28. Kapitel
Ich bekam zu spüren, dass mir das Rennen mit Taby wirklich zugunsten kam. Ich konnte gut mit Dario und seinen großen Schritten mithalten, als er gehen wollte. Ich würde ihn, nach dem Nicken und dem Blick, den er mir gegeben hatte, nicht allein lassen.
Die Angst, ihn irgendwie auch noch zu verlieren, war wie eine Rakete in die Höhe geschossen. Vielleicht reagierte ich auch einfach über, weil ich Mom schon verloren hatte, doch ich wollte einfach nichts Falsches mehr machen. «Warte doch auf mich!» Tat er nicht. Er lief weiter und hielt seinen Blick gerade aus nach vorn gerichtet.
«Renn mir nicht hinterher. Ich pack's gerade echt nicht, mit dir klarzukommen.» Ich ignorierte seine Worte genauso, wie er meine eben und ich schaffte es, mich vor ihn zu stellen, damit er anhielt. «Ich geh erst, wenn ich weiß, dass du nichts Dummes vorhast.» Er lachte leise auf und neigte sich dann zu mir herunter. Seine Augen bohrten sich in meine.
«Ich bringe mich schon nicht um, Noè.» Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, runter. «Du brauchst nicht das Gefühl haben, dass du die einzige Person auf Erden bist, die mir Zuneigung oder Liebe schenken kann. Wenn du nicht willst, ist das okay. War eh klar.» Sein Blick brannte. Er zwang mich beinahe in die Knie.
«Ich wusste von Anfang an, was für eine Person du bist und ich war so naiv und dumm und habe mir gedacht, dass ich mich ja vielleicht doch irren könnte. Aber nein, ich lag richtig. Wie immer.» Er zwang mir Tränen in die Augen. Dieses ständige Wechseln zwischen Anbetung und Hass machte mich fertig. Er verlor sich immer mehr. Oder nein, er vertuschte den Sturm, der in ihm wütete, kaum mehr. Wie auch? Ohne Tabletten, Drogen, Alkohol oder der Kraft, ihm zu entkommen.
«Weißt du, wie vielen bin ich schon begegnet, die genau gleich sind wie du bist? Zu viele. Das eigene Leben zu langweilig. Der Hunger nach einem Abenteuer oder Drama zu groß und dann findet man mich und frisst sich an mir satt, bis man nicht mehr kann und wieder wegwill. Deine Mutter ist gestorben. Dein Leben ist nicht mehr langweilig und perfekt. Verständlich, dass du jetzt genug von der Kostprobe hast.» Ich begann meinen Kopf zu schütteln.
Er konnte diese Dinge nicht einfach sagen. Sie stimmten nicht. «Das stimmt nicht.» «Echt? Bist du dir sicher? Stimmt es nicht, dass man irgendwann etwas Neues braucht? Etwas Spannenderes? Ist doch genau gleich, wie bei Drogen. Irgendwann reicht der alte Stoff nicht mehr.» Ich wollte etwas sagen, doch Dario kam noch näher. Ich konnte seinen Atem auf meinem Mund spüren und seine Stirn berührte meine. Die Augen auf meine Lippen gerichtet, die Waffen auf mein Herz. Er drohte, mich zu zerstören.
«Manche brauchen neuen Stoff, andere ein neues Auto oder Haus. Und du... Wird Zeit für ein neues Boytoy, huh?» «Du weißt selbst, dass das nicht stimmt. Wenn das so wäre-» «Was weiß ich selbst?! Huh?! Sag's mir!» Ich wollte weg, mich der Spannung, die zwischen Dario und mir aufbaute, entwinden, doch ich durfte jetzt nicht wegtreten.
Ihn jetzt abzuwimmeln, wäre das Dümmste, was ich machen könnte. Ich wollte ihm schließlich beweisen, dass das alles nicht stimmte. Das war bloß die Angst in ihm, verlassen zu werden. Er manipulierte mich ins Denken, dass ich die Böse war, damit ich gehen würde. Er wollte mich einerseits loswerden, aber genauso sehr behalten.
