37. Kapitel
Ich hatte Herzrasen. Vicky hatte sich bereits wieder von uns verabschiedet und uns versprochen, für uns zu beten, da wir beide gleich geköpft werden würden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dies tatsächlich passieren würde, war wirklich sehr hoch, weshalb ich mich, auch wenn es alles andere als ehrenhaft war, ein wenig hinter Dario versteckte, als wir den schmalen Weg zur Eingangstür der Station hochgingen.
Die Tür stand offen und ich konnte Stimmen hören. Stimmen, die ich kannte. Meine Eltern und Tony. Auch Rosie war dort. Sie unterhielten sich angeregt miteinander. Besorgnis war, was ihre Stimmbänder einnahm.
Aber diese würden wir ihnen gleich wieder nehmen, oder? «Bist du ready?» Dario schüttelte seinen Kopf und war stehengeblieben. Ich hatte dies auch nur bemerkt, weil ich in ihn reingestolpert war. «Ich sollte von hier verschwinden», meinte er unsicher und drehte sich zu mir um. «Ich kann das nicht, Noè.»
Ich schüttelte meinen Kopf und zwang mich dazu, meine eigenen Ängste zu überwinden. Ich musste jetzt für Dario da sein. «Du kannst das. Bist ja schließlich nicht allein.» Ich drehte ihn liebevoll lächelnd wieder zur Tür und schaute dann langsam auf, als sich Schuhpaare in meinem Blickfeld bemerkbar machten.
Mein Blick wanderte langsam immer höher, bis ich die Augen eines beinahe vor Erleichterung weinenden Dads erblickte. Oh, fuck. «Oh mein Gott! Noè», kam er auf uns zu und schlang seine Arme um meinen Körper, der immer doller zerquetscht wurde. Ich konnte Moms Parfüm riechen. Sie hatte sich Dad angeschlossen.
«Dir geht es gut. Mach das verdammt nochmal nie mehr! Hackt es?!» Ich wollte ihnen antworten, als mir auffiel, wie allein und verlassen Dario dastand. Selbst, wenn er nichts sagte, hatten seine Augen schon viel mehr erzählt, wie er gewollt hatte. Einsamkeit.
Er hatte keine Eltern, die sich so über seine Rückkehr freuten. Ich wandte mich als von Mom und Dad ab und langte nach seiner Hand, um ihn neben mich zu ziehen. «Es geht uns mehr oder weniger gut. Mir eher als ihm.»
Er schluckte und mied die Augen meiner Eltern. Ich konnte allein an der Art, wie er meine Hand hielt, spüren, dass er am liebsten das Weite suchen würde, aber ich packte enger zu und drückte einmal fest zu, um ihm zu zeigen, dass er mich hatte und ich nirgendwo hingehen würde.
«Schätzchen, du siehst sehr müde aus.» Mom langte vorsichtig nach seiner Wange und hielt diese bedacht, als sie ihm sanft zulächelte. Keine Wut, nichts. Doch ich wusste, dass sie innerlich am liebsten explodieren würde. Vielleicht nicht wegen Dario, aber definitiv meinetwegen.
«Kann ich dir irgendwie helfen? Brauchst du etwas?» Er entwich ihr und schüttelte seinen Kopf. Er wollte abwinken, als ich seine Hand abfing und ich hatte es nicht extra gemacht, wirklich nicht, aber ein Teil seines Verbandes rutschte unter den Armbändern hervor, was Mom natürlich direkt gesehen hatte.
Sie sog scharf Luft ein, doch fing sich schnell wieder auf. «Du hast uns mit deiner Flucht eine riesige Angst gemacht. Und dann, als Tony deinen Pullover und dein Handy gefunden hat, dachten wir, dir wäre etwas passiert.» Sie schluckte Tränen herunter und atmete tief durch. «Was ist passiert? Wo warst du?»
