28. Kapitel
Schule war zum Sterben schlimm gewesen, doch um einiges angenehmer als das, was jetzt gerade auf der Station abging.
Santiago saß vor mir. Er war mit seinem Handy beschäftigt und dachte wahrscheinlich keine verdammte Sekunde an seinen Sohn, der auf dem besten Weg ins Jenseits war.
Mom und Dad hatten eben mit ihm, Kelly, Bayton und Rosie eine ganze Stunde diskutiert.
Tante Tony suchte zusammen mit ihrer Einheit nach Dario, doch ich wusste, wo er war. Im Moment schlief er bei seinem Kumpel Vicky und verbrachte dort den größten Teil seiner Zeit.
Er hatte es mir, nur mit Mühe und Not, verraten. Ich musste ihm wirklich hoch und heilig versprechen, dass ich es für mich behalten würde.
Gegessen hatte er klarerweise seit der Nasensonde nichts mehr. Er hatte mir versichert, dass er die Finger von den Drogen ließ, doch ich denke nicht, dass sein Versprechen stärker als sein Schmerz und seine Sucht sein konnte.
«Herr De Moreno, ich bitte Sie hier zu unterschreiben.» Bayton deutete folgend auf die Bitte meiner Mutter auf das Dokument, welches Dario endgültig von Santiagos Haushalt befreite.
Nach seiner Unterzeichnung hatte er keinerlei Rechte mehr, über seinen Sohn und dessen Zukunft zu bestimmen. Nicht, dass er das vorher gemacht hätte...
Für Dario hieß das, offiziell wieder Teil des Systems zu sein. Er schwebte also wieder in einer Welt, die er nicht zu entkommen wusste. Ein heimatloses Kind, das von niemandem geholfen werden konnte. Ein System-Crasher.
«Mache ich doch gerne, Frau Damaris.» Und er unterschrieb. Die Kaffeemaschine ratterte vor mir und ließ dem Arschloch seinen letzten Kaffee raus, den er hier in der Station jemals von mir serviert bekommen würde.
Ich war so froh, diesen Bastard nie mehr sehen zu müssen. Er war derjenige, der Dario in vieler Hinsicht weiter und doller zerstört hatte.
«Hier», lächelte ich sanft und hielt ihm seinen Kaffee hin, «Keine Sorge, ich habe ihn nicht vergiftet.»
Zuerst langte er in aller Ruhe nach der kleinen Tasse, doch als er meine Worte verstanden hatte, crashten seine dunkelbraunen Augen mit meinen zusammen.
Ich ließ eine meiner Augenbrauen verschmitzt in die Höhe springen und grinste verspielt, «Nicht, dass Sie sich sonst noch übergeben müssen.»
Wie gerne ich ihm die heiße Brühe ins Gesicht geschüttet hätte, doch sein Gesicht, als er realisiert hatte, dass jemand davon wusste, war viel befriedigender als die vielen Verbrennungen, die sein könnten.
Bayton hatte den Wechsel in Santiagos Miene ebenfalls bemerkt und ich war mir sicher, er würde mich nachher fragen, was ich gemeint hatte, doch er würde nichts aus mir herausbekommen.
Dies stand Dario zu. Das war sein Trauma und es lag mir nicht, anderen davon zu erzählen. Aber Santiago wollte ich trotzdem etwas Feuer unter dem Arsch machen.
«Danke, hat Dario dir beigebracht, wie man solche Kaffees macht?», konterte er dann aber ganz leise, sodass nur ich es hören konnte, und ich war bereits dabei, ihm die Tasse wieder zu entnehmen, um sie ihm dann doch noch ins Gesicht schütten zu können, doch mein Vater hatte meine Absichten bereits erkannt, weshalb er dazwischen kam. «Noè, zeig Anstand!»
Ich gab keine Antwort und verließ das Büro mit nur wenigen Schritten. Dieses verdammte Arschloch. Verspürte dieses Schwein keinerlei Schuld? Hatte er kein schlechtes Gewissen? Gar nichts?
Es kostete mich sehr viel ab, meinen Eltern nicht einfach alles zu erzählen. Aber ich wollte Dario nicht noch mehr entblößen.
In den letzten Wochen wurden so viele seiner Geheimnisse einfach aufgedeckt und das, ohne ihn zu fragen, was das mit ihm anstellte.
Um ehrlich zu sein, denke ich, dass ein Teil seines konstanten Flüchtens und Streiken auch schlichtweg aus Scham passierte.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass ihm das alles auch verdammt peinlich sein musste. Nur verstand ich nicht ganz, warum.
«Was sollte das eben?» Mom tauchte neben mir auf und ich zuckte bloß mit meinen Schultern. «Mag den Typen einfach nicht. Steckt nicht viel dahinter.»
