43. Kapitel
«Komm schon. Wir kommen sonst zu spät.» Ich hielt Darios Hand und zog ihn durch die Gänge unserer Schule. Wir hatten verschlafen, doch das musste niemand herausfinden. Heute war Darios erster Tag zurück und irgendwie freute sich jeder außer er selbst. Verständlich.
Schule war manchmal richtig öde, doch hier hatte ich meine Freunde. Es war ein Ort, der, obwohl ich hier lernen und arbeiten musste, eigentlich stark mit Spaß und Unsinn verbunden war.
Der größte Unsinn saß in unserem Klassenzimmer in der vordersten Reihe. Carlos und seine Typen. Doch ich war ein netter Mensch und ignorierte diese Platzvergeuder einfach.
«Sehe ich so aus, als würde ich pünktlich sein wollen?» Dario verfehlte den letzten Tritt der Treppe und gab auf. Er setzte sich mit verschlafenem Blick und wirren Haaren, die er unter einer Kapuze zu verstecken versuchte, auf den Boden an der Wand.
«Nicht aufgeben. Du schaffst das», kicherte ich und versuchte ihn wieder auf die Beine zu ziehen. «No, du musst mich zurücklassen. Geh ohne mich.» Er winkte ab und rieb sich das Gesicht. Dieser Typ.
Ich gab aber nicht auf und zog ihn mit aller Kraft auf die Beine, um ihn dann die letzten Meter ins Zimmer schieben zu können. Er ließ mich machen und sackte dann an seinem alten Platz in den Stuhl, wo er seinen Kopf direkt auf seine Arme legte und weiterschlafen wollte. Ohne scheiß... Ohne mich wäre der Typ noch bei mir zu Hause im Bett.
Wir waren lange aufgeblieben. Einerseits, weil Dario alle Unterlagen, die er frühzeitig zum Nacharbeiten bekommen hatte, kein einziges Mal angeschaut hatte und andererseits, weil er, dann als wir schlafen wollten, nicht mehr hatte schlafen können. Er hatte Flashbacks gehabt. Natürlich hatte ich mich gefragt, ob das an mir lag, weil wir uns am Tag davor nähergekommen waren, doch Dario winkte diese Vermutung einfach nur weiter. Er meinte, er hätte mir schon gesagt, wenn er es nicht gewollt hätte.
Melina schielte zu Dario rüber und schaute dann zu mir, wo sie freundlich zu lächeln begann. Vielleicht hinterfragte sie die letzten Worte der Lehrer über Darios Wiederkommen. Es hatte geheißen, dass es ihm wieder besser ging und er auf gutem Wege zurück in volle Schultage war, doch wenn der Italiener so verschlafen und motivationslos zur Schule kam, konnte man das schlecht glauben. Aber ich wusste ja, dass er einfach etwas zu wenig geschlafen hatte. Kaffee hatte er keinen wollen.
Trank er überhaupt Kaffee? Trank Dario überhaupt etwas anderes als Wasser oder eben... Alkohol? «Ey, Rio.» Rocco lehnte sich zurück und stupste ihn an. «No.» Er war halt schon sehr talentiert, was seine Kommunikation anging. Ich begann vor mich hin zu schmunzeln.
Rocco wollte einen zweiten Versuch starten, doch unser Spanischlehrer kam angelaufen und schloss die Tür alles andere als leise hinter sich. Nicht nur Dario zuckte zusammen. So ziemlich alle hier, die mit dem Kopf noch im Wochenende waren, hatten einen kleinen Herzinfarkt erlitten.
«Buenos días.» Dario schaute angeekelt auf und traf direkt auf meine Augen. «Wir haben Spanisch?! Ich dachte, die erste Stunde am Montag ist Geschichte?» Er klang enttäuscht. «Der Plan hat sich am Anfang des Jahres geändert.»
Er sah so aus als hätte ich ihm das Herz gebrochen. Ich musste kurz überlegen, warum er so reagierte, doch Geschichte war immer sein Fach fürs Schlafen gewesen. Dass wir sie montags früh immer gehabt hatten, hatte ihm da natürlich perfekt in den Tag gepasst.
«Buenos días, Dario. Schön, dass wir dich wieder haben.» Purer Ekel. Ihm war purer Ekel ins Gesicht geschrieben. Aber gut, dass ich nicht die Einzige war, die Spanisch nicht allzu sehr mochte. Ich meine, die Sprache war schön, doch der Unterricht und die Hausaufgaben überhaupt nicht.