Doch Dario hatte verlernt zu sprechen, was ich nicht verstehen konnte. Warum auf einmal? Was war los? Er hatte sonst nie Probleme gehabt, meinen Eltern klarzumachen, was er dachte oder wollte.
Ging es um seine Schulden? Konnte er hierfür bestraft werden? Bestand die Möglichkeit, dass er festgenommen werden könnte. Er war doch noch keine 18... Aber, das Juvenile, oder? Er könnte in eine Jugendanstalt kommen. War es das? Ich kannte mich zu wenig aus.
«Ich- Ich habe-» Er sah mich an und suchte Unterstützung. Doch ich wusste nicht, ob er wollte, dass ich es für ihn sagte oder ihm einfach beistehen sollte. Ich nickte ihm ermutigend zu. «Ich habe Schulden», ratterte er runter und mied all unsere Augen, doch ich wagte es nicht seine Hand loszulassen. «Schulden? Hast du etwas geklau-»
Es dauerte ein wenig, bis Dad zwischen den Linien lesen konnte, wovon Dario sprach. «Von den Pillen, die du genommen hast?» Mehr als ein schwaches, beschämtes Nicken bekam der Italiener nicht hin, doch ich wollte für ihn eingreifen.
Sie mussten vom Heroin, das er entsorgt hatte, auch hören. «Und er hat auch das Zeug von seine-» Er drückte meine Hand fest zusammen und schloss seine Augen. Was hatte dies zu bedeuten? Ich stockte und wusste nicht, was ich nun sagen sollte, doch Dario schritt wieder ein. «Ja, und sie haben mich deswegen verfolgt. Ich habe das Geld aber nicht.»
Mom winkte dann aber einfach ab. «Das ist etwas, was wir schon noch regeln werden. Erstmals schauen wir auf dich.» Dieser Satz gefiel ihm nicht, doch ich nahm ihm direkt wieder jeglichen Wind aus den Segeln. Ich würde ihn nicht abhauen lassen.
Ich hatte ihm versprochen, ihm anfangs unter die Arme zu greifen. Er konnte mir vertrauen. Jetzt schien es vielleicht noch unerträglich und angsteinflößend schlimm, doch ich wusste, nach seinen ersten Schritten in die richtige Richtung, würde es immer einfacher werden.
Rosie schritt an uns heran und langte nach Darios Hand, um ihn mit hineinzunehmen. Ich hatte Schwester Hannah bereits gesehen. «Ich habe gerade echt keine Nerven für so eine dumme Untersuchung», meinte er dann nur, als es ihm einleuchtete.
Er drehte sich zu mir um und sah mich entschuldigend an. «Ich kann das nicht, Noè.» «Doch, sicher. Du bist nicht allein.» «Doch, bin ich. Vor allem da oben.» Er zeigte auf Hannahs Untersuchungszimmer und ich rieb mir nachdenklich meinen Mund, als ich eine Entscheidung traf, die meinem Vater nicht passen würde.
«Nein, bist du nicht. Ich komme mit.» Ich quetschte mich zwischen meinen Eltern durch und deutete Rosie, dass ich gleich hinter ihnen war, als wir die Treppen hochliefen. Darios Schritte zeigten, wie unangenehm es ihm war.
«Wir werden deine Lunge und dein Herz abhören. Dein Gewicht und deine Größe werden angeschaut und wir werden dir ein wenig Blut nehmen, okay? Und deine-» Rosie deutete auf seinen Verband, «Die würden wir gerne auch anschauen. Zur Sicherheit.» Da schüttelte Dario seinen Kopf schneller, als ich zu Ende hören konnte.
Schwester Hannah stellte die Waage auf null und richtete die an der Wand montierte Größenskalierung. Und Dario, ja, dieser bekam schwitzig klebrige Hände, die er versuchte an seiner Hose abzutrocknen.
Ich konnte verstehen, wie schlimm und schwer das für ihn sein musste, doch ich wusste, dass er es konnte. Er war stark genug. Viel stärker, als er eigentlich zu sein brauchte.
