29. Kapitel
«Hier, iss das.» Lex hielt Rio einen Teller mit Pasta hin, doch Dario regte sich nicht und verkroch sich nur wieder unter die Decke. Kelly lehnte sich im Türrahmen zum Flur an und versuchte, Dario nicht noch schlechteres Gewissen zu machen, als er wahrscheinlich eh schon hatte. Sie war wütend, enttäuscht und besorgt. So ziemlich das, was ich die letzten drei Tage gewesen war.
Ja, ich war auch angepisst, weil Dario seine Medikamente weggekippt und sich einfach dazu entschieden hatte, sie nicht mehr zu nehmen, doch auch nur, weil er sich so wieder selbst sabotierte. Er machte es sich selbst schwerer und zusätzlich konnte man ihm ja nicht mal die ganze Schuld geben.
Er hatte eine Persönlichkeitsstörung. Er schwang von einer Seite zur anderen und wieder zurück und das war nicht in seiner Kontrolle. Ein guter Tag konnte ihn denken lassen, dass alles wieder gut war. Der Tag, an dem wir beinahe unser erstes Mal gehabt hatten, musste dieser bestimmte Tag gewesen sein. Ich hätte schon damals auf mein Bauchgefühl hören müssen und genauer hinschauen sollen.
Ja, wir kannten nun die Ursache für Lios Rückschritte, doch wir hatten ein noch viel größeres Problem. Lex, Kelly und ich, wir alle konnten ihm nicht vorschreiben, etwas zu nehmen, was er nicht mehr nehmen wollte. Wenn Dario seine Medikamente nicht mehr nehmen wollte, konnten wir legal nichts dagegen machen. Es war nicht erlaubt, jemanden zwangsweise auf Medikamente zu setzen. Und selbst wenn... So unmenschlich waren wir nicht.
«Wieso hast du sie weggekippt, Dario?» Kelly wollte antworten und setzte sich zu ihm aufs Sofa. Keine Antwort. Sie rieb sich die Augen und seufzte. Lex legte eine Hand auf Darios Rücken und sah zu mir auf. Ich stand völlig unter Strom stehend mitten im Wohnzimmer und versuchte, die Puzzleteile selbst zusammenzusetzen. Dario wollte uns ja nicht helfen.
«Sind es die Nebenwirkungen? Sind sie schlimmer geworden?» Kelly brauchte wirklich Antworten, denn sie wollte so schnell wie möglich eine Lösung finden, damit Dario sich nicht noch mehr leid zu tat. «Ich muss es wissen, Dario. Ich will helfen und ich möchte, dass es dir gut geht.» Lex blieb nur wieder still und wagte es, Dario die Decke langsam und vorsichtig wegzunehmen.
Seine Augen waren immer noch rot unterlaufen und die Augenringe deuteten darauf hin, dass er trotz dem Rumlungern und Schweigen, kein bisschen zur Ruhe kam. «Ich will keine Medikamente nehmen. Ich will ich sein.» Kelly konnte ihn verstehen, doch wir alle wussten, was ihr auf der Zunge lag. Darios Zustand war noch nicht stabil genug. Er brauchte die Medikamente. Für den Moment zumindest. Er brauchte diese Unterstützung. Ihn ihn sein zu lassen, würde ihm irgendwann doch noch das Leben kosten.
Kelly wollte es nicht sagen, doch Dario musste es hören. «Dario, du könntest ohne deine Medikamente sterben. Im Moment zumindest. Du sollst sie ja nicht für immer nehmen, aber jetzt helfen sie dir. Sie helfen dir sehr gut, sogar.» «Aber es ging mir doch gut. Ich bin die letzten Tage voll gut ohne sie klargekommen.» Ich schüttelte meinen Kopf. «Wenn du denkst, sie nicht mehr zu brauchen, ist das, weil sie wirken, Dario. Und nein, schau, wie es dir jetzt geht. Es geht im Moment nicht ohne. Du musst da-»
«Ich muss es aber ohne schaffen. Wie sonst kann ich beweisen, dass ich stabil genug für New York oder sogar eine Musikkarriere bin?» Lex atmete seufzend aus und sah mich wieder an. Daher wehte der Wind also. Dario wollte sich beweisen. «Du musst dich doch gar nicht beweisen. Du bist und bleibst stabil genug, wenn du dir Acht gibst und nicht solche gefährlichen Experimente startest.»
