38. Kapitel
«Bist du dabei?» Mein Dad und Kelly standen erwartungsvoll vor Darios Bett, auf dem er selbst saß und sie beide eher unsicher anschaute. Er rieb sich die dicken Verbände und schielte rüber zu Gio und Giacomo, die auch hier waren und sich das Ganze anhören wollten.
Was meinte ich mit Ganze? Darios Zukunft. Wie würde es jetzt weitergehen? Wozu war er bereit? Wie und was wollte er als Nächstes tun? Dario gab meinem Vater keine Antwort und presste die Lippen fest aufeinander.
Wie immer, wenn er Dinge zu spüren bekam, die er nicht preisgeben wollte, begann er seinen Kopf zu schütteln und vergrub sein Gesicht dann in seinen Händen. Er war nicht an Bord. Das musste er gar nicht erst aussprechen. Ich kannte sein Verhalten mittlerweile so verdammt gut. Also zumindest dann, wenn er nicht impulsiv handelte oder den Verstand verlor.
Kelly hatte auch verstanden, dass Dario nicht wollte und seufzte, als sie sich an seinen Bettrand hockte und selbst nachdachte. Mein Dad konnte es nicht ganz verstehen. Ihm blendete nicht ein, wieso Dario nicht mehr kämpfen wollte. Das war wahrscheinlich so, weil er selbst nicht fühlen konnte, was Dario tagtäglich durchmachte.
Es war sehr mutig von Dario, das zu sagen, was er dachte und ich war ins gemein sehr stolz auf ihn, doch genauso sehr tat es mir höllisch weh, diese Worte hören zu müssen. «Ich kann nicht mehr.» «Doch.» Dad verschränkte seine Arme auf der Brust und blieb standhaft.
Er war der festen Meinung, dass Dario stark genug war. Ich auch... Wir alle hier waren uns sicher. Der, der sich aber am sichersten sein sollte, glaubte überhaupt nicht daran. «Und ich will nicht mehr. Ihr habt doch alle auch keinen Bock mehr.»
Er deutete zu Gio und ihrem Vater. «Ich habe es versucht, aber es ist zu schwer. Ich kann das nicht. Ich will so nicht leben. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich reite nur alle immer weiter in die Scheiße und verdammt, ich mache euch genauso kaputt, wie ich es mittlerweile bin.» Dario sah mir kurz in meine Augen.
«Noè hat mittlerweile auch schon PTSD und Anxiety. Gio hatte schon vor mir Probleme mit dem Selbstverletzen. Die Dränge schwinden nicht, ich weiß, dass sie es gerade nicht einfach hat, weil ich so Mist baue. Marco, du hast deine Frau verloren. Du kannst mir nicht sagen, dass du noch die Kraft dazu hast, mit so einem Idioten wie mir klarzukommen. Giacomo, ich weiß, du versuchst es zu verheimlichen, aber du hast auch Mühe mit deinem Herz. Und Kelly... Du hast sicher jemand anders, der deine Zeit dringender gebrauchen könnte als ich, der die ganzen Hilfen eh nicht umsetzen kann. Und meine Mom hat jetzt Theo und seine Kinder. Die sind super für sie. Und Santiago hat selbst Borderline. Ihm geht es bestimmt auch scheiße... Wieso sollte man also die Zeit mit mir verschwenden? Man kann mich nicht mehr retten. Ich kann mich nicht mehr reparieren.»
Gio weinte und wandte sich an ihren Vater. Mir fehlten ehrlich gesagt die Worte, weil ich nicht erwartete hatte, dass Dario so aufmerksam war und diese Dinge inmitten seines eigenen Schmerzes immer noch sehen konnte. Mein Vater legte seine Sachen weg und hockte selbst an Darios Bett.
Er legte eine Hand auf seine Schulter. «Ja, Dario. Wir alle haben Probleme und wenn wir es verdienen, deswegen Hilfe zu bekommen, dann auch du. Wenn wir kämpfen können, dann verdammt nochmal auch du.» Rio wich zurück und wandte seinen Blick ab. Es fühlte sich an, wie eine Intervention. Wir alle waren hier, weil wir Dario überzeugen wollten, weiterzuleben.