«Bitte das Oberteil und die Jeans weg. Schuhe natürlich auch.» Er schluckte. «Am besten alles, außer deine Boxer.» «Ich- No.» Er zog sich unbewusst in eine Ecke zurück und schüttelte seinen Kopf. Sein Blick klebte an mir. «Ich werde mich wegdrehen, Dario. Es ist okay.» «Ich auch», fügte Rosie hinzu und zusammen drehten wir uns ans Fenster, um nach draußen zu schauen.
Doch Dario rührte sich nicht. Keinen verdammten Millimeter. «Nimm mir einfach nur Blut, okay?» «Mäuschen, eine Grunduntersuchung ist wirklich nötig. Wenn du dich nicht wohlfühlst, finden wir sicher einen anderen Weg, okay?» Hannah deutete auf das erhöhte Bett und Dario, auch wenn verdammt langsam und misstrauisch, setzte sich dann doch hin.
«Okay, ganz entspannt ein- und ausatmen, bitte.» Die Stille, die auf einmal eingetreten war, brachte mich fast zur Strecke. Ich konnte nicht anders und drehte mich zu Dario, um ihm doch irgendwie psychische Unterstützung anbieten zu können.
Und er war ja noch vollkommen bekleidet. Plus, er hatte mich bereits nur im Handtuch gesehen... Also... «Hmm, finde nichts Gravierendes, aber du tust dir schon etwas schwer, was das Atmen angeht. Tut es weh?» Er schüttelte seinen Kopf, doch als er meinen Blick traf, zog er seine Lüge wieder zurück.
Er hatte diese Angewohnheit, über sich und seine Gesundheit zu lügen. «Einatmen tut manchmal weh. Vor allem, wenn ich unter Stress stehe.» «Okay, danke fürs Sagen.» Rosie begann zu lächeln und ich spürte ihren Blick auf mir liegen.
«Dein Puls ist eher hoch, was jetzt natürlich auch an der ganzen Situation liegen kann.» Sie nahm das Blutdruckmessgerät bereits wieder von seinem Arm und hockte sich dann vor ihn, um ihn neurologisch zu untersuchen. Das war das richtige Wort, oder?
Es ging um die Reaktion seiner Pupillen und so. «Wann hast du zuletzt etwas genommen? Du hast leicht vergrößerte Pupillen und sie reagieren minimal verzögert.» «Gestern.» «Okay. Folge bitte dem Licht.»
Ich begann zu lächeln, denn Darios Schultern hatten an Spannung verloren. Er schien nicht mehr so nervös zu sein. «Ich bin beeindruckt, Noè.» Rosie zog mich leise zur Seite und deutete, dann auf Dario, der Hannahs Anweisungen folgte. «Beim letzten Versuch hat er Hannah beinahe geschlagen.»
Ich zuckte bloß mit den Schultern. «Wie hast du ihn überreden können?» Wieder ein Schulterzucken. «Ich denke, er vertraut mir.» Rosie begann zu grinsen. «Du denkst? Schätzchen, was auch immer du tust, hör nicht damit auf. Du rettest sein Leben.»
Ich denke, ich würde nie damit aufhören können. Niemals würde ich aufhören, diesen Jungen zu lieben. Ich war in ihn verliebt. Ich liebte sein Leben und gab alles dafür, dass er dafür kämpfte. Er konnte es noch nicht selbst tun. Bis dahin würde ich sein Leben schätzen und lieben. Aber natürlich auch noch danach. Mit ihm zusammen.
«Gut, bitte stell dich hierhin.» Dario wollte aufstehen, doch er schwankte und musste sich kurz an Hannahs Stuhl festhalten. «Kein Stress. Lass dir Zeit.» Er ignorierte ihre Worte und lief rüber, um sich messen zu lassen, doch er sah mittlerweile so aus, als wäre er nicht mehr hier.
