34. Kapitel
Dario ging mir den ganzen nächsten Tag nicht mehr aus dem Kopf. Gestern Abend schien er mir sehr bedrückt und fast schon lebensmüde. Deswegen schrieb ich ihm heute auch durchgehend. Ich versuchte schon seit heute früh, mit ihm über Gott und die Welt zu schreiben.
Das tat ich, um sicherzugehen, dass er okay war und... Dass er noch lebte, um ehrlich zu sein. Seine Aussage, dass er seinen Geburtstag nicht mehr erleben würde, war bei mir sehr tief unter meine Haut eingedrungen. Er erlebte ihn nun zwar, doch ich kannte ihn... Seine Einstellung und seine Stimmung konnte sich inert Minuten ändern.
Ich hatte ihn gerade darum gebeten, mir Fotos von Roxy zu senden. Dass sie bei ihm lag, wusste ich nur, weil er mir gebeichtet hatte, dass er sich im Zimmer eingesperrt hatte und nur Roxy bei sich weilen ließ, weil sie wenigstens die Klappe halten konnte und ihn nicht die ganze Zeit fragte, ob er sich über seinen Geburtstag freute.
Was ich auch erfahren durfte, war, dass Giorgia vor der Schule bei ihm aufgekreuzt war, um ihn fest zu umarmen. Auch Kelly hatte sich blicken lassen und selbst mein Vater hatte ihm gratuliert. Wer sich wahrscheinlich nicht traute, waren Samantha und Santiago. Die beiden trauten sich nicht, sich blicken zu lassen. Eine andere Erklärung konnte ich mir nicht ausdenken. Rosie hatte Dario auch besucht und Vicky hatte sich heute mit ihm verabredet.
Kurz: Dario konnte mir nicht verklickern, dass sich niemand für ihn interessierte. Ich erhielt ein Foto von Roxy, die quer auf Rios Brust lag und zu ihm hoch ins Gesicht blickte. Gerne gab ich es nicht zu, doch ich wollte auch dort liegen... Und, ja...
Es war wirklich schade, aber das heute war nicht der beste 19. April, den ich in meiner Zeit erleben durfte. Tabea und ich saßen in Kunst und ich musste einer Vergewaltigerin dabei zusehen, wie sie uns Zeichentechniken zeigte und erklärte. Um es jetzt wirklich ganz penibel auszudrücken: Ich hasste Kunst!
Und gegen Ende der Stunde, kurz vor Mittag konnte ich einfach nicht mehr so tun, als würde ich nicht wissen, wer sie war. Tabea ging bereits vor. Wir wollten uns nachher in der Cafeteria treffen und ich wusste, was mir blühte. Melina hatte ihr sicherlich von meinem Treffen mit Dario erzählt.
«Entschuldigung?» Harmony drehte sich zu mir um und als sie mich sah, zerfiel ihr sanftes Lächeln. «Hi, ich bin Noè.» Ich hielt ihr meine Hand hin, doch sie zögerte, «Noè?» Ich war mir sicher, sie wusste ganz genau, wer ich war. Schließlich hatte ich ihr mal via Darios Handy gedroht.
«Wenn du mich auch noch attackieren willst, kommst du echt spät.» «Nein, nein... Ich attackiere dich schon nicht. Das werden dann eh alle tun, wenn jeder hier weiß, was du getan hast.» Harmony legte den ausgewaschenen Pinsel ins Waschbecken und drehte sich komplett zu mir. «Schau, es ist passiert, es passiert nie wieder und ich kann es nun auch nicht mehr ändern. Was willst du noch mehr?»
Ich meine, in gewisser Hinsicht hatte sie recht, doch war sie sich bewusst darüber, was es mit Dario abgestellt hatte? Wusste sie, wie sehr er sich inzwischen vor Intimität fürchtete? «Und bei ihm entschuldigen klappt ja nicht.» Sie erkannte meine Verwirrung. «Ich darf mich nicht mehr in seiner Nähe blicken lassen, weil sie das so angeforder-»
«Ja, gerecht! Und es nicht, weil sie das so wollen. Es ist, weil man nicht weiß, wie Dario damit umgehen würde. Er ist kaputt deswegen. Er kann nicht mehr schlafen, zuckt bei Berührungen oder schnellen Bewegungen zusammen, er hat mit Drogen angefangen, weil es ihn so fertigmacht und du hast vor dem Gericht ohne Scheiß gesagt, dass er klare Andeutungen, es zu wollen, von sich gegeben hat?!»