Meine Mutter kannte mich. Auch wusste sie, wie groß mein Herz war und wie schwer es war, auf meiner schlechten Seite zu landen, weshalb sie ganz genau wusste, dass ich mehr von Darios Vater wusste als sie alle zusammen.
«Lüg mich nicht an, Noè. Wenn er Dinge getan hat, soll man ihn dafür verantwortlich machen.» Schluckend zückte ich mein Handy und versuchte, unauffällig zu sein, doch wem spielte ich etwas vor? Ich konnte meiner Mutter nicht entkommen.
«Weißt du noch Darios Zimmer im ersten Stock bei Santiago zu Hause?» Langsam nickte sie und ich wandte mich komplett an sie. «Das war alles nur Show. Darios Zimmer ist im Untergeschoss. Ich war dort. Das Zimmer sieht aus wie ein Hobbyraum oder eine etwas zurechtgemachte Abstellkammer mit einem Bett drinnen stehen.»
Ich presste meine Lippen fest zu einer Linie zusammen und versuchte die Miene von Mom zu lesen, doch sie regte sich nicht. «Und, ich denke, ihr als Vermittler hättet schon vor einer verdammten Ewigkeit, ein bisschen tiefer bei Santiago nachgraben sollen. Ein 10-jähriger Junge meidet das Haus seines Vaters und ihn selbst nicht grundlos.»
Ich wusste, wenn ich jetzt hier stehenbleiben würde, würde ich Mom alles erzählen, weshalb ich das Weite suchte. Eigentlich hatte ich ihr nichts gesagt, aber doch irgendwie verdammt viel.
Ich wollte Dario schreiben, doch ihn nicht nerven. Gehört hatte ich seit gestern nichts mehr von ihm. Und wenn ich es tat, dann nur, weil ich mich zuerst bei ihm gemeldet hatte.
War irgendetwas los? Befand er sich in Scheiße? Brauchte er Hilfe? Er würde sich doch sicher bei mir melden, wenn er jemanden brauchte, oder? Oder dachte er, er würde mich und alle anderen so abschrecken? Mich sicherlich nicht.
Tony öffnete die Eingangstür und trat mit gestresstem Ausdruck ein. Was sie in der Hand hielt, war Darios Handy und seinen Kapuzenpullover, der einst wohl mal grau gewesen war.
Beide waren in versiegelten Beutel und Tony trug Gummihandschuhe. Rote Flecken hatten sich auf dem Stoff seines Pullovers ausgebreitet und mein Herz setzte gefühlt mehrere Schläge aus.
«Was zum Teufel?!» Tony bemerkte mich und sah dann kurz wieder zum Pullover und wieder zu mir. Sie versuchte ihn dann hinter sich zu versteckten, doch ich ging auf sie zu und wollte nach ihm greifen. «Nein, Noè. Das ist Beweismaterial und weist wichtige Fingerabdrücke auf, die mit Dario zu tun haben.»
Fingerabdrücke? Das war jemand anders? Nicht er selbst? Warum beruhigte mich das? Das sollte mich nicht beruhigen, verdammt nochmal. «Wo habt ihr das gefunden?»
«Nicht weit vom Haus seiner Mutter entfernt. Die Szene hat stark nach einer Auseinandersetzung ausgesehen.»
Mom und Dad kamen zusammen mit Santiago und Kelly nach unten. Dads Augen fanden ihren Weg zuerst zu den verpackten Beweismitteln und das Erste, was er tat, war sein Gesicht in seinen Händen zu vergraben.
Moms Gesichtsausdruck verriet auch mir, dass sie gleich vom Schlimmsten ausging. Kelly wagte es nicht, einzuatmen und selbst Santiago schluckte etwas unbeholfen.
«Ist er-», begann Mom, doch Tony winkte schnell ab, «Nein, oh Gott, nein. Wir wissen nicht, wo er sich im Moment befindet, aber wir haben das gefunden. Deutet alles sehr stark auf eine Schlägerei hin. Aufgrund des Blutes tippen wir auch auf Waffen. Wessen Blut es ist, muss noch im Labor abgeklärt werden.»
Was, wenn das Darios war? Das würde heißen, er war irgendwo da draussen, verletzt, unterernährt, allein und mit einer Einstellung, dass ihm niemand helfen konnte.
Diese Einsicht schoss Tränen in meine Augen und ich wandte mich zitternd an Mom, die mir direkt ansehen konnte, dass es gerade nicht ging. Ich konnte das gerade nicht ertragen. «Mom-»
«Ich weiß, Schatz. Komm her.» Sie strich mir die Tränen unter meinen Augen weg und umarmte mich eng.
Warum bekam Dario keine Ruhe? Wie sehr wollte ihn das Leben noch schwächen? Warum musste sowas auch noch passieren?
Ich musste zu ihm. Ich musste ihn sehen und es selbst in die Hand nehmen. Ich musste ihn finden.