«Morgen», grummelte Dario nur und lehnte sein Kinn auf den Händen, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, an. Wenigstens schaute er nach vorn an die Wandtafel und schlief nicht weiter. Dario konnte gut Spanisch. Das wusste ich, ich meine, ich hatte schon seit Jahren einen Crush auf ihn. Natürlich wusste ich, dass er Spanisch sprechen konnte.
Sein Akzent hatte mich immer bis in meine Träume verfolgt und warm eingehüllt. Dario hatte eigentlich auch beim Englischreden einen leichten Akzent, weil er in seiner Freizeit nur immer Italienisch gesprochen hatte, doch irgendwie hatte sich das die letzten paar Monate gelegt. Man merkte ihm und seinem Sprechen nun an, dass er nicht mehr mit den alten Freunden, die zu 80% auch Italiener waren, rumhing.
Also, gut für seine Gesundheit und alles, aber den Akzent vermisste ich schon. Ich denke, ich muss nicht weiter ausschmücken, wieso ich ihn vermisste. Ich war seine Freundin, ich fand ihn heiß und somit auch solche Kleinigkeiten, wie ausländische Akzente zum Schreien geil. Fertig. Aus. Finito.
Okay, noch ganz kurz: Der spanische Dario war nice, aber er konnte den italienischen nicht toppen. Würde er nie können. Okay, jetzt konnte ich mich wieder auf den Unterricht konzentrieren. Halbwegs zumindest.
In der Pause musste ich den Jungen trösten. Er hatte jetzt schon genug von der Schule. Er freute sich abartig auf den Mittag, weil er dann wieder gehen konnte. Dass ich normal, bis Schulende bleiben musste, war ihm scheißegal.
«Ich raff eh nicht, warum die mich jetzt für eine Woche in die Schule packen. Nächste Woche muss ich in die Klinik.» Er und ich saßen im Gang am Boden an den Spinden. Musste er mich daran erinnern, dass er heute in einer Woche für einen oder sogar zwei Monate weg sein würde?! Er verpasste sogar meinen Geburtstag.
«Und- Warum ziehst du so eine Miene, Micina?» Er langte nach meiner Hand und zog mich über den Boden rüber zu sich zwischen die Beine. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, wenn er das machte, aber es war angenehm. Ich mochte es, von Dario eingenommen und beschützt zu werden. Zumindest gab er mir so das Gefühl, sicher und unverwundbar zu sein.
«Du verpasst dann meinen Geburtstag», murmelte ich und biss mir meinen Daumennagel kürzer. «Stimmt nicht. Es ist keine Geschlossene. Ich darf immer noch raus und so.» «Ja, aber du bist ja dann nicht mal mehr in Marblehead. Es ist doch das Toledo Center, oder?» Er zuckte mit den Schultern.
«Dann kommst du halt zu mir und wir schauen, was man in der Gegend so machen kann. Viellei-» Er schluckte verkrampft und rieb sich nervös über den Nasenrücken. «Vielleicht bekomme ich es dann ja schon hin, besser essen zu können. Wir könnten essen gehen, wenn du willst. Ich bin mir sicher, dass das auch Teil deiner Liste ist, die du mit mir abhaken willst.»
Mir wurde ganz warm. Er hatte sich daran erinnert. Mit rosigen Wangen grinsend, streckte ich mich zu ihm hoch und küsste seine Wange. «Dario der Romantiker.» «Was Romantiker? Du hast sie doch nicht mehr alle.» Er war vielleicht nicht der Romantiker aus dem Fachbuch, doch er war romantisch auf seine eigene Art und Weise.
Er machte diese Kleinigkeiten, die manchmal drohten unter dem ganzen Chaos oder Stress unterzugehen, doch ich fing sie auf und erkannte sie. «Aber das wäre echt nice. Es reicht etwas Kleines, weißt du. Vielleicht auch wieder Waffeln.» Dario lachte leise auf und schaute den Gang runter. Schüler liefen auf uns zu.
«Ja, und am besten ziehe ich mir noch einen Anzug an, oder was? Waffeln? Wie bei unserem ersten Date?» Dass Dario meine Liebe zum Kitsch aufzog, überhörte ich volle Kanne. Hatte er Date gesagt? Ich drehte mich zu ihm um und musterte seine Miene.