Sie seufzte und baute sich vor mir auf. Ihre hohen Schuhe beeindruckten mich nicht, ich konnte meine Fäuste auch in Richtung Himmel schicken. «Ich war genauso betrunken wie er.» «Er war out! Er war verdammt nochmal wasted und-» «Ja, ich weiß es jetzt auch! Ob du es glauben magst oder nicht, aber ich schäme mich dafür!» «Aber trotzdem schickst du ihm noch Nachrichten und so, oder was?!» Sie verzog ihr Gesicht. «Es ist kompliziert.»
«Was soll das denn heißen?» Sie winkte ab und rieb sich mühevoll die Augen, ohne ihr Make-up zu ruinieren. «Es tut mir leid und es ist alles ziemlich scheiße.» «Du musst nicht mir sagen, dass es dir leidtut. Du hast vor Gericht gelogen... Du verdienst eigentlich eine Freiheitsstrafe, aber die lassen dich in einer verfickten Schule arbeiten. Das blendet mir nicht ein!»
«Noè? Kommst du?» Ich schrak zusammen, doch es waren nur Melina und Haley. Eigentlich wollte ich Harmony noch so lange in die Ecke treiben, bis sie heulen würde, doch das würden Mel und Haley nicht verstehen können. Deshalb langte ich wütend nach meinen Sachen und folgte den beiden in den Mittag. «Was war das eben?» «Kenne sie von irgendwo her...» «Aber nicht wirklich auf gute Weise, huh»?
«Spielt doch keine Rolle», zischte ich und setzte mich dann an unseren großen Tisch, wo Tabea, Arian, Carlos und Rocco schon auf uns warteten. Ich konnte an Arians und Tabeas Blicken schon erkennen, worum es nun gehen würde, doch in mir lungerte noch immer das Adrenalin von Harmony, weshalb ich nicht gerade sanft reagierte, «Man! Dann habe ich mich gestern halt mit Dario getroffen! Und jetzt?!»
Taby kannte mich und wusste, dass ich ihn niemals nicht lieben könnte. «Es war, weil er heute Geburtstag hat und ich ihn noch sehen wollte. Heute habe ich keine Zeit.» «Ja, aber du machst es dir so verdammt schwer, über ihn hinwegzukommen. Ich habe doch gesehen, wie nahe ihr euch noch seid», versuchte Melina es ganz lieb und sanft mit mir.
«Und?! Wieso will überhaupt jeder, dass ich über ihn hinwegkomme? Das ist doch eh meine Entscheidung!» Taby seufzte und rieb sich die Stirn. «Weil er aufgrund seiner Verfassung und Vergangenheit toxisch sein kann, Noé. Er mag vielleicht mega lieb sein und alles, aber er ist krank. Und das weißt du.»
Ich sank tiefer in meinen Stuhl und verdrehte die Augen. «Und es ist mir jetzt scheißegal, dass die alle hier sitzen und alles hören», schimpfte sie. «Er ist wie ein kleines Kind. Er braucht konstant Beaufsichtigung und es ist nicht dein Job, auf ihn aufzupassen.» Arian verzog das Gesicht.
«Aber er liebt mich und wir haben uns geschworen, dass wir es zusammen schaffen.» «Okay, und wie oft hat er dich angelogen, dich manipuliert, dich angeschrien, bedroht und verdammt nochmal, wie oft hat er seine Versprechen gebrochen?» Melina und die anderen waren etwas stutzig. Sie wussten alle eigentlich gar nicht, wie Dario in schlimmen Phasen sein konnte.
«Er kann nicht anders...» «Kann oder will, Noè?» Tabea zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme auf der Brust. «Kann. Er kann verdammt nochmal nicht anders.» «Wieso?» Rocco stocherte in seinem Teller rum. «Er ist Borderliner», verdrehte meine beste Freundin die Augen und Haley setzte sich hektisch auf und begann den Kopf zu schütteln.
«Noè, Borderliner sind zwar arme Leute, aber die sind nicht gesund. Die machen dich fertig.» Ich wollte kontern, aber Haley war noch nicht fertig. «Mein großer Bruder hat Borderline. Er war unerträglich. Ich liebe ihn über alles, aber er hat mich und Mom so krass fertiggemacht, bis er endlich ausgezogen ist.» Ich konnte nicht glauben, dass hier alle gegen Dario waren. Oder nein, nicht gegen ihn, aber gegen uns.