Aber jeder hier konnte ihm Mut zureden oder die eigene Hoffnung mit ihm teilen, es brachte nichts mehr. Er hing tief im schwarzen Loch drinnen und irgendwie gab es keinen Weg mehr, ihn da rauszuziehen. Er schaute nicht mal mehr zu den Händen, die ihm zum Greifen entgegengestreckt wurden. Er hatte aufgegeben.
Ich jedoch nicht. Als wir uns alle verabschiedeten, nahm ich es auf mich, heimlich zu bleiben. Die Besucherzeiten mussten nicht immer eingehalten werden. Dario warf sich erschöpft und laut seufzend zurück in die Matratze und wollte sich die Bettdecke über den Kopf ziehen, als ihm auffiel, dass ich noch immer im Türrahmen stand und ihn einfach nur ansah.
Das war nicht mehr Dario, der sich in diesem Bett befand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass bereits beim Suizidversuch ein Teil von ihm gestorben war. «Ich weiß nicht, wie sich dein Leben anfühlt, aber ich kann dich schon verstehen», meinte ich dann nur. Dario setzte sich unbeholfen auf und schaute mich einfach nur an.
Der liebevolle Blick von ihm war etwas, was vor drei Nächten gestorben sein musste. Er war weg. Wie vom Erdboden verschlungen. «Und ich kann dich nicht mehr aufhalten. Ich wünschte, ich könnte es tun, aber-» Ich lief zum Bett und blieb davor stehen. Meine Augen klebten an seinen. Er strahlte Stress aus.
Diese Worte wollte er nicht von mir hören. «Aber ich will einfach, dass du keine Schmerzen mehr hast. Wenn du kämpfen willst, stehe ich zur Stelle, aber genauso sehr werde ich an deinem Grab stehen, wenn du aufgeben willst. Ich werde nicht von deiner Seite weichen und ich will-» Meine Stimme brach, weil ich nicht ganz glauben konnte, dass ich von seinem Tod sprechen musste. So weit waren wir mittlerweile schon.
«Ich will einfach, dass du weißt, dass ich dir niemals böse sein könnte. Für gar nichts. Ich liebe dich echt, aber ich kann das so nicht mehr. Ich habe das Gefühl, mit dir zusammen zu sterben. Ich will, dass es aufhört. Ich will, dass es dir gutgeht und ich- ich-» Mir war nicht mehr ganz klar, was ich überhaupt sagen wollte oder ob das, was ich von mir gab, überhaupt Sinn ergab.
Das Atmen wurde schwer und ich rieb mir mein Gesicht und versuchte, mich selbst zu beruhigen. «Ich habe Angst», gab ich schluchzend zu und taumelte etwas zur Seite, weil ich realisierte, dass ich der Liebe meines Lebens gerade meinen Segen für den Tod gab. Ich sagte ihm, dass es okay war, wenn er gehen wollte. Ich würde ihm deswegen nicht böse sein.
«Ich habe keine Ahnung, was ich gerade sagen will, aber ich will einfach-» Das Stehen ging nicht mehr und ich spürte, wie meine Knie einsackten, doch mich packten zwei Hände an meinen Oberarmen. Dario hatte mich aufgefangen. Er sah mich mit glasigen Augen an und hatte einen angespannten Kiefer. Er malmte.
«Scheiße, ich flehe dich an. Gib nicht auf», flüsterte ich verweint und mich überkam eine noch größere Angst, weil ich offenbarte, was ich wirklich sagen wollte. Ich wollte nicht, dass er ging. Er durfte, doch er sollte nicht. Ich würde das hier nicht mehr ohne ihn hinkriegen. «Versuch es nochmals. Nochmals von ganz vorn.»