Dario setzte sich mit der Hilfe von Lex auf und rieb sich seine Augen trocken. Er kränkelte noch immer sehr stark, denn ja... Wir wussten jetzt, wieso; Entzugserscheinungen. Sein Körper kam nicht damit klar, dass er so abrupt mit den Medikamenten aufgehört hatte. «Ich will sie nicht mehr nehmen.» «Du solltest aber, Dario. Schau mich an.»
Kelly langte nach seinen Händen und wartete, bis er ihr entgegen blinzelte. «Du bist ein sehr schlauer Junge. Du weißt, dass du sie brauchst und dass sie dir helfen. Hinder' dich doch nicht selbst.» «Ich will's ohne schaffen.» Er blieb stur. «Wenn ich's ohne nicht hinkriege, brauche ich's gar nicht mehr zu versuchen. Ich will nicht.» Kelly war alles andere als zufrieden und einverstanden, doch sie konnte Dario nicht zwingen.
Ich realisierte schnell, dass der Blick, den sie mir flüchtig zuwarf, ein Hilfeschrei war. Sie wollte, dass ich Dario zur Vernunft brachte und ihn dazu überreden würde, seine Medikamente wieder zu nehmen. Doch ich wusste bereits, dass ich da keine Chance hatte. Manchmal musste man Pokern. Ich wagte es, ein Risiko einzugehen und rief Santiago an.
Er hatte von uns allen am meisten Erfahrung mit BPS und konnte Dario so eventuell am besten die Augen öffnen. Wenn Dario sich von seinem Vater überhaupt etwas sagen lassen wollte. Aber ich konnte es versuchen und dass Santiago spontan Zeit hatte und sowieso wissen wollte, wie es Lio ging, kam uns allen sehr gut.
Ich war mir nicht einmal sicher, ob wir Santiago schon mal bei uns zu Hause hatten oder nicht, doch dieses Mal war er mehr als nur herzlich willkommen. Lex hatte Dario ein Glaswasser untergejubelt und die Decke weggeräumt. Er durfte sich jetzt nicht mehr zurückziehen und verstecken. Das hier war eine ernste Sache. «Ich dachte es mir schon, als du bei mir warst.» Dario sagte nichts und wandte sich von seinem Vater ab.
Kelly und Lex gingen in die Küche und ich wusste nicht, wo man mich nun haben wollte. Sollte ich Vater und Sohn allein lassen oder mit Santiago ein Team bilden und Dario in die Knie zwingen? Santiago rollte die Ärmel seines Hemds hoch und setzte sich in den Fernsehsessel gegenüber von Dario, der in der Rückenlehne unseres Sofas hing.
Anhand Santiagos Klamotten konnte ich mir denken, dass er direkt von einem Meeting kam. Cargo-Hosen, ein weißes Hemd und die schwarzen Locken, die er mit seinem Sohn teilte, hatte er ordentlich zurück gegelt. Es mag dumm klingen, doch Dario rutschte mit seinem Aussehen immer weiter in die Richtung seines Vaters.
Die Augenpartie und seine wunderschönen Lippen waren das Einzige, was er noch von Samantha hatte. Der Rest; der kantige Kiefer, die hohen Wangenknochen und die schmale Stupsnase kamen alle nach dem Gesicht seines Vaters. Wären da nicht die Piercings und Tattoos könnte man glatt meinen, da hockte eine ältere Version von Dario vor ihm.
«Ich weiß, wieso du deine Medikamente nicht nehmen möchtest.» Santiago rieb seine Hände ineinander und seufzte auf. «Du willst gar nicht wissen, wie oft ich dasselbe getan habe in deinem Alter. Ob du es glauben magst oder nicht, aber ich habe mich von 17 bis 21 auch geweigert. Ich dachte, ich krieg's ohne hin und ich habe dann meistens dir die Schuld für meine Rückschritte gegeben, aber es war, weil ich noch Unterstützung gebraucht habe und mir mehr Zeit geben musste.»
Dario sagte nichts und schielte zu mir rüber. Er wusste ganz genau, dass ich mit guten Karten spielte. Er kannte mich und wusste, dass es mein Plan gewesen war, Santiago hier herzuholen. Und ich wollte ja nicht angeben oder so, doch ich war gut. Sehr gut. Mein Spielzug war brilliant.