«Date? War es ein Date? Du redest schon vom Mathe-Hausaufgaben machen, oder?» Er nickte zögerlich. «Joa, war ein Date. Ich bin nicht wirklich für die Hausaufgaben gekommen, Noè. Die habe ich ja sowieso nie bei Min abgegeben.»
«Du bist für die Akten deiner Mom gekommen, oder?» Er schüttelte den Kopf. «Das war bloß ein Nebenprojekt, um herauszufinden, was meine Mom genau für Drogen nahm und wie lange schon. Aber in erster Linie bin ich gekommen, weil du mich fast in die Hose pissend gefragt hast.» Ich schob ihn empört weg.
«Ich war voll selbstsicher. Weißt du, warum ich nervös war? Weil du Idiot auf dem verdammten Schulhof einfach spontan einen Joint gerollt hast. Und- Ja, ich hatte Angst, dass du denken würdest, es wäre ein Date, obwohl ich es ja ein Date nennen wollte...» Ich begann nervös draufloszuplappern. Hilfe.
«Komm schon, Noè... Beim Marble am Meer, warme Waffeln mit Puderzucker... Du kannst mir nicht sagen, dass es kein Date war.» Er hatte schon recht. Nur dachte ich, es ein Date zu nennen, wäre dumm, weil es nur einseitig war.
«Okay, es war ein Date. Auch, wenn ich dich nachher komplett verraten habe.» Er verdrehte die Augen. «War nicht nett, nein.» Mir fiel ein, dass er an diesem Abend aber doch etwas vom Puderzucker probiert hatte. «Du hast beim Marble aber etwas von der Waffel probiert, oder?» «Vom Puderzucker und der Schokoladensauce...»
«Wieso?» Er rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. «Man, Noè.» «Nein, sag.» Als er wieder aufsah, hatten sich seine Wangen etwas rosa verfärbt. «Ich wollte schauen, ob ich es hinbekomme, damit du nicht denkst, ich sei irgendein komischer Typ, der seine Waffeln nicht isst.» Er hatte sich Druck gemacht.
Mir entfloh ein Seufzer und ich sackte in Darios Brust hinein, als ich den Schülern zusah, die an uns vorbeigingen. Die Mädchen fanden Dario hübsch. Das konnte ich ihnen ansehen, denn sie starrten ihn an, als wäre er das letzte Stück Pizza auf einer Hausparty.
Ich sank provokant tiefer auf seinen Schoß und hörte Dario dann nur leise auflachen, als er auf mich herabblickte und dann verwirrt die Augenbrauen zusammen zog. «Was machst du? Wo willst du hin? In meine Hose?» Ich lachte auf und langte mit dem Kopf auf seinem Schoß liegend nach seinem Kinn, um ihn zu mir runterzuholen, doch Dario stoppte mich. «Ey, Micina. So beweglich bin ich nicht.»
Zum ersten Mal... Es war mein erstes Mal. Also nicht das erste Mal, aber es war mein erstes Mal, mit meinem Freund in der Schule zu sein und wie in den ganzen Filmen verliebt im Flur zu chillen. Es hatte wirklich etwas Schönes an sich.
Irgendwie fühlte sich alles im Moment okay an. Ich hatte keine Schmerzen mehr. Es tat gut, einfach mal einen normalen Tag zu haben. Und ich denke, Dario ging es genauso, denn er war gelassen und lustig unterwegs.
«Die Girls haben sich beinahe voll gesabbert, während sie dich angeschaut haben.» Er schaute auf und suchte die Mädchen, doch sie waren schon wieder weg. «Und mir fast in die Jeans zu kriechen, hält sie davon ab, oder was?» Ich zuckte mit den Schultern. «Wenn schon jemand drin ist, passt kein Zweiter mehr rein.»
Ich entlockte ihm ein Grinsen und schaute ihm zu, wie er meine Wange langsam und sanft streichelte. Er musterte mich, doch ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Ich wusste nicht, ob etwas los war oder ich ihn darauf ansprechen konnte, warum ihm dieses wunderschöne Lächeln vom Mund fiel, wie die Blätter im Herbst von den Bäumen.
Ich denke, durchgehend gefragt zu werden, ob alles okay war, war ermüdend und verleitete automatisch zum Lügen, weshalb ich leise blieb, und mich aufrichtete, um mich wieder an Darios Brust lehnen zu können. Ich spielte mit seinen Fingern und wartete etwas. Ich ließ ihm Zeit. Vielleicht half das ja...