Wieder dieses schwarz und weiß. Alles oder nichts. Immer oder nie. Würde ich nicht wissen, was in seinem Kopf vorging, würde ich mich verziehen und das Weite suchen. Sein Verhalten grenzte an toxischem Auftreten und Manipulieren, doch das konnte er nicht wahrnehmen, denn sein Hirn handelte wirr und verloren, weil er nicht dazu imstande war, klar zu verständigen, was er wollte, meinte und brauchte.
Es war gut, dass ich mich mit Borderline beschäftigte. Musste ich ja, wenn ich bei ihm bleiben wollte. Er war nicht irre oder böse. Er war überfordert, verwirrt und zutiefst verletzt. «Egal, was du mir sagst. Ich werde nicht gehen. Ich will und verdammt nochmal werde dich nicht einfach zurücklassen. Geht gar nicht! Schließlich brauche ich dich. Ein neues Boytoy?! Niemals. Will und brauche ich nicht. Plus, bist du ja auch keins! Du bist kein Spielzeug, keine Kostprobe oder Droge für mich. Du bist Dario und ich bin so abartig in dich verknallt, dass ich nachts kaum mehr schlafen kann, wenn ich nicht weiß, wo du bist und was du machst!»
Ich streckte mich vorsichtig zu ihm hoch und wartete ab, ob er mir entgegenkam, doch nein. Er sah mich einfach an. Sein Blick zwar klar, doch so verwirrt und ängstlich. «Verdammte Scheiße, das mit Harmony war ein großer Fehler. Ich habe Mist gebaut, okay?! Und dann die Geschlossene... Ich weiß doch, dass dieser Ort nicht gut für dich ist. Aber ich konnte nichts mehr machen. Und ich dachte, du hasst mich jetzt. Darum wollte ich die Pause! Ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich dir nicht helfe, sondern dich einfach nur entblöße und noch mehr verletze. Das will ich aber alles gar nicht, weißt du?! Ich will, dass du keine Schmerzen mehr hast. Ich will dich lachen sehen. Ich brauche, verdammt, ich will dich. Nichts auf dieser scheiß Welt, könnte meine Meinung ändern. Aber ich bin auch überfordert, Dario! Ich will helfen! Ich will machen und tun! Aber ich muss auch lernen. Ich weiß nicht alles. Ich weiß nicht immer, was ich sagen oder machen soll, damit es dir gut geht. Ich bin am Lernen. Das musst du verstehen. Du bist doch auch noch mittendrin und lernst langsam selbst, was in dir vorgeht.»
Er taumelte etwas zurück und schluckte verkrampft. Seine Augen lasen mich. Er- Sein Ausdruck veränderte sich und er- Nein, er veränderte sich nicht. Er-, Scheiße, wie hieß das schon wieder? Mirroring? Spiegeln? Passierte das gerade? Ich hätte nicht so viel nachlesen sollen...
Dario kopierte meinen Ausdruck. Seine eben noch so wütende und bissige Ausstrahlung begann sanfter zu werden. Er glich einem Reh, das sich inmitten einer stark befahrenen Straße befand und schon die Lichter des Trucks sah. Unsicher, verzweifelt und kurz vorm Weinen. Was ich beschrieb, war, wie ich vor ihm stand.
Und er- Er machte das nicht extra, aber zum ersten Mal, seit ich darüber gelesen hatte, konnte ich erkennen, wie es vor meinen eigenen Augen passierte. Leute mit BPS tendierten zum Kopieren anderer Manieren oder Umgangsweisen, um ins Umfeld zu passen, da sie das Gefühl, nirgends hineinzupassen, stets in sich trugen. Dies passierte meist unabsichtlich, doch manchmal auch extra. Ihr Wunsch, nicht abgewiesen oder verlassen zu werden, bringt sie dazu, sich charakterlich zu verformen, damit sie ihren Gegenüber anlocken und fesseln können.
Ich hatte einen Blog von einem Freund einer Borderlinerin gelesen und dieser meinte, sie habe so viele Eigenschaften und Interessen von ihm angenommen, dass er begann sich in ihr zu sehen, was es für ihn sehr schwer gemacht hatte, der Beziehung ein Ende zu setzen.