«Nimmst du jetzt noch welche?» Er schüttelte seinen Kopf. «Nein, aber ich muss sehr viel an mir arbeiten und ehrlich mit mir sein.» «Wie lange musstest du sie nehmen?» «Ich war von 16 bis 17 und dann von 21 bis 26 auf Medikamenten.»
Das war nicht die Antwort, die Dario hören wollte. Santiago merkte, dass er seinen Sohn nicht auf seine Seite ziehen konnte, weshalb er etwas dazwischen warf, «Deine Medikamente bleiben nicht immer gleich, Dario. Die Dosierung muss nicht immer so bleiben. Ich konnte Jahr für Jahr runter mit ihr und dann mit 26 konnte ich sie ganz absetzen. Du musst nicht dein ganzes Leben lang Tabletten einwerfen, aber du musst geduldig sein und dir diese Zeit geben. Es lohnt sich.»
Ich nickte und verschränkte meine Arme auf der Brust. Santiagos Augen klebten an Darios grünen und ich realisierte, dass hier gerade eine Schleuse runterging, die schon Jahre im Weg von Dario gestanden hatte. Er verspürte Neugier. Er wagte es, endlich Fragen zu stellen. Ich fühlte mich plötzlich wie eine Therapeutin, welche Vater und Sohn betreute. Natürlich mit dem Unterschied, dass ich meine Schnauze hielt und nur für den Notfall hier war.
«Hast du auch Drogen genommen?» Santiago schluckte nervös und rieb sich die Stirn. «Ich habe sehr viel Weed geraucht und nicht gerade wenig getrunken.» «Und deswegen bin ich jetzt da?» Dario hielt nicht zurück. «Ja, so ziemlich.» Darios Augen lösten sich von denen seines Vaters und er schaute sich seine Schultern, Arme und Unterarme an, welche freigelegt waren. «Du hast keine Narben?» Ich war mir ehrlich gesagt nicht mehr sicher, ob ich das hier überhaupt mithören sollte und wollte.
«Mein linker Oberschenkel sieht übel aus, aber ich habe zu anderen Mitteln gegriffen. Selbstverletzung war für mich nur temporär.» «Was für Mittel?» Ich fand es ehrlich gesagt saugut für Dario, dass er jetzt einfach mal Fragen stellen konnte und vor keiner mehr zurückschreckte. Er genoss die Tatsache, dass er seinem Vater unangenehme Fragen stellen konnte. «Alkohol, Überarbeitung und ja, ein sehr abwechslungsreiches Liebesleben.»
Darios Augenbrauen sprangen an und er legte den Kopf schief. «Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich nicht dein einziges Kind bin?» Santiago stockte und sah Lio unbeholfen und schockiert an. «Woher kommt das jetzt?» Dario zuckte mit den Schultern, «Na ja, du hast gerade zugegeben, dass du eine männliche Hure warst...» Er spielte mit ihm und das war ein verdammt gutes Zeichen.
Ich fühlte mich so, als hätte ich eine richtig krasse Case geknackt oder so. «Meine Fresse, Dario. Wir haben eben noch über deine Medikamente geredet.» «Also habe ich noch andere Geschwister?» «Nein, hast du nicht.» «Hat dich dein Vater auch geschlagen?» «Nein. Meine Eltern sind emotional manipulativ.» «So wie du?»
«Dario», ging ich nun dazwischen, doch Santiago deutete mir, dass es okay war. «Genauso wie du», gab er Dario dann zurück und ich verspannte mich komplett in meiner Haltung. Ich wusste nicht, ob es gut war, dass er ihm konterte. Doch Dario nahm es locker entgegen. Ins gemein wusste er halt doch, dass er manipulativ sein konnte. Ich wusste es auch, denn ich war sein größtes Opfer.
Santiago war mutig und wusste die Knöpfe zu tätigen, denn er drehte den Spieß um. «Was sind deine Mittel?» «Selbstmord.» Wo zum Teufel war ich hier hereingeraten? Was passierte gerade? Selbst Darios Vater musste schwer schlucken, denn Lio hatte es so neutral und emotionslos gesagt, wie man es nur von ihm erwarten konnte.