Wisst ihr, Dario bekam zwar ein Medikament, doch für Borderline gab es keine Tabletten, die helfen konnten. Man nahm eigentlich Medikamente, um die schlimmsten Symptome zu drosseln. Sprich, es blieb normalerweise nicht nur bei einem Medikament.
Warum sie Dario nur eins gaben und sich dafür entschieden hatten seinen Emotionspegel halbwegs lahmzulegen, wusste ich nicht. Ich denke, sie wollten einfach die Rage in den Griff bekommen.
Doch dadurch verfiel er umso öfters einer Dissoziation. So wie jetzt. Ein Abtrennen von der Realität oder das Abschotten von den eigenen Emotionen, wenn diese ihn überwältigten. Oder das Abblocken vom Schmerz.
Keine Ahnung, warum Dario es immer wieder machte, doch ich konnte die letzten Tage beobachten, dass es immer mehr wurde. Er schaltete öfters ab. Ob er es bewusst machte oder nicht, wusste ich leider nicht. Aber laut Google ging beides. «Dario?», fragte ich leise an seine Wange murmelnd und küsste diese sanft.
Er schluckte und riss den Blick nur mit Mühe von den Spinden auf der anderen Seite des Ganges los. «Hmm?» Er schaute mich zwar an, doch es lag eine Art Schutzschicht auf seiner Haut und seinen Augen. Noch nicht ganz. Er war noch nicht ganz zurück. Aber ich versuchte, ihn nicht darauf anzusprechen. Ich wollte ihm nicht unnötig schlechtes Gewissen machen. Vor allem, wenn er es nicht extra machte und es vielleicht auch gar nicht wollte.
«Es klingelt gleich.» Sein Blick fiel runter auf meine Schulter, wo er dann schweigend nach einer roten Strähne langte, und diese anvisierte. «Wir haben gleich Englisch.» «Ich gehe jetzt schon nach Hause», meinte er dann nur und rieb sich die Augen.
Ich denke, er hatte sich fangen können. «Sicher?» Ein Nicken. «Kommst du noch deine Sachen holen?» Er schüttelte seinen Kopf und half mir beim Aufstehen, in dem er mich auf die Beine zog. «Eh- No. Nein.» Eine weitere Feststellung meinerseits: Nach dem Dissoziieren mischte sich mehr Italienisch in sein Reden ein. Interessant, aber ich hatte leider wieder keine Ahnung, wieso das so war.
Ich machte mir Sorgen, doch ich wollte es nicht zeigen. Ich wusste nicht vieles, doch eins war mir klar: Was Dario neben Kontrollverlust überhaupt nicht ausstehen konnte, war ein Blick voller Sorgen. Er machte sich dann immer stundenlang Gedanken darüber.
Ich musste ihm jetzt vertrauen. Er war nun der Meinung, dass er nach Hause sollte. Ich hatte ihm zu glauben und das tat ich auch. Aber ich denke, er sollte sich schon korrekt abmelden. Einfach, damit man ihm nicht wieder Schwänzen unterstellte. «Willst du dich nicht noch abmelden? Du weißt, dass du nicht mehr schwänzen darfst, weil du es ja- Weil du es mehr als genug getan hast.»
Dario winkte ab. «Nein, ich gehe einfach. Kannst du meine Sachen in meinen Spind tun? Der Code ist, glaube ich,-» Er rieb sich die Stirn. Er hatte den Code vergessen. «Eh-, Er ist-» Ich versuchte nach seinen Händen zu langen. Seine Augen wurden von dem ganzen Reiben immer röter. Doch Dario wich mir aus und kratzte sich gedankenversunken im Nacken. «Eh-, Nimm die Sachen doch bitte zu dir in den Spind. Kannst sie mir morgen wieder geben.»
Ich nickte und ich versagte. Die Sorge war mir in die Augen gekrochen. Er schien orientierungslos. «Du solltest dich wirklich abmelden, Dario.» «Mach du das für mich. Ich gehe- Vai- Eh-, Ich gehe jetzt zu meiner Schwest- Giorgi- Eh-, Doch. Ja, Giorgia.» Aber-
«Giorgia ist auch in der Schule.» Dario stoppte verwirrt in seiner Bewegung und dachte nach. «Ich meinte, Giaco- Oder Santia- Ich gehe zu Mo-» «Hey, shh.» Ich langte nach seinen Wangen und zwang ihn dazu, sich auf mich zu konzentrieren. «Alles okay?» «Ja, alles gut.» Das kaufte ich ihm leider ganz und gar nicht ab.