Beziehungen mit Borderliner hielten nur schlecht. Es war, glaube ich, auch bewiesen, dass Borderliner dazu neigten, viele sexuelle Partner zu haben und diese stets zu wechseln. Eben, weil sie dich in einer Sekunde unsterblich lieben und dann in der nächsten zutiefst hassen konnten. Aber jeder war anders.
Und ich- Ich würde nicht aufgeben. Und da ich wusste, was vor mir passierte, hatte ich auch keine Angst, wirr irgendwo hineinzugeraten. Ich war eh schon mittendrin. Ich wusste, wer Dario war und was für ein guter Mensch er war. Ich liebte ihn. Mit oder ohne Borderline. Mit Medikamenten oder ohne. Mit Narben oder ohne.
«Die Pause war ein Fehler. Ich habe wieder einen gemacht. Das tut mir leid. Ich dachte, es sei das Richtige. Ich wollte dich nie loswerden. Niemals.» Ich zögerte, doch langte vorsichtig nach seiner Wange. Was ich eben realisierte, war, dass unsere Kommunikation doch nicht so gut war, wie ich zu glauben gemeint hatte. Und ich wusste, dass wir daran arbeiten mussten, wenn diese Pause ein Ding der Vergangenheit werden sollte.
Und- Ich denke, ich wagte hier einen Schritt, der mich entweder zerstören oder stärker machen konnte. Aber für Dario würde ich das immer wieder tun. Er brauchte eine Person, die blieb. Egal unter welchen Umständen. Ich hatte es ihm schon einmal versprochen und tatsächlich angedeutet es zu brechen. Verständlich, dass er so reagiert hatte. Ich hatte von ihm verlangt, mir zu vertrauen und ihn dann auf einmal allein gelassen. Das hätte nicht passieren dürfen.
Sein Blick klebte an mir. Seine Atmung wieder ruhiger, aber das war keine Überraschung, denn auch mein Puls ging runter. «Wenn wir das zusammen machen wollen, müssen wir aber beide wissen, woran wir sind. Ich will Ehrlichkeit, Offenheit und klares Kommunizieren.» Dario gab mir keine Antwort.
Er schien nicht mehr hier zu sein. Hörte er mich überhaupt? Verdammter Mist, warum schien er mir nach dem Aufenthalt in der Geschlossenen noch instabiler als vorher? «Dario? Hey...» Meine Stimme wurde sanfter und schmolz mir fast von den Lippen.
Er blinzelte. Oh Gott, er blinzelte wieder und schluckte dann trübe und schlapp. Sein Blick fiel. «Das, was ich eben alles gesagt habe...» Er verzog den Mund und es sah so aus, hätte er Schmerzen. Wo? «Das wollte ich alles nicht sagen. Ich wollte dir nicht wehtun.»
Ich verstand und schritt schnell ein. «Hey, das ist okay. Ich weiß das doch. Manchmal ist der Mund schneller als der Kopf. Das kenn ich sogar sehr gut», lächelte ich sanft und umgriff beide Wangen, um ihn näher an mich heranzuholen. «Vielleicht haben wir beide dieses Drauflosreden auch einfach mal gebraucht, weißt du?»
Er schüttelte den Kopf. «Ich habe dir Dinge unterstellt, die richtig scheiße sind-» «Und ich habe sie nicht persönlich genommen. Alles gut. Ich habe dich auch schon mal beleidigt oder dummes gesagt. Passiert den Besten.» Endlich. Er schaute mich wieder an. «Willst du das denn wirklich nochmal versuchen?» Ich nickte in Rekordzeit.
Ich war mir sicher. Ich wollte. «Wenn du mich mit roten Haaren überhaupt noch willst, ja», scherzte ich und schlang meine Arme um seinen Nacken. Da kam es: ein kleines, schüchternes Lächeln. Mir egal, dass es nicht bis ganz zu seinen Augen reichte. Immerhin bekam ich etwas.