Ich suchte seine Augen und hielt mich an seinen Schultern fest. Darios Blick lag tief und ich konnte ihn verkrampft schlucken sehen. «Wieso? Wofür?» Ich fand meine Knie wieder und langte nach seinen Wangen, um ihn dazu zu zwingen, mir in meine Augen zu schauen. «Für mich. Für alle, die dich lieben. Aber am meisten für dich selbst.»
Dario schloss seine Augen. Er atmete sehr schnell und stockend. «Noè-» «Ich will meinen 18., den 21. und fuck, sogar meinen 50. Geburtstag mit dir feiern. Ich will mit dir erwachsen und dann alt werden. Ich will dir zeigen, wie schön das Leben doch sein kann. Ich will, dass du die Schönheit von deinem eigenen Leben findest. Und verdammt, ich will, dass du mit mir und allen anderen zusammen in dieser scheiß, traurigen Welt eben die schönen Erinnerungen kreierst.» Er blieb still und ließ meine Arme wieder los.
«Aber mein Leben wird niemals ein Gleichgewicht finden. Ganz egal, wie sehr ich es selbst will, es geht nicht. Ich bin krank...» «Dann lernen wir eben, wie wir deinem Leben und deiner Krankheit unter die Arme greifen können. Und ey, Streit, Konflikt und Angst gehören zum Leben. Zu jedem. Auch zu meinem.»
«Ja, aber du greifst dann nicht gleich zu Drogen oder zur verdammten Rasierklinge.» Darauf ging ich nicht ein, denn ich wusste, dass er auch ohne konnte. Er war stark genug. Er war viel, viel stärker als er eigentlich sein müsste, um das hier durchstehen zu können. Wir schauten einander in die Augen. Meine flimmerten in dieser dunklen Zeit mit einem Funken Hoffnung und versuchten, die grünen, beinahe tränenden Augen auch zu erhellen.
«Mach den Entzug. Versuch es. Ich komme jeden Tag vorbei und dann können wir zusammen raus oder etwas unternehmen. Oder du könntest mir dann bei meinen Hausaufgaben helfen.» Darios Blick fiel. Er rümpfte seine Nase und holte Luft, um etwas zu sagen, doch er stoppte sich selbst. «Du hast beim Programm nur noch 15 Wochen vor dir. Das schaffst du locker und du hast ja gesagt, dass es hilft.»
Er zögerte, doch er dachte wenigstens darüber nach. «Noè...» Er hatte einen trocknen Hals. «Selbst, wenn ich es versuchen würde... Ich weiß nicht, ob ich es bis dahin - bis zum Ende des Tunnels - überhaupt überleben werde. Ich werde definitiv Rückfälle haben und vielleicht werde ich wieder so Aussetzer haben, wie in Tropea oder eben vor drei Tagen.» «Und? Das ist okay.»
Seine Unterlippe begann zu zittern und er schaute endlich zu mir auf. Tränen flossen seine Wangen runter und er holte verkrampft Luft. «Ich habe aber Angst davor. Dieses Versuchen, Kämpfen und vor allem die Rückfälle tun verdammt weh.» Ich seufzte, «Es wird wehtun. Es wird höllisch wehtun, aber es ist nichts, was du nicht durchstehen kannst. Dario, du bist so krass stark. Ich wünschte, ich wäre nur ansatzweise so verbissen und kämpferisch wie du.»
Ich langte wieder nach seinen Wangen und strich ihm die Tränen weg. «Komm schon. Ein Neustart. Ohne Erwartungen und Druck. Dein Tempo und eins nach dem anderen.» Er legte seine Hände auf meine und hielt sie fest.
Die Wand hinter mir fand er gerade am interessantesten, doch die Unsicherheit und Furcht wandelte sich, auch wenn nur kläglich, in Ehrgeiz und Biss um. Würde er? Ein Neustart? Er nickte dann nur langsam und sah mich mit neuen Tränen an, die ich weilen ließ. Ich begann sanft zu lächeln und strich ihm die Haare aus der Stirn. «Ich liebe dich», flüsterte ich ganz leise und streichelte dann seinen Nacken.