Keine Ahnung, wie ich das sonst beschreiben konnte. Es schien so, als hätte er sich von seinem Körper verabschiedet und ließ gerade einfach nur alles über sich ergehen. Sein Blick klebte an seinen Schuhen, die beim Bett lagen.
«Rosie, kannst du bitte für mich schreiben? Größe ist 1,79 m und Gewicht-» Sie führte Dario an die Waage und dieser stieg vorsichtig drauf. «Gewicht ist 52.5 kg, minus die Kleider... Knapp 51 kg.» Sie schloss ihre Augen, denn es war seit dem Krankenhaus wieder gesunken. Er war leichter als ich. Viel leichter. Auch Rosie schaute besorgt drein und Dario, ihn schien das nicht zu stören.
«Gut setz dich bitte wieder hin.» Er gehorchte und als Hannah nun auf sein Oberteil deutete, wachte er plötzlich aus seiner Trance auf. Ein Kopfschütteln, mehr nicht. «Wirklich nicht? Und die Armbänder?» Er blockte ab und begann sich seine Arme und Schultern zu reiben.
Sein Blick war gefallen und Scham nahm ihn ein. «Dir ist bewusst, dass die Ärzte im Krankenhaus dies dann auch von dir verlangen werden, oder?» Keine Antwort und ich seufzte. Hierzu konnte und wollte ich ihn nicht zwingen. Seine Verletzungen waren etwas sehr Persönliches.
«Kannst du mir dann wenigstens versichern, dass alles gut verheilt?» Keine Antwort. Hannah umgriff seine Wangen und hob seinen Kopf an. «Rede mit mir. Was liegt dir auf dem Herzen? Was hält dich auf?» Sie lächelte liebevoll.
Ich wusste, was es war. Seine Narben und Wunden zeigten Schwäche und Emotionen, die er zu unterdrücken versucht hatte. Und wir alle wussten, wie Dario zu Schwäche und Gefühlen stand. Nämlich gar nicht.
«Wer hat dir diesen Verband gemacht?» «Noè.» Hannah sah mich an. «Wie schlimm?» Mir blieb die Luft weg.
Ich wollte vor Dario nicht antworten. Ich wollte ihn nicht entblößen. «Ehm...» Ich sah hilflos zu Rosie, die mich aber auch nur abwartend anschaute. Und Dario sah mich überhaupt nicht an.
«Also, es ist schon tief, aber ich denke, mehr als ich machen konnte, würdest du auch nicht machen können.» «Und womit-» «Das sind Dinge, die ich nicht beantworten sollte. Es ist Darios Körper, sein Verband und seine Entscheidung.» Er schaute zu mir und ich schenkte ihm ein schüchternes Grinsen.
«Okay, ich kann dich zu nichts zwingen, Dario. Aber im Krankenhaus wirst du keinen Weg darum finden. Und Noè wird dann auch nicht dort sein können.» «Muss das Krankenhaus wirklich sein? Ich kann doch auch hier das Schlauchteil tragen und im Zimmer liegen.»
Rosie schüttelte ihren Kopf. «Du brauchst ein kontrolliertes Umfeld und wir können dir das nicht bieten. Weißt du ja selbst.» Er biss sich in seiner Unterlippe fest und schloss seine Augen.
Ich kannte ihn mittlerweile genug gut, um ihm ansehen zu können, wie gerne er das alles über Bord werfen und hier wegrennen würde.
Ich setzte mich neben ihn und lehnte mich an seiner Schulter an. «Du wirst das überstehen. Da bin ich mir sicher.» Er schielte zu mir rüber und schüttelte ungläubig, aber doch schmunzelnd seinen Kopf.
Andere Worte hatte er von mir nicht erwartet. Und ich nutzte diese Nähe aus, um ihm einen kurzen Kuss zu stehlen. «Oookay, ihr zwei...» Rosie grinste von einem Ohr zum anderen.
Denkt ihr, Dario wird sich überwinden können? Also noch mehr, als er eh schon getan hat.
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