54. Kapitel
Es war mitten in der Nacht und geschlafen hatte ich bis jetzt nur knappe 3 Stunden. Warum? Weil ich allein im Bett lag und nur schwer im Augenwinkel zu Dario, der auf der Fensterbank saß und leer nach draußen schaute, schauen konnte.
Er war vor knapp einer Stunde aufgestanden und davor hatte er sich in der Matratze hin und her gewälzt und einfach keine Ruhe gefunden. Meine Vermutung war also nicht allzu daneben gewesen. Kein Stimmungswechsel. Ein Stimmungscrash würde ich das jetzt noch eher nennen.
Es ging ihm, obwohl er es nicht wirklich zeigte, gerade verdammt Scheiße. Ich wusste es einfach. Ich hatte es im Gefühl. Ob es an den Keksen oder am Entzug von allem lag, oder einfach so war, wusste ich nicht. Um ehrlich zu sein, war das für mich gerade auch nicht so wichtig. Unter dem Schlussstrich stand so oder so immer dasselbe Ergebnis. Ein stummer Dario, der innerlich entweder zu viel oder gar nichts spürte.
Ich traute mich auch nicht wirklich, etwas zu sagen. Er wusste nicht, dass ich auch wach war und ihn ansah. Allgemein kam es mir so vor, als würde er gerade gar nichts wahrnehmen.
Mittlerweile schaute er nicht mehr verloren aus seinem Fenster, sondern fixierte seine Hände an, die er nervös aneinander rieb. Er biss sich auf der Unterlippe rum und ließ seinen Kopf dann seufzend in den Nacken fallen.
Alles, wirklich alles in mir, schrie danach, aufzustehen und zu ihm zu gehen, um ihn in den Arm zu nehmen. Aber ein ganz kleiner Teil in mir, ein Teil, auf den ich nicht stolz war, weil er mein innerer Psychologe war, den ich bei Dario eigentlich nicht sein wollte, erkannte diesen Moment gerade als Chance für Dario, zu lernen allein mit so einer Episode klarzukommen.
Natürlich musste er das nicht, aber so wie ich ihn kannte, würde er öfters allein als in Begleitung sein, wenn er in ein emotionales Tief fallen würde. Er zog sich gerne zurück. Und so gut, wie ich ihn mittlerweile schon kannte, wusste ich, dass er sich nicht erst seit ein paar Stunden so fühlte, sondern es sicherlich schon viel länger in sich anstaute oder versteckte.
Nun stellte sich die Frage, warum? Vielleicht, weil er uns eine Freude machen wollte, in dem es ihm besser ging und er sich Mühe gab. Er versteckte gerade alles. Seine Entzugserscheinung, seine Stimmungsschwankungen waren seit unserem Einkauf verschwunden, aber nicht inexistent und seine Traumata, Vergiftung und sexueller Belästigung, unterdrückte er auch. Er gab sich wirklich Mühe, doch wie lange konnte er den Deckel draufbehalten, bis der Druck darunter unerträglich wurde und alles in die Luft jagen würde?
«Dario?» Er zuckte zusammen, aber überspielte es, in dem er mich dann einfach anschaute. Da er jetzt eh wusste, dass ich wach war, hockte ich mich auf und schob meine Beine tiefer unter die Bettdecke. Meine Arme nach ihm ausstreckend, hoffte ich, dass er auf meine stumme Bitte, wieder ins Bett zurückzukommen, anspringen würde, aber vergebens.
Er wandte sich einfach wieder von mir ab und schaute wieder nach draußen. Ich sah ihn bloß an. Mein Herz zerbrach, wie schon so oft, in unendlich viele Einzelteile. Es tat weh, ihn so zu sehen. «Kannst du nicht schlafen?», fragte er dann monoton nach. «Jup.» Ich rutschte an die Bettkante und band mir mein Haar neu nach oben. Es war überall, nur nicht da, wo es noch vor dem Schlafen gewesen war. «Warum?» Ich zuckte mit meinen Schultern. «Ich mache mir Sorgen.»
«Musst du nicht», versuchte er mich zu beruhigen und rieb sich übers Gesicht. «Bin nur ein bisschen am Nachdenken.» «Worüber?» Er zuckte mit den Schultern. «Dummheiten.» Okay... Er wollte nicht darüber reden. «Definiere Dummheiten?» «Nichts Redenwertes», winkte er dann einfach ab und kippte das Fenster. Seine Stimme war kratzig, was auf eine ebenso kratzige Kehle hindeutete. «Willst du nicht mit mir darüber reden?» «Nicht wirklich, nein.»