«Drogen, oder?» Dario nickte dann nur und seufzte, «Drogen, Selbstsabotage, Anorexie, Schlägereien und Selbstverletzung.» Es war eine schwere Pille zum Schlucken, doch Santiago blieb stark. Ich erblickte einen Schatten im Flur und wusste ganz genau, dass Kellys Neugier gewonnen hatte. Sie wollte wissen, wie es lief mit Lio und seinem Dad.
«Das tut mir leid.» «Muss es nicht. Schließlich tu' ich es mir selbst an.» «Ich bin ein schlechter Vater. Ich habe alles falsch gemacht, was man bei einem Kind falsch machen kann. Du musst jetzt darunter leiden und dafür möchte ich mich entschuldigen.» Darios Blick sank. Er rümpfte die Nase und schluckte schwer. Es ging ihm mittlerweile zu nahe. Santiago kam ihm zu nahe, weshalb man wortwörtlich sehen konnte, wie Dario seine Schleusen wieder anhob und zumachte.
Er wandte seinen Blick ab und beendete so dieses innige Gespräch. Santiago verstand und räusperte sich. Kelly trat geniert ein und legte eine Hand auf meine Schulter, um mir die Spannung abzunehmen. Ich war komplett verkrampft, so sehr hatte mich dieser Austausch mitgenommen. Lex tauschte ein paar Worte mit Santiago aus und dieser verabschiedete sich dann von uns, als Dario aber nochmals das Wort ergriff. «Ich weiß, dass es dir leidtut. Mir tut's auch leid.»
Man konnte diesen Austausch betiteln wie man wollte, dich ich würde ihn einen Erfolg nennen. Als die Haustür hinter Santiago zufiel, räusperte sich Kelly erwartungsvoll. Dario wusste, was sie hören wollte, doch zuckte nur mit den Schultern. «Ich bin nicht er. Ich will diese Medikamente nicht mehr nehmen und fertig.»
Jetzt ergriff Lex auch mal das Wort. «Dario, reiß dich am Riemen. Du musst jetzt nicht den Sturkopf spielen und-,» «Euch ist schon bewusst, dass ihr gerade versucht, mir mein letztes Recht zu nehmen, oder? Ich habe schon so viele Chemikalien geschluckt und ich fühle mich immer noch scheiße.»
«Ja, klar fühlst du dich scheiße, wenn du dich alle paar Monate umentscheidest und immer wieder von null anfangen musst. Es wäre einiges einfacher für dich, wenn du mal bei einer Lösung bleiben würdest.» Ich blieb still. Lex hatte recht.
Dario wusste auch, dass er recht hatte, doch stand genervt auf, um Lex ins Gesicht zu sagen, was wir alle fürchteten. «Ich weiß nicht, ob's noch nicht bei dir angekommen ist, aber ich habe Borderline und kann das kaum beeinflussen.» Doch sein Betreuer gab nicht klein bei. Dario konnte nicht immer alles auf seine Diagnose schieben.
«Ja, na und? Denkst du, dass du es deswegen nicht versuchen musst, oder was? Klar, hast du nicht die besten Voraussetzungen, aber das heißt doch nicht, dass du so leben kannst und vor allem sollst.» Dario verdrehte nur die Augen und verschwand hoch ins Bad. Wenigstens duschte er sich wieder mal.
Kelly fiel erschöpft ins Sofa und seufzte ganz laut. Lex ging es genauso. Ich war gerade die Gelassenste von uns allen. Aber auch nur, weil ich solche Diskussionen täglich mit Lio führte und sie schon kannte. «Der Junge verbaut sich das immer selbst...» Lex rieb sich die Stirn. «Was machen wir, wenn er die Medikamente weiter nicht nehmen will?»
Kelly zuckte ratlos mit den Schultern. «Hoffen, dass er nicht abstürzt und wir wieder von vorne anfangen können?» Es war eher eine Frage. «Das kann's doch echt nicht sein. Ich dachte, wir sind auf dem richtigen Weg.» «Sind wir doch, Lex», beruhigte Kelly ihn und ich ging hoch in mein Zimmer, um meinen Freund im Handtuch abfangen zu können.