Ich mochte sein Lächeln schon immer am meisten. Vor allem, wenn es so ehrlich und offen war, dass man seine spitzen Eckzähne sehen konnte. Dann wusste ich, dass er da war und ehrlich lachte.
«Ich kenn mich mit roten Haaren aus. Hast du mal meine Familie angeschaut?», meinte Dario nur und strich mir eine lose Strähne hinters Ohr. Ich konnte nicht anders und grinste ihm entgegen, während wir uns näherkamen und küssen wollten, doch ich hörte Schritte.
«Ey, Noè! Ach du Scheiße, was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?!» Carlos tauchte mit Rocco und Arian auf und pfiff provokant. Sie trugen Sportkleidung. Ach, hatten sie eben noch Fußballtraining gehabt? «Hi, Dario.» Rocco deutet auf Darios Hand, die langsam meinen Rücken runter streichelte und dann von mir abließ.
«Wollte euch nicht stören. Ihr könnt ruhig weitermachen.» Arian schaute mich etwas verwirrt an, doch wandte sich dann wieder an Rocco, dessen verschmitztes Grinsen zerfiel, als Dario konterte, «Bin mir sicher, deine Eltern wollten dich auch nicht, aber hier sind wir nun... Ist trotzdem passiert.»
Und ich schaffte es wieder einmal, meinen eigenen Haaren Konkurrenz zu machen. Mein Ziel im Leben war es, irgendwann einmal so freundlich und sympathisch wie Dario zu sein. Er wusste echt, wie man Freundschaften schloss. «Lustig, dass das von dir kommt, Dario», meinte Rocco nur und schaute ihm bissig entgegen.
Er tat es wieder. Er las Roccos Auftreten und ich konnte spüren, wie sich sein Körper anspannte. Vor allem meine hintere Seite... Darios Hand langte nach dem Stoff von meinem Oberteil und als ich ihn dazu brachte, seine Faust zu lösen, wusste ich nicht, wie ich die Bombe weiter entschärfen konnte.
Eigentlich machten das ja schon die Medikamente, doch wenn Rocco nicht aufhören würde, würde Dario schon gar nicht. Ich kannte ihn. Grenzen gab es bei ihm keine. Auch wenn er todmüde war.
«Ob unsere Eltern jetzt wollten oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Was ich will, ist, da weitermachen, wo wir aufgehört haben», murmelte ich und schob Dario langsam an seiner Brust zurück, bis seine Augen wieder auf mir landeten und er sanft nickte.
«Okay, okay, Noè. Verstanden.» Carlos lachte auf und zwinkerte mir verspielt zu. Auch, wenn er ein Idiot war, war seine Reaktion noch am angenehmsten von allen dreien, die sich jetzt irgendwie verabschiedeten, aber auch nicht. Vor allem Arian. Seine Augen klebten an Dario.
Ich war ehrlich gesagt so verdammt froh gewesen, als sich diese Spannung in der Luft wieder aufgelöst hatte, als die Jungs gegangen waren. Mir war das richtig unangenehm gewesen. «Die roten Haare waren doch ein Fehler», meinte Dario nur, als wir uns auf den Weg machten.
«Was? Wieso?» «Die lauern wie verdammte Geier. Die warten nur auf ihre Chance bei dir.» Ach, ich winkte ab. «Tun sie bei allen von unserer Klasse. Die haben so eine Challenge.» «Challenge?» «Ja, die wollen mit allen aus unserer Klasse und der Para schlafen.» Ich konnte nicht glauben, dass ich das einfach so locker sagte. «Also diejenigen entjungfern, die noch nicht hatten, weißt du?»
Der Grünäugige lachte auf und schüttelte den Kopf. «Dann können sie ja mal miteinander anfangen.» Auch ich verlor eine laute Lache und musste mich an ihm anlehnen, um nicht auf die Schnauze zu fliegen. Und er mit mi-
Die beiden nicht zusammen? Ergibt irgendwie kein Sinn...
Dario wirkt wirklich instabiler, aber wieso... Was denkt ihr?
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