vaterrolle einnehmen, doch leider hatte Dario diese Rolle aus seinem Drehbuch gestrichen. Genauso, wie die Rolle seiner Mutter oder allgemein der Leute, die ihm wichtig waren.
Um ehrlich zu sein, kam er mir sehr gespalten vor. Manchmal hing er an uns und bat um Hilfe. Er sagte uns, wie perfekt wir waren und wie dankbar er war und nur wenige Zeit später hasste er uns und machte uns klar, wie falsch wir waren und wie sehr wir ihn quälten.
«Gio? Möchtest du nach ihm schauen?» Tat mir das ein wenig weh, weil Dad Giorgia aufforderte und nicht mich? Ja, nicht nur ein wenig. Aber ich wusste, was seine Absichten waren, weshalb ich mir nichts anmerken ließ. Dario hatte mehr als nur mich. Und dies musste er einsehen und verstehen, weshalb nicht immer nur ich angesprungen kommen konnte, wenn er sich schwertat.
Sie stand zögernd auf und sah mich verloren an. Sie, eigentlich wir alle, wussten nicht, was oben los war. Doch sie stimmte dann zu und lief nach oben. Wir hörten sie klopfen und kurz, wie sie mit ihm redete, bevor die Zimmertür wieder zuging. Bruder und Schwester waren nun allein. Innerlich hoffte ich, dass sie mit Dario darüber reden würde. Über ihre Probleme und ihre eigenen Ängste. Diese mit ihm zu teilen, war wichtig, denn nicht nur er hatte Hürden zu überwinden.
Er war nicht der einzige. Er war kein Problem, dass es allen schwerer machte, morgens aus dem Bett zu kommen. Und ich denke, für ihn war es wichtig, dass zu wissen und glauben, denn vielleicht würde es so für ihn endlich einfacher werden, Hilfe annehmen zu können.
«Mäuschen, alles okay?» Moms Blick klebte an meiner Unterlippe, die ich mit meinen Zähnen missbrauchte. Seufzend hielt ich mir den Kopf und nickte. «Ja, ist halt alles so kompliziert. Versteh langsam auch nicht mehr, wo vorne und hinten ist.» «Geht mir genauso.» Sie lächelte sanft und langte über den Tisch rüber zu mir, um meine Wange zu streicheln.
«Aber du weißt ja. Wir sind immer da, wenn du jemandem brauchst. Und Kelly ist auch immer nur ein Anruf entfernt.» Sie hatte recht und vielleicht würde ich mir auch bald mal die Zeit nehmen und mit Mom oder Kelly vertieft über alles, was in den letzten Wochen passiert war, zu reden.
Mit Dario ging das zwar auch, aber bei ihm hatte ich gewisse Schwimmflügel an. Ich wollte nicht ertrinken und ihn noch tiefer, als er eh schon tauchte, herunterziehen. Nicht, dass ich tiefer sank als er, aber ich wollte, dass er sich auf sich und seine Familie konzentrierte, denn diese Dinge waren sein ganzes Leben lang zu kurz gekommen.
Wir aßen fertig und als ich mit dem Abwasch schon so gut wie fertig war, kam Gio wieder zu uns runter. Sie rieb sich ihre verweinten Augen und zuckte dann hilflos mit den Schultern, als ihr Vater sie anschaute und wissen wollte, was passiert war. «Es ist nichts. Ist halt einfach nicht schön, ihn so zu sehen.» Was meinte sie damit? «Wie?» Wieder zuckte sie mit den Schultern und deutete aufgebracht nach oben. «Ja, so ruhig und verstummt. Er hat mich zwar wahrgenommen und etwas mit mir geredet, aber er ist so leer. Nicht so, wie noch vor dem Essen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf ihn eingehen soll. Er meinte, dass er schlafen will, also habe ich noch etwas gewartet, bis er eingeschlafen ist und jetzt bin ich wieder hier unten.»
Sein Stimmungspegel war also wieder gekippt... So wie letzte Nacht. Und plötzlich wollte ich dringend wissen, was Kelly vermutete. Denn auch ich hatte eine Vorahnung, aber ich war bloß ein Teenager, der noch gar keinen Abschluss hatte. Eine Diagnose würde man von mir nicht zu hören bekommen.
Für mich war Dario einfach Dario. Ohne alles drumherum. Er war er. Er war mein Freund und würde dies auch bleiben. Egal, was für welche Diagnosen er noch bekommen würde.
Ich wusste, dass Mom und Dad planten, mich heute wieder nach Hause zu zerren, weil ich es ihnen ja eigentlich auch versprochen hatte, doch ich schlich mich trotzdem nach oben in Darios Zimmer, das ganz dunkel war. Er schlief tatsächlich. Auch, wenn etwas unruhig.
Nicht lange rumtrödelnd zog ich mir meinen Hoodie über den Kopf und schlich mich vorsichtig zu Dario unter die Decke, wo ich schweißige, verkrampfte Hände wiederfand. Ich zögerte. Ich wollte ihn jetzt nicht wecken oder Träume in ihm auslösen, die ihn quälen würden.
Aber ebenso wollte ich ihn dringend spüren. Irgendwie brauchte ich es ab und zu, seinen Herzschlag hören und spüren zu können. Aber was, wenn ich eine posttraumatische Reaktion in ihm auslösen würde, wenn ich mit meiner Hand unter sein Shirt, an seine Brust fassen würde?
Ich meine, ich wusste, dass er die letzten paar Male nichts gegen meine Hand gehabt hatte, aber ein Nein war immer angebracht. Vielleicht war es dieses Mal anders und er wollte es nicht. Diese Kontrolle wollte ich ihm nicht wieder nehmen. Er hatte schon einmal erleben müssen, wie es war, wenn jemand anders entschied, was mit ihm und seinem Körper passieren würde.
«Dario?», flüsterte ich nahe vor ihm liegend. Er krauste seine Nase und atmete geschaffen aus. «Hmm?» Ihn so einfach wach zu bekommen, war neu. Er hatte also gar nicht richtig geschlafen. «Darf ich?» Er öffnete seine Augen und sah, dass ich meine Hand leicht angehoben hatte. Er verstand und schüttelte seinen Kopf. «Bin gerade nicht in Stimmung, dein Stressball zu spielen.»
«Mein Stressball? Ich meinte ja nur, vielleicht hilft es dir wieder beim Schlafen...» «No.» Anders als sonst, schaute er mich eher verabscheuend und frustriert an. Ich verstand. Er wollte wirklich allein sein. Er hatte eine Pause nötig. Vielleicht war es also doch nicht so schlecht, dass ich heute wieder nach Hause gehen würde.
«Okay, aber melde dich bei mir. Wir hören uns morgen wieder, verstanden?» Er nickte und schloss wieder seine Augen. Dass er sich wegdrehte, tat weh, aber ich versuchte darüber hinwegzusehen. Er tat es sicherlich nicht extra.
Eine neue Diagnose?... Was Kelly wohl vermutet...
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