Er kam gerade aus der Dusche und wollte sich anziehen. «Ich liebe dich, Dario. Echt, ich liebe dich so verdammt doll, aber das wird nichts.» «Was?» Ich wandte mich von ihm ab, als er sich anzog und wartete, bis ich meine Matratze hörte, bis ich mich dann wieder zu ihm umdrehte. «Du kannst jetzt nicht so streiken. Du versaust dir so echt alles, was du dir bis jetzt erbaut hast. Freiraum, Vertrauen, deine Mitreise nach New York.» Er zog sich sein Oberteil über und rubbelte sich nochmals die Haare mit dem Handtuch trocken.
Er seufzte nur. «Du hast Leichtreden, Noè. Du bist nicht diejenige, die das Zeug schlucken muss.» «Aber du meintest vor Monaten noch, dass du sie brauchst.» «Ich dachte, du glaubst an mich.» Er kam auf mich zu und schaute mit müden Augen hinab in meine. «Verdammt, ich weiß ja bereits, dass mich die meisten schon aufgegeben haben, aber du...» Er zeigte auf mich, meine Brust. Mein Herz. «Nicht du auch noch. Wenn jemand daran glauben würde, dann du. Ich dachte, du glaubst an mich und meine Besserung.»
Ich ließ mich nicht darauf ein. Er brauchte mir kein schlechtes Gewissen zu machen. Ich wusste, dass ich im Rechten lag. «Das ist keine Besserung, Lio. Das ist ein Rückschritt. Du lehnst wieder Hilfen ab, die du brauchst. Jedes Mal, wenn du mit deinen Medikamenten gespielt hast, bist du zusammengebrochen und im Krankenhaus gelandet. Einmal wegen der Anorexie. Dann einmal, weil du kurz vor einer Heroin-Überdosis warst. Und auch noch einmal, weil du dich umbringen wolltest und verdammt nochmal ein letztes Mal, weil du es beinahe geschafft hast. Ich will dich nicht nochmal in einem Krankenhausbett liegen sehen.»
Er taumelte einen Schritt zurück und schüttelte verletzt den Kopf. «Da hab' ich meine Antwort. Du denkst nicht, dass ich es ohne kann.» Verdammt nochmal! Wollte er es wirklich hören? «Ja! Ja, Dario! Ich denke, dass du es ohne deine Tabletten nicht schaffen kannst! Du bist noch nicht stark genug! Da! Das wolltest du hören, oder?» Er blieb still und sah mich einfach nur an. «Ich hab' die Schnauze voll! Ich schau' dir nicht nochmal bei einem Absturz zu! Das kannst du vergessen!»
Ich hörte Schritte. Lex kam die Treppen hochgeeilt. Kelly hinter ihm. «So kann ich nicht nach New York! Ich kann dich so nicht hierlassen! Du versaust mir mit deinen dummen Ideen alles! Ich habe auch ein Leben, Dario!» Er blieb still und schluckte schwer. Seine Augen klebten an meinen.
Ich sah ganz genau, was für eine Dunkelheit sie einnahmen, aber es war mir sowas von egal, dass er sich spaltete. Er wechselte von Liebe zu Hass. Von Weiß zu Schwarz. «Noè», versuchte Kelly es, doch ich deutete ihr, ruhig zu bleiben. Ich brauchte jetzt keine ärztliche Meinung. Es ging hier um mich und Dario und unsere Beziehung.
Ich wollte mit ihm zusammen sein, ihn lieben und ihn nie mehr gehenlassen, doch er musste verstehen, dass ich, genauso wie er auch, ein eigenes Leben hatte und Dinge erreichen wollte. Und ich konnte das nicht, wenn er solchen Mist machte. «Ich stehe dir immer bei! Ich versuche, dich zu verstehen und dir zu helfen, aber irgendwann ist das Fass voll. Okay, du willst diese Tabletten nicht mehr nehmen? Nur zu! Aber ohne mich! Ich kann das nicht nochmal durchmachen!»
Er holte alles aus mir heraus, was er hören wollte. Er hatte den Spieß umgedreht und mich zur Bösen gemacht, aber auch in mir lauerte Dunkelheit und auch ich durfte mal böse sein. Auch wenn die Tränen auf meinen Wangen klar zeigten, wie weh mir das gerade tat. Es zerriss mich.
Es zerstörte mich, diese Worte auszusprechen. Ich wusste, dass es die Falschen waren. «Entweder du nimmst deine Tabletten und bist dazu bereit eine Lösung zu finden oder ich bin weg!» Unsere Blicke lagen aufeinander und die Stille, die nun eintrat, wurde mit der Sekunde düster und angsteinflößender.