Er war extrem verwirrt und durcheinander. «Lüg nicht. Was ist los? Was geht in dir vor?» Er wollte abwinken und seufzte, doch die Klingel unterbrach seinen Akt, mich hier stehenzulassen. Ich ließ ihn auch überhaupt nicht los.
«Ich höre gerade nur sau viele Stimmen auf einmal.» Er wollte gehen. Bitte was? Als Borderliner hörte man keine Stimmen. Das hätte ich schon längst irgendwo im Internet gelesen, wenn das der Fall wäre. «Stimmen?» «Nicht verschiedene Stimmen. Meine eigene. Nur irgendwie 3-mal oder so.» Das ging?
Ich wusste nicht, dass Dario seine eigene Stimme hörte. Was sagte sie denn? «Das wusste ich nicht. Was sagt sie?» Er zuckte mit den Schultern und atmete tief aus und ein. «Keine Ahnung. Ich, ehm, ich sollte jetzt, glaube ich, gehen. Danke für meine Sachen.» Ich stoppte ihn wieder und schlang meine Arme um seinen Bauch.
Zu ihm aufschauend bat ich ihn darum, es vielleicht der Schulschwester zu sagen, damit diese Giacomo anrufen könnte oder so. Mir war es ehrlich gesagt nicht wohl, Dario jetzt so allein gehen zu lassen. «Das ist nicht schlimm, Noè. Ich brauche einfach etwas Ruhe und dann geht es wieder. Ist immer so.»
Ich wollte kontern, als eine tiefe Stimme nach uns rief. «Hey! Ihr zwei! Habt ihr einen Flurpass? Der Unterricht hat begonnen!» «Nein, sorry.» Ich kannte den Lehrer nicht, aber er hatte trotzdem das Gefühl, uns herumkommandieren zu können. Lehrer.
«Ich-, eh-, Ich wollte mich eigentlich abmelden und gehen. Mir geht's nicht gut», gab Dario ehrlich zu und hörte zum Glück auf meinen Vorschlag. Der Lehrer stoppte vor uns. «Und du?» Er sah mich abwartend an. «Was für eine Lüge hast du auf Lager? Geht's dir auch nicht gut?», äffte er Dario nach.
Mir fehlten ehrlich gesagt die Worte. «Mitkommen, ihr zwei.» Er langte nach unseren Armgelenken und zog uns hinter sich her. «Klasse?» «Eh, D4f.» Dario war verstummt. «Ich werde es melden. Ihr werdet über Mittag nachsitzen und einen Aufsatz schreiben.» Huh? Aber Dario hatte gesagt, dass es ihm nicht gut ging...
Es stellte sich heraus, dass wir nicht die einzigen waren, die von diesem Hurensohn von Lehrer aufgeschrieben wurden. Dario und ich waren die letzten, die am Mittag ins Zimmer traten. Sogar Tabea saß dort. Dieser Lehrer hatte heute wohl einfach einen verdammt schlechten Tag und musste es irgendwie an allen außer sich selbst auslassen.
Dario hatte Englisch noch gut überstanden. Er war halt einfach sehr ruhig geworden. Wir setzten uns zu Taby, die uns bemitleidend ansah und seufzte, «Euch auch? Der ist ja heute auf Blut aus.» Das konnte sie laut sagen.
«Ich wünsche einen Aufsatz von mindestens 6'000 Worten. Das vorgegebene Thema ist Disziplin.» Der Typ hatte dreist einen Aufsatz mit vorgegebenem Thema am Start. Dario saß neben mir. Sein Bein wippte nervös auf und ab. Dario war eine tickende Zeitbombe. Ich sah ihm an, dass er wegwollte und Zeit für sich allein brauchte.
Warum das so war, hinterfragte ich nicht. In erster Linie war mir wichtig, den Lehrer dazu zu überreden, einen offensichtlich aufgewühlten und gestressten Schüler gehen zu lassen. Ich stupste Darios Arm an und er schaute zu mir rüber. Er spielte mit dem Kugelschreiber und ließ diesen geschickt zwischen seinen Fingern durchgleiten.
«Sag es ihm. Er hat nicht das Recht, dich hier zu halten, wenn es dir nicht gut geht.» Ich konnte ihm ansehen, dass er die Nerven, die er dafür brauchte, im Moment nicht hatte, doch er hob seine Hand an. «Sir?»