Ich stand auf und lief zu ihm, um auch aus dem Fenster schauen zu können. «Geh wieder schlafen. Weit komme ich ja nicht, wenn ich die Fliege machen möchte.» Die Arme auf meiner Brust verschränkend schüttelte ich meinen Kopf. «Ich kann so nicht mehr schlafen, wenn ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Du weißt, wie ich bei so Sachen bin.» Dario rieb sich seine Augen. Keine Ahnung, weshalb. Aber vielleicht versuchte er sich alles, was zeigte, dass er doch nicht nur über Dummheiten nachdachte, aus den Augen zu reiben.
«Schau. Ich möchte allein sein, Noè. Ich brauche das jetzt gerade.» «Ich kann rüber zu Gio schlafen gehen, wenn dir das lieber ist.» Er nickte, aber sah mir nicht mehr entgegen.
Hieß das jetzt, dass ich gehen sollte? Aber ich konnte jetzt doch keineswegs mehr einschlafen. Ich würde kein verdammtes Auge mehr zubekommen. «Ich habe Angst, Dario», gab ich zu und blieb im Türrahmen stehen, weil ich ihn wirklich nicht allein lassen wollte.
Vielleicht brauchte er es wirklich, aber genauso brauchte ich eine Bestätigung, dass er sich im Griff hatte und händeln konnte. Meine Worte hatten ihn aus seiner Stummheit gezogen. Er sah mich nun mit voller Aufmerksamkeit an. «Wovor?» «Vom Jetzt.»
Ich rieb mir meine Hände an meiner Schlafhose ab und lief etwas auf den Italiener zu. «Ich raff gerade gar nicht, was ich machen soll. Ich checke nichts mehr. Und ich will ehrlich gesagt nicht zu Gio. Nicht, wenn du so komisch bist.» «Ich bin nicht komisch.» Nein, er doch nicht. Auf keinen Fall.
«Du behandelst mich wieder wie ein Kleinkind. Hör auf damit. Wenn ich dir sage, dass ich allein sein möchte, ist das auch so und kein heimlicher Hilfeschrei, wie es die ganzen Therapie-Fuzzies immer nennen! Ich bin jetzt seit fucking 4 oder 5 Wochen die ganze Zeit unter Beobachtung. Wenn das so weitergeht, crasht alles wieder in sich zusammen. Ich mag dieses Beobachten und Kontrollieren nicht. Ich mag allgemein nichts, was mit Kontrolle zu tun hat!» Weil er keine hatte.
Ich schluckte schwer und wagte es trotzdem etwas näher an Dario heran. Auch, wenn sein Blick mir riet, auf Abstand zu bleiben. «Ich kontrolliere dich doch gar nie.» Er lachte spöttisch auf und schüttelte seinen Kopf. «Sicher? Du lässt mich kaum mehr allein.» «Willst du denn wirklich, dass ich gehe? Ich dachte, es sei im Moment alles einigermaßen okay.» Daraufhin bekam ich keine Antwort mehr.
Wieder ein paar Schritte in seine Richtung und ich stand dann gleich neben ihm, um wieder aus dem Fenster schauen zu können. Doch er regte sich nicht mehr und schenkte mir keine Beachtung. Nicht mal, als ich meine Hand anhob, um nach seiner Wange zu langen.
Erst kurz vorm Berühren seiner Haut stoppte er meine Hand und hielt sie am Handgelenk fest. «Soll ich Kelly anrufen?» Keine Antwort. «Gio holen?» Wieder keine. «Soll ich wirklich gehen?» Schon wieder keine. Er umgriff meine Hand enger und holte sie nah an sich heran, während er träge seufzte.
Unsere Finger schlangen sich umeinander und ich als ich von ihnen aufsah, traf ich auf Darios Augen, die etwas ganz anderes als sein Mund eben gesagt hatte, sagten. Sie wurden glasig.
Spätestens jetzt war es mir egal, was er von mir wollte. Ich quetschte mich zu ihm auf die Fensterbank und machte es mir an seiner Brust bequem, damit wir zusammen ins Leere starren konnten. «Ich bin so müde», murmelte er mir in meinen Nacken und ließ seinen Kopf gegen meinen fallen.
«Lohnt sich das alles überhaupt?», fragte er dann ganz leise nach und ich schloss meine Augen. «Was?» Ich spürte, wie er schwer schlucken musste und zögerte, mir zu sagen, was ihm auf dem Herzen lag. «Clean bleiben. Zu essen... Zu kämpfen?»
Ich hatte keine Ahnung, was ich ihm darauf antworten sollte. Ich fand keine guten Worte oder etwas, was ihn aufmuntern würde.
Aber schlussendlich war es doch die Wahrheit, die er von mir zu hören bekam. Ich wollte nicht lügen und sagte ihm klipp und klar, was Tatsache war. «Das ist eine Entscheidung, die du für dich selbst treffen musst. Lohnt es sich für dich?» Er gab mir keine Antwort mehr und umarmte mich enger. «Wenn du mal so darüber nachdenkst... Ich habe Weihnachten richtig versaut.» Ich schlug meine Augenlider auf und drehte mich dann so in Darios Armen, dass ich zu ihm, in seine Augen aufschauen konnte. «Das stimmt überhaupt nicht.»