Lex hob seine Hände an und deutete Dario, jetzt ja ruhig zu bleiben. Er war nicht der Einzige, der inzwischen einen Ausbruch erwartete. Auch Kelly holte mich etwas von meinem Freund weg, doch Darios Blick fiel. Seine Schultern hoben sich ein, zweimal an und er atmete tief und stockend aus.
Es vergingen weitere stille Sekunden, bis er wieder aufblickte und nur nickte. Er griff nach seinem Handy und verließ in aller Ruhe mein Zimmer. Kelly ging ihm hinterher und Lex schaute mich besorgt an. «Bist du okay?» «Nein, Lex. Ich bin verdammt nochmal okay. Ich weiß, welches Gewicht meine Worte tragen und ich weiß, dass ich ihm gerade richtig krass wehgetan habe. Mir geht es alles andere als gut.» Aber es musste mal gesagt werden. Bei Dario kam es manchmal nicht anders an.
«Dario, bleib doch.» Er war ganz ruhig und zog sich unten die Schuhe an. «Ich geh' Roxy holen und geh' mit ihr raus», meinte er dann nur und ging. Er schien ruhig und neutral. Doch das Problem war, Ruhe und Neutralität waren bei Dario keine guten Zeichen. Eher das komplette Gegenteil, um ehrlich zu sein.
Kelly blieb den Abend bei mir und versuchte mich herunterzuholen, denn ich machte mir nun verdammt krasse Sorgen um Rio. Doch sie hatte recht. Er war nicht meine Verantwortung. Es war ein Fortschritt, dass ich mich über ihn gestellt hatte. Doch ihm sowas anzutun... Ich könnte an der Schuld ersticken. Sie würgte mich zu Tode. Sollte ich ihn suchen gehen? Musste ich ihm wieder hinterherrennen? Wie immer?
Am selben Abend kam auch Dad zurück von seinem Trip und seine gute Laune verschwand direkt wieder, als er mein Gesicht erblickte. Es war mir ins Gesicht geschrieben, dass mein Freund, die Liebe meines Lebens, mein Leben durch den Dreck zog. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte.
Und Dario anscheinend auch nicht, denn überraschenderweise tauchte er kurz nach Mitternacht vor meinem Fenster auf und klopfte leise an. Ich erwartete alles; eine Alkoholfahne, rote Augen, blutige Arme oder einen Gefühlsausbruch, der uns völlig auseinander reißen würde, doch er hockte sich ruhig auf meinen Fenstersims und sagte leise, «Hi...»
Ich traute mich kaum etwas zu sagen, doch erwiderte dann flüsternd. Mein Dad schlief schon. Der hatte eine lange Reise hinter sich. Ich roch nichts. Kein Weed, kein Alkohol. Nicht mal Zigarettenrauch. «Wo warst du?» «Auf dem Schulhausdach.» Meine Augen wurden groß, doch Dario winkte direkt ab. «Ist mir zu hoch. Habe Höhenangst. Aber ich war dort, um nachzudenken. Nicht, um zu springen, meine Fresse.»
«Worüber hast du denn nachgedacht?» Ich ließ mich auf den Rand meines Bettes fallen und hockte mich im Schneidersitz hin. «Habe ich mich gefragt, wieso du mich jetzt abschießt, obwohl du diejenige warst, die wieder mit mir zusammen sein wollte.» Mein Mund ging auf, aber dann auch gleich wieder zu. Darauf hatte ich keine gescheite Erklärung.
«Ich blick's nicht ganz. Kann aber auch einfach an mir liegen.» Er winkte ab und rieb sich seine Augen. «Ich verlasse dich nicht. Ich habe dir ein Ultimatum gestellt und ich finde, dass ich das Recht dazu habe, es zu stellen.» «Das ist Erpressung, Noè.» «Ich weiß. Aber ich kann dir nicht mehr dabei zusehen, wie du es dir selbst noch schwerer machst. Ich kann nicht, Dario. Du brichst mir damit das Herz.»
Sein Blick fiel zu Boden und er rümpfte seine Nase. «Tut mir leid.» Er entschuldigte sich, doch ich wusste nicht ganz genau, wofür. Dario schluckte schwer und atmete ruckartig ein und aus. Ich kannte dieses Stocken und erhob mich, um meine Hände auf seine Schultern zu legen. Ich neigte mich an ihn ran, suchte seinen Blick und erblickte, wie er sich verkrampft auf die Unterlippe biss und ihr Zittern unterbrach.