«Ich habe einen Namen, Mister Corrado.» Dario rieb sich übers Gesicht und winkte ab. «Herzlichen Glückwunsch. Ich auch. Hören Sie, mir geht's nicht gut. Darf ich mich entschuldigen? Ein paar Minuten draußen würden vollkommen reichen.»
Ich denke, er hieß Mister Lindegger. Er sah Dario aus skeptischen Augen an und lehnte sich an der Kante seines Pultes an. «Was fehlt Ihnen denn?» Verdammte Scheiße, Dario hatte sich nicht zu rechtfertigen. Wenn es ihm nicht gut ging, dann war es auch so.
«Eh-, Mir-» Ich kannte ihn. Er würde niemals vor allen sagen, was los war. «Mir ist übel.» «Kommen Sie, Mister Corrado. Eine bessere Ausrede fällt Ihnen nicht ein? Schreiben Sie Ihren Aufsatz und lassen Sie mich in Ruhe arbeiten.» Dario sackte in der Lehne seines Stuhls zusammen und verdrehte die Augen.
«Bitte.» Ich war kurz davor, mich einzumischen, doch Taby kam mir zuvor. «Sir, Sie dürfen ihn nicht auf Kosten seiner Gesundheit hierbehalten.» Besser hätte ich es nicht sagen können. «Ihre Meinung ist nicht gefragt. Widmen Sie Ihre Energie bitte Ihrem Aufsatz.»
So wie ich das wahrnahm, machte die allgemeine Situation nur noch alles schlimmer und dringender. Die Tatsache, dass Dario um Ruhe bat, damit er sich beruhigen konnte, man ihm diese aber nicht gewährte, engte und stresste ihn nur noch mehr.
Es machte mich fertig. Ich wollte Dario zuflüstern, dass er einfach gehen sollte, wenn's unerträglich wurde, doch Lindegger erwischte mich dabei. «Miss Damaris, Ihr Aufsatz schreibt sich nicht von allein.» Ich schnaubte auf und lehnte mich auf meinen Tisch.
Dario war ganz ruhig. Er hatte sogar schon mehr geschrieben als ich. Wir würden diese Stunde schon überstehen. Dass ich deswegen nicht in die Kantine konnte, nervte mich schon, aber ich würde es überleben. Allgemein konnte ich es nicht ganz glauben, dass dieser Hund von Lehrer das Nachsitzen auf den Mittag verschoben hatte.
Ich hörte Taby seufzen. Ja, same... Und jetzt zur einzig wahren Frage. In einer Stunde 6'000 Wörter? Handgeschrieben? Hatte der Typ einen Schaden? Das war so gut wie unmöglich. Ich schielte zu meinem Freund rüber und sah, wie er die Spitze seines Kugelschreibers intensiv musterte.
Man, ich interpretierte zu viel darin hinein, oder? Das war nicht schlimm, oder? Dario schüttelte den Kopf und stand einfach auf. Er steuerte auf die Tür zu, doch Herr Lindegger schritt dazwischen. «Mister Corrado, setzen Sie sich bitte wieder hin?» Dario schüttelte den Kopf. Er wollte an ihm vorbei, doch der ältere Mann ging nicht zur Seite.
«Zwingen Sie mich nicht dazu, den Direktor dazu zu holen.» «Lassen Sie mich bitte raus?» Mittlerweile schrieb keiner mehr. Jeder schaute nach vorn zur Tür und wunderte sich, wer diese Diskussion gewinnen würde.
«Bitte setzen Sie sich wieder, Herr Corrado.» Dario schaute den Typen etwas verwirrt und ungläubig an. Er lachte leise auf und wollte endgültig gehen, als Lindegger nach Dario griff und diesen zurück an seinen Platz zerren wollte.
Ich sprang direkt aus meinem Stuhl, denn Darios Reaktion war alles andere als kooperativ gewesen. Er ging Linegger direkt an die Kehle. «Dario, stopp!» Ich zwang mich mühevoll zwischen die beiden und bat Taby um Hilfe.
Wenn wir das jetzt unterbrechen konnten, würde nichts Weiteres mehr passieren können. Es würde bei der Hand, die Dario um den Hals unseres Lehrers gekrallt hatte, bleiben. Nicht mehr.