«Nicht? Jeder geht auf Eierschalen und macht sich Sorgen um mich. Jeder hat Angst, dass ich Mist baue.» Ich quetschte mich aus seinem engen Griff, drehte mich komplett zu ihm um und hockte mich eng vor ihn. Sein Kinn umgreifend und sanft lächelnd meinte ich, «Ich meine, ja... Gio und alle anderen machen sich Sorgen, aber die Tatsache, dass du da und bei ihnen bist, überwiegt doch alles andere.»
Seine Wange streichelnd und die lose Träne, die es heimlich über seine linke Wange runter geschafft hatte, strich ich geschickt weg, ohne direkt auf sie einzugehen. «Mir geht es zumindest so. Für mich persönlich könnte Weihnachten dieses Jahr nicht besser ausfallen. Alle beisammen und jeder füreinander da.»
Ich konnte Bewunderung wahrnehmen. Dario sah mich mit einem bewundernden Glitzern in seinen grünen Augen an und lächelte traurig. Doch selbst erkannte er die Wahrheit und Stärke meiner Worte nicht. Für ihn war das nicht so. Er konnte mir nicht glauben, aber das, mit Betracht auf sein allgemeines Mindset, war nicht anders zu erwarten.
Aber genau deswegen waren wir doch hier. Um ihm zu zeigen, wie wahr meine Worte eben doch waren. Es stimmte. Ich meine, hallo?! Dario war clean – wenn auch noch nicht allzu lange, aber jede Minute zählte -, er hatte bereits fast 6 Kilos zugenommen und das nur in zwei Wochen. Ihm ging es körperlich besser, auch wenn es ihm der Entzug verdammt schwer machte. Er kämpfte.
Und es war klar, dass er das alles hinterfragen würde. Schließlich war Verhungern, Saufen und Kiffen um einiges einfacher gewesen, als alles zu spüren und verarbeiten. «Weißt du noch, was ich dir vor dem Aufenthalt in der Klinik versprochen habe?» Er nickte. «Ich habe es gebrochen. Mein Versprechen.»
Er verstand nicht, doch das spielte keine Rolle. Schließlich plante ich nicht, ihm zu enthalten, was ich damit meinte. «Ich habe dir versprochen, die ersten Hürden für dich zu übernehmen, aber du hast alles selbst in die Hand genommen. Du bist dorthin, hast dich darüber aufgeregt und es ging dir vermehrt nicht so gut, aber du hast gesehen, dass es einen Weg nach oben gibt. Und gestern meintest du, dass du es versuchen willst. Ich habe da nicht wirklich mitgewirkt. Das warst alles du.»
Er musste mir keine verbale Antwort geben, denn sein Blick und der Wechsel an Emotionen konnte ich allein an seiner Art, wie er mich ansah, erkennen.
Er dachte darüber nach, doch das Licht leuchtete nicht lange, denn er seufzte dann nur auf und schaute wieder aus dem Fenster. «Du übersiehst aber die ganzen anderen Sachen, die passiert sind.» Er rieb sich seinen linken Unterarm, doch ich stoppte ihn und streichelte über die Stelle, die ihm wohl gerade wehtat. Egal, ob mental oder körperlich.
«Ich habe Leute beleidigt, mich wie ein Affe benommen, alle belogen, dich verletzt und verängstigt und so weiter.» Er schluckte wieder schwer. «Und das alles nur, weil ich es nicht auf die Reihe bekomme, dem richtigen Weg zu folgen.»
«Es gibt doch gar keinen richtigen Weg, Baby!» Ich legte meine Arme um seinen Nacken und versuchte den Schock in seinem Ausdruck zu ignorieren, aber auch nur, weil ich zuerst nicht gerafft hatte, warum er mich so ansah.
Erst als ich meinen letzten Satz noch mal durchging, raffte ich, wie ich ihn genannt hatte. Well... Ups? Einfach weitermachen und nach vorne schauen, Noè.
«Wie heißt es so schön? Viele Wege führen nach Rom, oder? Und in erster Linie ist es scheißegal, wie schnell wir in Rom ankommen. Viel mehr geht es darum, dass wir dort gesund, stark und vor allem bereit für die vielen weiteren Reisen, die wir angehen werden, ankommen.»
Ohne Scheiß, ich war stolz auf meine Worte. Ich sollte Bücher schreiben. Doch Dario hing noch an etwas ganz anderem fest. «Du hast mich Baby genannt...»
Viele waren letztes Kapitel überrascht, dass dieses Buch nicht alleinstehend bleiben wird. Und ja, es wird einen zweiten Teil, wenn nicht sogar noch mehr geben.
Aber jetzt mal zu Dario... Ich mach mir Sorgen um ihn und seine letzten paar Worte... Was denkt ihr? Ist meine Sorge berechtigt?
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