Tränen tropften auf mich nieder und ich strich sie ihm sanft von den Wangen. «Es ist einfach-,» Er holte schmerzerfüllt Luft. «Egal, was ich mache, ich mache es falsch. Jede Entscheidung, die ich selbst treffe, wird kritisiert. Nichts, was ich mache, ist korrekt. Ich kann nichts allein.» Er schwankte einen Schritt zurück und ich langte hastig nach seinen Seiten, um ihn zu halten.
Meine Finger krallten sich an seinem Oberteil fest. Dario schluchzte in seine Hände und schüttelte den Kopf. «Ich muss Tabletten schlucken, um akzeptiert zu werden. Mir wird's vorgeworfen, wenn ich ich sein will. Ich kann das nicht ab.» «Wer bist du denn? Wer ist du?» Er schaute mich kurz an und weinte dann auf. «Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Ich-,»
Er schlang seine Arme um meinen Bauch und verschwand in meiner Halsbeuge. «Ich weiß nur, dass ich so nicht weitermachen will. Ich kann nicht mehr.» Sein ganzer Körper zitterte und ich steuerte auf mein Bett zu. «Das, was du gesagt hast, hat mich zerstört. Ich kann an nichts Anderes mehr denken.» Dario hockte sich an meinen Bettrand und trocknete sich verzweifelt die Augen.
Ich lehnte mich an seinen Oberschenkel an und sah zu ihm auf. «Du hast das richtige gesagt, aber alles, was ich herausgehört habe, war, dass ich verschwinden und mich umbringen soll. Ich kann nicht mehr. Die Stimmen sind wieder da. Ich kann-,» Meine Zimmertür ging auf und mein Vater trat geniert ein. Er war sich nicht ganz sicher, was sich ihm bot, doch Darios rote Augen und sein schmerzerfüllter Blick erklärten alles, was eine Erklärung brauchte.
«Ich fühle mich irre. Ich bin irre, Noè. Ich bin krank.» Mein Vater machte mein Licht an und holte sich meinen Bürostuhl dazu. «8 bis 10 % der Borderliner bringen sich um. Wusstest du das? Und mit dem Alter kann's sogar noch schlimmer werden. Ich bin mit meinem Hirn zum Tode verurteilt und da helfen die scheiß Medikamente auch nichts mehr. Ich will nicht mehr. Ich will das nicht mehr durchmachen müssen.»
Mein Vater streckte die Hand nach Dario aus und umgriff seine Wange. Dad hatte Tränen in den Augen und quälte sich halbwegs ein Lächeln auf die Lippen. «Du bist nicht irre, Dario. Du bist verletzt. Du brauchst Zeit.» «Ich will keine Zeit! Ich will, dass es aufhört!»
Ich langte nach den Händen, die er meinem Vater entgegenwerfen wollte und hielt sie fest. «Wir gehen jetzt in die Notaufnahme, Lio. Ich werde die ganze Zeit an deiner Seite sein, okay?» Seine grünen Augen landeten auf mir und er sah mich verängstigt an. «Ich bleibe bei dir, aber wir holen uns jetzt Hilfe.»
Er wollte protestieren und mich abschütteln, doch ich hatte meine Entscheidung getroffen. «Wieso?» «Weil du klar äußerst, dich umbringen zu wollen. Ich will dich nicht verlieren. Niemals.» Lio schaute rüber zu Dad und biss sich auf der zitternden Unterlippe fest. «Und die packen mich nicht weg?» Dad schüttelte den Kopf. «Dafür werde ich persönlich sorgen, aber du brauchst jetzt Ruhe und Hilfe. Vertraust du uns?»
Dario presste seine Lippen zu einer Linie zusammen. «Ihr schon. Dir nicht.» Eine typische Dario-Aussage, welche uns sogar in einer Situation wie dieser hier, ein schwaches Lächeln auf die Lippen zauberte. Selbst Dario musste schwach grinsen. Auch, wenn es nicht lange anhielt.
Ich weiß mittlerweile gar nicht mehr, wie man Dario helfen könnte... Er braucht wohl einfach Geduld und Wille.
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