«Schaut, Dario und ich sind nicht mehr zusammen. Wir haben vereinbart, kein Paar mehr zu sein und wir sehen uns vielleicht alle paar Tage ganz kurz.» Ich nahm einen Schluck von meiner Flasche, weil mir der Hals so trocken wurde. «Und er macht sich im Moment sau gut. Er ist in einem Programm und hat Medikamente, die ihm helfen. Sorry, Leute, aber ich werde ihn nicht einfach fallen lassen. Nicht so, wie es alle anderen getan haben.»
Taby wollte etwas einwenden, doch ich deutete ihr, die Klappe zu halten. «Ich weiß, wie ungesund er für mich sein kann und habe mittlerweile verstanden, was für Grenzen ich setzen muss. Und wenn's dann immer noch nicht klappt, werde ich den Kontakt zu ihm abbrechen.» Und mehr Vorwürfe und Aber duldete ich den restlichen Mittag gar nicht mehr.
Tabea war trotzdem alles andere als zufrieden mit meiner Einstellung. Ich konnte sie ja verstehen und würde sie vom Suizidversuch und dem Rest wissen, wäre sie wahrscheinlich noch unzufriedener, aber ich würde es niemals übers Herz bringen, Dario zu verlassen.
Er verdiente Chancen und diese gab ich ihm auch. Nur war ich mir selbst noch nicht ganz sicher, wie viele noch übrig waren. Irgendwie hauste in mir auch das Gefühl, dass manchmal harte Liebe die bessere Liebe war. Zumindest für Dario. Santiago hatte dies ja auch schon mal erwähnt.
Wenn Dario es nicht mit Unterstützung schaffen würde, clean zu bleiben, würde man ihn halt allein lassen müssen, doch das war ein Schmerz, vor dem sich viele scheuten. Kelly wollte dies nicht, Dad auch nicht und Gio und seine Eltern sicherlich auch nicht.
Ich denke, den Stunt, den ich in Tropea gebracht hatte, mit dem Krankenhaus, hatte Dario gezeigt, wie ernst ich es doch meinte und vielleicht hatte er deswegen endlich kapiert, dass er halt doch auch etwas für sein Gesund werden machen musste und nicht darauf hoffen konnte, dass sich alles von allein regelte.
Ich war auf dem Weg zur letzten Stunde. Sport. Doch als ich zu den anderen wollte, begann mein Handy zu vibrieren. Dieser Name hatte schon seit Wochen nicht mehr bei mir aufgeleuchtet, doch leider weilten noch immer dieselben Sorgen in mir, wenn ich seinen Namen las.
Diese 5 Buchstaben ließen einem nur das Schlimmste erwarten. «Hi?» Das Erste, was ich hören konnte, war Winseln. Das musste Roxy sein. «Könnten wir uns sehen?» «Jetzt?», fragte ich unsicher nach. Es war kurz vor 14 Uhr. Ich hatte nur noch eine Stunde. «Ja...» «Wieso? Ist etwas passiert?»
Ich ließ meine Sporttasche auf den Boden plumpsen und begann eifrig auf und ab zu gehen. Darios Stimme klang zittrig. «Nein... Also noch nicht... Ich weiß nicht-, Ich bin gerade voll verwirrt und-» «Bist du allein? Was ist mit deinem Betreuer? Kann dir Roxy nicht helfen?» «Doch, doch. Sie hilft mir ja schon, aber-»
Melina und Haley warteten bei den Garderoben auf mich und ich versuchte dem Reiz, jetzt zu schwänzen und zu Dario zu gehen, zu widerstehen. Ich konnte mich nicht nur nach ihm richten. Das hatte ich mit Dad und Kelly ganz genau angeschaut und besprochen. «Noè, ich sehe verdammte Gestalten und höre Stimmen. Und es hört nicht mehr auf.»
Mein Puls sprang in die Höhe. Konnte das von den Medikamenten kommen? «Hol Lex dazu! Ruf Kelly an!» «Ich will aber, dass du kommst...» Mir entfloh ein schwerwiegendes Seufzen und es brach mir mein Herz, ihn so verängstigt zu hören. Ich wollte ihm jetzt zwar nicht so misstrauen, doch ich musste fragen. «Hast du deine Medikamente mit was anderem gemischt?»