Tabea versuchte die verkrampften Finger von Lindegger von Darios Oberteil zu lösen. Bei Gott war ich froh darüber, dass wir alle unsere Handys hatten abgeben müssen. Zum Glück konnte das niemand filmen. Lindegger krächzte leise auf und sah Dario aus glasigen Augen an. «Das hier wird Folgen haben.»
Boah, ich konnte Darios Hand von seinem Hals lösen und drängte den Italiener etwas nach hinten gegen die erste Reihe der Tische. Er atmete schwer und es dauerte wenige Sekunden, bis ich wieder Leben in seinen Augen erkennen konnte.
Er schaute zu Lindegger und blieb an der Rötung seines Halses hängen. Er schaute dann runter auf seine Hand und kapierte, was geschehen war. «Dario, alles ist gut», flüsterte ich ihm zu, doch er ging nicht auf mich ein. Sein Blick glitt einmal durchs ganze Klassenzimmer. Alle hatten zugesehen.
«Ich- Eh-, Sorry.» Dario machte sich aus dem Staub und ich flitzte ihm direkt hinterher. Er hatte den Hinterausgang zu den Turnhallen im Visier. Dieser Junge konnte schnell gehen. Ich kam ihm kaum hinterher. «Dario, warte.» «Nicht jetzt, Noè.»
Er deutete mir, ihn zu lassen und lehnte sich draußen an der Fassade an, wo er den Kopf in den Nacken legte und ein paar tiefe Atemzüge nahm. «Was ist los?» Dario schüttelte den Kopf. «Weiß ich nicht. Bitte lass mich einfach.» Ich versuchte, auf ihn zu hören und setzte mich vor den Eingang auf die erste Treppenstufe.
Auf einmal fiel mir etwas ein. «Hast du deine Medikamente genommen?» Ein böser Blick. Das war alles, was ich im Moment bekam. Aber es ergab Sinn. Dario war in den letzten drei Tagen wieder aufgeblüht. Eigentlich nur auf positive Weise, doch jetzt... Er hatte die Medikamente nicht mehr genommen. Das wusste ich. Ich war fast jede Minute bei ihm gewesen.
«Ist es abgesprochen, dass du die Tabletten absetzt?» Keine Antwort. Er ignorierte mich. Dario hielt sich das Gesicht und es sah so aus als würde er schluchzen. Ich lief zu ihm und griff vorsichtig nach seinen Händen, um sein Gesicht wieder von ihnen zu befreien, doch Dario schlug meine Hände weg. «Lass es!»
Ich zuckte zurück. «Geh! Ich will allein sein! Dass ich so bin, ist eh deine verfickte schuld! Du hättest mich in der Pause einfach gehenlassen sollen! Wieder typisch Noè!» Ehm... Ich war ratlos. «Es bringt jetzt nichts, dich so in die Sache hineinzusteigern», versuchte ich es ruhig, um ihn mit meiner eigenen Ruhe etwas herunterholen zu können, doch vergebens.
«Ich habe verdammte Tausendmal gesagt, dass ich Ruhe brauche und gehen will, aber niemand hat auf mich gehört!» Ich wollte nach ihm langen, doch er wimmelte mich ab. «Verpiss dich! Geh! Lass mich in Ruhe!» «Ich werde jetzt nicht gehen, wenn du so bist.» «Wie bin ich denn?! Was soll das denn wieder heißen?! Halt doch einfach die verdammte Fresse, Noè!»
Ich ging etwas auf Abstand. Sein Verhalten jetzt erinnerte mich stark an den Zusammenbruch im Krankenhaus. Ich wollte nicht, dass es nicht wieder so weit kommen lassen. Die Tür hinter uns schwang auf. Lindegger kam gefolgt von einem Mann in Anzug nach draußen zu uns.
«Sie können darauf gehen, dass ich beim nächsten Mal die Polizei einschalten werde! Eine Unverschämtheit, sowas!» Santiago war außer Atem und unsere Blicke trafen einander. Lindegger musste die erstbeste Kontaktnummer gewählt haben und somit gleich noch mehr Ärger angezettelt haben.
Ich denke, Darios leiblichen Vater in so einer Situation dazu zu holen, war ein Missgeschick, das einem von hier den Kopf kosten würde. «Dario, cosa c'è?» Er bemerkte ihn und schnaubte auf. Eine Antwort bekam Santiago nicht. «Hey, reiß dich zusammen. Questo idiota di insegnante minaccia di chiamare la polizia. Calma.»