Er lächelte traurig und biss sich auf der Unterlippe fest. Mit dem Daumen stoppte ich ihn davor und ich küsste ihn ganz sanft. Zuerst sein Mund, dann seine Wange und dann unter seinem Ohr, als ich meine Arme enger um seinen Hals legte und ihn ganz fest umarmte.
Wir schwiegen beide und irgendwie war das unsere Zeit, genau realisieren zu können, was wir wieder mal einander versprachen. Ich sagte ihm jedes Mal das Gleiche. Und ich war immer noch da. Ich hielt mich dran. Ich war nicht immer körperlich da, was er aber auch zu verstehen hatte. Genauso, wie ich zu verstehen und akzeptieren wusste, dass Dario Rückfälle haben würde und er für diese nicht wirklich etwas konnte.
«Und wenn du den Entzug durch hast, gehen wir aus. Nur wir zwei.» Ich ließ ihn langsam wieder los und suchte eine Reaktion auf meinen Vorschlag. «Wie?», fragte er leise nach. «Ja, mit unseren Beinen», lächelte ich verspielt und biss mir kurz in meine Unterlippe.
Rio lachte leise und rau. «Ich meine, wie? Als Freunde? Oder mehr? Ich kann nicht nur mit dir befreundet sein...» Ich legte den Kopf schief und sah ihm nachdenklich ins Gesicht. «Wir waren nie nur Freunde. Werden wir nie sein. Das, was ich für dich empfinde, geht viel tiefer. Verdammt, es ist viel mehr als auch nur Liebe... Ich kann es kaum beschreiben.»
Sekunden vergingen und ich wusste nicht, ob mein Gegenüber noch etwas sagen wollte oder mich einfach nur so anschaute. Es stand in der Luft, dass ich fragen wollte, doch ich wagte es nicht, es auszusprechen. Ich würde den Suizidversuch nicht ansprechen. Nicht heute. Irgendwann, sicher, aber nicht jetzt.
«Denkst du denn, ich könnte wirklich ganz normal leben? Also... Weißt du, ohne Drogen und so.» Ich nickte überzeugt und blieb kurz an seinen Lippen hängen. «Deine Mom war süchtig und sie hat es jetzt im Griff. Dein Dad hat Borderline und er ist auch schon 34 Jahre alt. Es geht. Du hast vielleicht beides auf einmal, aber du bist auch doppelt so stark wie die zwei.»
Ich versuchte, die bedrückte Stimmung, die Dario eingenommen hatte, irgendwie anzuheben und er lächelte auch sanft, doch anhalten tat es nie länger als ein paar Sekunden. «Ich habe das gefragt, weil ich schon mein ganzes Leben lang daran glaube, jedes Jahr zu sterben. Ich habe keinen Blick in die Zukunft. Ich kann mir kein Leben vorstellen...»
«Musst du auch nicht. Wieso planen, wenn man spontan schauen kann, was aus einem wird?» Ich strich ihm eine Locke aus dem Gesicht und befeuchtete mir meine Lippen. «Also ein bisschen Planung wäre schon angebracht, aber du weißt, was ich meine.»
«Was ist dein Plan?» Hmm... Ich setzte mich auf sein Bett und zog mir die Bettdecke über meinen Schoß. «Ich gebe weiter mein Bestes und schaue dann, in welches College ich es schaffen kann. Aber ich möchte mich nicht darauf fixieren, weißt du? Wenn's kein gutes, großes College wird, ist das auch nicht schlimm. Und du? Denk doch mal etwas nach. Was könntest du dir vorstellen?»
Dario hockte sich komplett verunsichert neben mich und schüttelte den Kopf. «Keine Ahnung.» «Dann schau halt nur ein paar Tage oder Wochen voraus. Ein Tag nach dem anderen.» «Ein Tag nach dem anderen», wiederholte er nachdenklich und ließ mich nach seiner Hand greifen.
Seid ihr zuversichtlich?
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