Mein Blick traf Santiagos, der nicht wirklich wusste, wie er reagieren sollte. In diesem Moment sah er Dario leider gefährlich ähnlich.
Dieses Verhalten erkannte ich wieder. Der Mann vor uns wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Wut breitete sich auf seiner Miene aus, doch ich wusste nicht, warum.
Sagen tat er nichts und nach langem, angespanntem Schweigen verabschiedete er sich einfach und verließ die Station in einer Eile, die keiner von uns nachvollziehen konnte. Er haute ab. Wie Dario...
Okay, okay. Wisst ihr noch, wie meine Eltern letztens gemeint hatten, dass ich Hausarrest habe?
Ja, also folgendes: Ich war gerade unterwegs zu Vickys Haus. Ich hatte Gio nach seiner Adresse gebeten und sie schnell bekommen.
Wenn das Glück auf meiner Seite war, würde ich Dario dort auffinden. Ich hatte mich dazu entschieden, den Hausarrest kurz zu unterbrechen. Meine Unklarheit über Darios Zustand ließ mir keine Ruhe.
Das Haus, welches mir Giorgia beschrieben hatte, deutete auf noch wache Bewohner hin. Es war kurz vor Mitternacht und ich fror mir meinen verdammten Arsch ab.
In meinem Rucksack hatte ich Verbandszeug dabei. Einfach zur Sicherheit. Ich brauchte dies, um mir selbst etwas Stabilität und Selbstvertrauen zu geben. Das Auto hatte ich nicht nehmen können, sonst wäre ich offensichtlicher Weise direkt aufgeflogen.
Zitternd klingelte ich. Ich fand es interessant, wie nur Sekunden nach meinem Klingeln, die Lichter im oberen Stock ausgingen.
Das ganze Haus verfiel einer Stille, die lauter als alles um mich herum schien. Definitiv war er hier. Ich klingelte erneut.
Und was ich nicht bedacht hatte, war, dass wir Teenager waren und noch bei unseren Eltern wohnten.
Ich konnte Schritte näherkommen hören und dann öffnete eine Dame die Tür. Sie trug einen verschlafenen Blick. «Eh, hi», grinste ich unsicher und ihr Blick verriet mir, dass sie meine Freundlichkeit nicht wirklich zu schätzen wusste.
«Ich wurde zu Hause rausgeschmissen und Vicky meinte, ich könne jederzeit zu ihm kommen.» Sie musterte mich. Ihr Blick bohrte beinahe Löcher in meine Kleider.
Ich schlotterte vor Kälte und hatte wahrscheinlich tiefe Augenringe, die mir im Moment echt nur helfen konnten. «Vicky! Deine Freundin ist hier aufgetaucht!», schrie sie die Treppen hoch und plötzlich gingen die Lichter oben wieder an. Sehr verdächtig, wenn man mich fragen würde.
«Wer?» «Wie heißt du-» «Noè.» «Noè ist hier!» Sie trat ein wenig zur Seite und ließ mich eintreten. «Warum haben dich deine Eltern rausgeschmissen?»
Ein rothaariger Typ kam einige Treppenstufen nach unten und schaute mich misstrauisch an.
Wie konnte ich ihm sagen, dass ich Dario kannte und wusste, dass er hier war? «Ich, eh, ich und mein Kumpel Dario haben Mist gebaut und irgendwie hat sie das dazu gebracht mich wieder für die Nacht rauszuschmeißen.»
Ich schielte wieder zu Vicky, der meine Betonung auf Dario wahrgenommen hatte. Er kniff seine Augen zusammen, doch meinte dann, «Ja, du baust eh immer Scheiße, Noè. Komm, das alte Zimmer meiner Schwester ist frei.»
Er deutete mir, ihm nach oben zu folgen und dankbar lächelnd stahl ich mich an seiner Mutter vorbei, die gähnte und sich die Augen rieb. «Vicky, du weißt, wir sind kein verdammtes Hotel.» «Ja, sorry, Mom.»
Wir verschwanden oben und da fiel das ganze Schauspiel zugrunde. «Er ist hier, oder? Geht es ihm gut?»
«Erstmal stopp. Wer bist du? Warum tauchst du hier einfach auf und warum verdammt nochmal weißt du, dass Dario hier ist?»
«Also meinen Namen kennst du ja bereits und ich bin hier, weil Darios Handy und Pullover blutverschmiert bei der Polizei gelandet sind und ich weiß, dass er hier ist, weil er es mir gesagt hat. Also, wo ist er?»
Vickys Augen lösten sich etwas überfordert von meinen und fixierten dann die eben noch geschlossene Zimmertür an.
Er nickte hinter mich und als ich mich umdrehte, stand Dario kopfschüttelnd im Türrahmen. «So stur.»
Komm, Dario. Gib's zu. Noès Sturkopf ist eine ihrer besten Eigenschaften. xD
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