Santiago kam näher und deutete mir, von Dario wegzutreten. Das wollte ich nicht. Ich traute diesem Mann nicht. Er hatte Dario doch beinahe am meisten wehgetan. Doch die beiden gaben mir gar keine andere Wahl, denn in der Sekunde, in der Santiago nach Darios Arm greifen wollte, ging die Bombe hoch, die schon seit der letzten Pause tickte.
Sohn gegen Vater und es war wie eine Art Spiegelspiel. Die beiden sahen sich in diesem Moment verdammt ähnlich. Santiago wollte Dario beruhigen und ihn irgendwie festhalten, doch Dario scheute keinerlei davor, dem eigenen Vater Fäuste entgegenzuschwingen.
So traurig es auch klingen mochte, dieses Schauspiel schien studiert. Das war nicht das erste Mal, dass die beiden sich so an den Kragen gingen. Ich konnte Santiago ansehen, dass er wusste, wie er Dario kontrollieren konnte und einerseits fand ich das scheiße, doch in einer Situation wie dieser hier gerade, war es vielleicht doch etwas Gutes.
Santiago hatte die Arme von hinten um Dario geschlungen und hielt seine brennenden Fäuste an seine Brust gedrückt fest. Dario atmete schwer und wollte sich aus diesem Griff - es war auch eine Art Umarmung - entwinden.
Lindegger erkannte, dass Dario ihn nicht mehr angreifen konnte und verschränkte die Arme auf der Brust. Er war das beste Beispiel von einer Person, die dachte, dass sich die Welt nur um sie drehte. Dario hätte ihn doch keineswegs angegriffen, wenn er nicht den ersten Zug gemacht hätte.
«Schauen Sie, dass Sie Ihren Sohn in den Griff bekommen.» Mir fehlten ehrlich gesagt die Worte. Ich traute mich nicht mal mehr, mich zu rühren. Santiago redete auf Dario ein, doch ich hatte keine Ahnung, was er sagte.
Egal, was es war, Dario verzog das Gesicht und kämpfte sich aus diesem Griff heraus. Er bekam kaum noch Luft und ging bei der Fassade des Schulhauses zu Boden. Erst als er saß, traute ich mich wieder in seine Richtung. Den bösen Blick wurde er nicht los, doch das war gerade egal.
«Und jetzt erklärst du mir mal bitte, wie es zu sowas kommt.» Santiago sah mich abwartend an. «Was willst du von mir hören?! Dario geht es nicht gut und die Missgeburt von Lehrer wollte ihn nicht in Ruhe lassen. Und Boom: Dario geht die Wände hoch. Sollte dir doch bekannt vorkommen.»
Santiago seufzte und wandte sich wieder an Dario, der erschöpft mit meinem Stofffetzen spielte, den er um sein Handgelenk gebunden hatte. «Du kannst nicht einfach nach dem Hals einer Lehrperson greifen, Dario! Ist dir bewusst, in was für Schwierigkeiten du dich da bringen kannst?!»
Mir fiel etwas auf. Dario blieb ruhig und ließ sich von seinem Vater ausschimpfen. Das war noch nie passiert. Zumindest nicht in den letzten Monaten. Dass er es einfach über sich hinnahm und nicht wieder den Hahn aufdrehte, ließ mich seine Einstellung zu Santiago hinterfragen.
Allein, wie er Dario so leicht hatte ruhigstellen können... Es war vielleicht nicht der sanfteste Weg gewesen, doch effizient war er 100%. Vielleicht- Vielleicht war Santiago doch ein wichtiger Teil in Darios Puzzle zur Besserung, doch- Hmm... Ich wollte nicht verrückt klingen, aber vielleicht war ich da an etwas dran...
Santiago war schließlich derjenige, der die meiste Zeit mit Dario verbracht hatte. Also, jetzt nicht wortwörtlich, doch er wusste vielleicht einfach am besten von uns allen, wie man Dario in solchen Situation vor einem riskanten Wutausbruch bewahren konnte.
Und es musste auch einen Grund haben, warum Dario sich von seinem leiblichen Vater kontrollieren ließ. Vielleicht nicht in jeder Hinsicht, doch in solchen Situationen, wie dieser hier. Ich denke, in gewisser Hinsicht war Santiago noch immer Darios Vaterfigur... Oder?
Könnte Noè recht haben? Aber inwiefern?
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