Kurze Stille, also halbwegs zumindest. Roxy war klar und deutlich zu hören. «No.» Er klang verzweifelt, fast schon verweint und ich wollte eine Kehrt machen und bis zum Wohnheim rennen. «Setz dich mit Roxy hin und halt sie ganz fest. Ich rufe Kelly an.» «Wieso? Komm doch einfach...» «Ich habe Schule, Lio. Ich kann hier nicht weg, aber ich kann Hilfe rufen.»
«No, ich krieg' es sonst auch selbst hin.» Aber ich hörte nicht auf ihn und als er beleidigt aufgelegt hatte, wählte ich Kellys Nummer. In diesem Moment war es mir scheißegal, dass dies verraten würde, dass Dario und ich miteinander sprachen. «Noè, hey? Alles gut?»
Ich langte wieder nach meinen Sportsachen und lief zu den anderen. «Ja, alles bestens. Könntest du irgendwie das Wohnheim von Dario kontaktieren oder selbst dorthin gehen? Dario hat mir geschrieben, dass er dringend jemanden braucht.» Ich hörte, wie Kelly ihren Stift weglegte.
«Er hat gesagt, dass er Dinge sieht und hört. Roxy hilft ihm, aber er wollte mich, doch ich kann das jetzt nich-» «Ich weiß, Noè. Du erträgst das nicht, wenn er leidet. Ich fahre hin und kontaktiere seinen Betreuer, okay? Danke, dass du mich angerufen hast und ich werde dich auf dem Laufenden halten.»
Es war gut zu wissen, dass er in guten Händen war, doch es war ebenso ein miserables Gefühl, jemanden sagen zu müssen, dass man nicht kommen würde und das, obwohl man ihnen versprochen hatte, immer da zu sein. Hoffentlich nahm er mir das nicht übel.
«Wer war das eben?» «Meine Therapeutin.» Ich marschierte in die Garderobe. «Okay... ehm... Bist du okay? Du bist ganz aufgewühlt.» Ich nickte nur und begann mich umzuziehen. Taby schüttelte nur den Kopf, doch sie versuchte Mitgefühl zu haben. Ich kannte sie. Sie konnte mich auf gewisse Art und Weise auch verstehen.
«Was ist passiert? Ist was mit Dario?» Ich presste meine Lippen ganz fest aufeinander und nickte nur wieder. «Ist er okay?» «Keine Ahnung, er wollte das ich zu ihm komme, aber ich habe nein gesagt, weil ich Schule habe und nicht imme-» Das Atmen wurde schwerer und Melina langte nach meinen kalten, schweißigen Händen.
Es passierte schon wieder. Ich bekam Atemnot, wenn ich Angst kriegte. «Und das ist okay. Hörst du mich? Es ist okay, dass du nein gesagt hast.» «Ich habe seine Therapeutin angerufen und ihr gesagt, dass er sich schwertut, aber er wollte so dringend, dass ich zu ihm komme. Ich fühle mich richtig schlecht.»
«Genau das ist es. Ihr sehr euch wieder, er rennt immer nur zu dir, wenn er Probleme hat und deine Stress- und Angstepisoden kommen wieder zurück und schon sind wir wieder am selben Ort, wie nach deiner Rückkehr von Tropea.» Ich meine, Taby hatte schon recht.
Seit der ganzen Sache in Tropea bekam ich gerne mal kleine Stressepisoden, doch ich wusste diese zu kontrollieren und Dario konnte nichts dafür. Er tat das alles überhaupt nicht mit Absicht. Er litt und er hatte es zum ersten Mal gewagt, dies mir ruhig mitzuteilen, doch ich hatte nein gesagt und-
«Er ist okay. Er hat Leute, die sich um ihm kümmern. Kümmer du dich in erster Linie um dich selbst, Noè.» Meli zog mich auf die Beine und strich mir die wenigen Tränen von den Wangen. Okay... Okay, sie hatte recht.
Dario war in mehr als guten Händen und ich hatte das getan, was ich hatte tun müssen. Kelly und Lex waren bei ihm. Es war gut so. Ich musste mich nicht immer allein um ihn sorgen.
Macht Noè das Richtige? Findet ihr Tabea hat recht?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro