27. Kapitel
«Wärst du mir böse, wenn ich nachher gehe?», spürte ich Darios Mund in meinem Nacken fragen, während ich mich immer noch daran zu gewöhnen versuchte, dass wir beide zusammen auf dem Sofa lagen und einander Wärme schenkten.
Also, ich persönlich brutzelte wie eine Wurst auf dem Grill, solch eine Wirkung hatte der Lockenkopf auf mich.
Die Uhr über unserem Fernseher verriet mir, dass es 4 Uhr morgens war. In weniger als drei Stunden würde ich aufstehen müssen, um mich dann für die Schule fertig zu machen.
Und innerlich hatte ich bereits damit gerechnet, dass Dario wieder gehen wollte. Schließlich war er nicht vom Krankenhaus abgehauen, um einen Tag später wieder zurückzukommen.
«Warum bist du hiergeblieben, wenn du eh wieder gehen willst?» Nach seiner Hand langend, die auf meinem Bauch lag, erblickte ich seine Armbänder, die schüchtern aus seinem Ärmel rausschauten.
«Weil ich Angst hatte, etwas Dummes zu tun. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre ich wieder gegangen und allein gewesen.»
Unsere Fingerspitzen spielten miteinander und ich konnte fühlen, wie Dario über meine Schulter hinweg auf unsere Hände schaute. «Und wenn ich bei dir bin, mache ich keine dummen Sachen.» Außer mir den Verstand zu rauben.
«Also ich plane dann nicht mehr, sie zu tun, aber denken tu ich trotzdem daran.» «Das ist gut. Also, dass du dem Drang dann besser widerstehen kannst.» Welchem Drang auch immer.
Hatte es etwas mit den Armbändern zu tun, oder noch etwas Anderes? Schwer schluckend rückte ich näher an Dario heran und drehte mich zu ihm um, um ihm in die Augen schauen zu können.
«Wenn du gehst. Wo wirst du hingehen?» «Keine Ahnung. Habe kein Ziel.»
«Aber es ist kalt draußen und-» Ich erstarrte, als ich meine Wange in seiner Hand wiederfand. «Diese Kälte spüre ich schon seit Wochen nicht mehr.»
Sein Blick sank auf meinen Mund und fand seinen Weg zurück in meine Augen. «Spüren macht mir Angst», atmete er mir entgegen und auch wenn sein jetziger Zustand alles andere als okay war, ließ er mich mehr erfahren.
Dario gab Dinge preis, die ich nicht gewusst hatte. «Deshalb die Pillen und der Alkohol, oder?», gab ich flüsternd von mir und er nickte vorsichtig.
«Warum macht es dir Angst?» «Weil Schwäche und Emotionen bestraft werden.» Er sank wieder, sein Blick. Und dieses Mal traute er sich nicht mehr, ihn wieder anzuheben.
«Und Spüren macht mich schwach. Es nimmt mir meine Kraft zu atmen. Ich weiß nicht, was für eine Person ich wäre, würde ich alles wahrnehmen und spüren. Was, wenn es dann noch schlimmer wird?» Ich hob sein Kinn an und fuhr ihm vorsichtig durch sein Haar.
Was er sagte, war für mich schwer zu verstehen, denn ich spürte nicht, was er spürte. Ich war nicht so wie er aufgewachsen.
Mir wurde nicht beigebracht, dass Schwäche und Emotionen zu zeigen falsch war. «Wer hat dir gesagt, dass Schwäche und Emotionen etwas Schlechtes sind?»
«Ich», murmelte er und ließ mich seine Stirn an meine führen. «Jedes Mal, wenn ich versucht habe, anderen klarzumachen, was ich fühle, haben sie das Weite gesucht. Ich stand dann einfach allein da.»
Ihn wieder so nahe, wie im Badezimmer an mir zu spüren, lenkte mich ein wenig ab, doch ich wusste, wie wichtig es jetzt war, Dario zuzuhören.
«Aber du bist geblieben. Du hast gesagt, dass du keine Angst vor mir hast.» Redete er von seinen Wutausbrüchen? Waren das seine Emotionen? Zeigte er durch sie Schwäche?
Ich erinnerte mich an meine Feststellung, dass Dario Mühe hatte, seine Gefühle zu äußern.
Nun, mit diesem Geständnis, ließ mich das denken, dass er, egal, welche Emotion es war, sie mit Wut äußerte.
Kannte er überhaupt einen anderen Weg, sich zu äußern? So ruhig wie er gerade war, hatte ich ihn erst die letzten Tage zum ersten Mal gesehen.
Darios Wutausbrüche waren Hilfeschreie gewesen, die niemand verstehen konnte. Aber nein. Bayton hatte sie verstanden. Er hatte uns gewarnt und Dario darauf aufmerksam gemacht, doch dies half niemandem, denn wie konnten wir Dario helfen, wenn er es selbst nicht einmal wollte?
«Warum hast du das nie jemandem genauso gesagt?» «Warum hätte ich das sollen? Ich bin nicht wichtig. Niemand braucht sich zusätzlich noch einen Kopf um mich machen.»
Seine Worten ließen mich mit zugekniffenen Augen, die meine Tränen zurückzuhalten versuchten, zurück.
Aber er war wichtig. So wichtig. Beinahe das Wichtigste in meinem Leben. Ich konnte nur noch an ihn denken und es zerriss mich in Millionen Einzelteile, dass er so über sich dachte und ich ihm diese Gedanken nicht nehmen konnte.
«Du bist mir wichtig. Sehr sogar. Und ich werde hierbleiben, bis du das selbst einsehen kannst, okay?» Dario entfernte sich von mir und sah mich einfach an.
Er versuchte durchzubrechen, sein Schmerz. Er wollte nach draußen, doch es war klar erkennbar, wie Dario ihn zurückhielt.
Die Angst vor der Person, die er werden könnte, wenn er es zulassen würde, war größer als sein Vertrauen anderer und mir gegenüber.
«Bitte geh nicht und bleib hier. Versuche es. Ich bleibe auch da.» Ich konnte nicht anders als zu flehen. Ich wusste, dass Dario gehen wollte. Und ich fühlte mich elend, ihm jetzt solch schlechtes Gewissen zu machen und ihn anzuflehen, aber ich hatte Angst um ihn.
Er selbst hatte Angst vor seinem wahren Ich und ich hatte solch große Furcht vor der Person, zu der er langsam wurde. Eine leere Hülle, umgossen von Medikamenten, Alkohol und Drogen.
Er wusste, würde er mir jetzt antworten, würde er brechen, weshalb ich ihm die Wahl ließ.
Er war nicht dazu gezwungen, mir alles zu zeigen. Und zeigen konnte ich ihm das im Moment nur auf eine Weise.
Ich hörte auf, ihm mit Worten klarmachen zu wollen, wie tief in meinem Inneren ich ihn und sein Herz hütete. Es ging nicht mehr.
Mir waren die Worte ausgegangen, weshalb ich mich zu ihm heranlehnte und ihn küsste. Eine Welle voller Gefühle überwältigte mich und mein zitterndes Sein.
Wir beide brauchten ein paar Sekunden, um einander zu finden. Doch als sich unsere Leidenschaft gefunden hatte, drohte ich vorlauter Emotionen zu weinen. Dario so eng an mir zu haben, ihn und seinen Herzschlag wahrnehmen zu können und seine Arme, die mich gefangen nahmen und nie mehr loslassen wollten, zeigten mir, dass er doch noch hier war.
Er war hier bei mir. Er lebte, atmete und küsste mich. Es war ganz anders, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.
Ich dachte immer, Dario sei der grobe, besitzergreifende Typ, doch er war so sanft und vorsichtig. Er hielt mich, als könnte ich unter seinen Berührungen zerbrechen oder zerfallen.
Er rang um keine Dominanz, was ich mir niemals gedacht hatte. Ich wusste nicht, ob das gerade an der ganzen Situation lag oder nicht, aber er gab mir das Gefühl, er habe Angst, dass ich es mir anders überlegen könnte.
Aber niemals. Keine Sekunde, keinen Kuss lang regte sich auch nur einmal der Gedanke in mir, mich von ihm zu lösen und ihn allein hier zurückzulassen. Es war zu schön. Es war atemberaubend und auf eine seltsame Art und Weise erfrischend.
Ich war froh, ihn im Badezimmer abgewiesen zu haben, denn sonst hätten wir diesen Moment wahrscheinlich nie erleben können.
Vorsichtig, meine Miene und Reaktion prüfend, drehte er mich langsam schräg unter sich, mein Rücken sank in die gepolsterte Rückenlehne.
Ein sanftes Lächeln war alles, was ich zustande brachte, denn sein Gesicht haltend, kannten meine Hände nur eine Richtung. Und zwar in meine.
Ich führte seine grünen, dunklen Augen an mich heran, sah tief in ihnen, wie ich sehr meine eigenen leuchteten und Wärme ausstrahlten.
Ihn ein letztes Mal küssend tanzten meine Fingerspitzen in einem langsam, federleichten Tempo seinen Nacken auf und ab, bevor sie in seinen Haaransatz eintauchten und dort ihr zu Hause gefunden hatten.
Ich wollte nichts Anderes mehr spüren. Ich flog. Irgendwo im All schwebend, streckte ich meine Arme von mir und grinste in mich hinein. Das durfte nie mehr enden. Er durfte nie mehr gehen.
Doch empfand er dasselbe? Das Dunkle in seinem Blick schwand, sein sanfter Blick verlor an letzter Stärke und sank. Er mied meinen, der das komplette Gegenteil ausstrahlte.
«Ich möchte dich nicht verletzten», gab er, kaum hörbar, von sich und erhob sich langsam von mir. «Ich werde dir nur wehtun.»
Er setzte sich auf und sah auf mich herab, die noch immer dalag und deren Körper mit der plötzlichen Kälte, die auf sie niederprasselte, erstmals wieder klarkommen musste.
Meine Finger vermissten ihr zu Hause, die weichen, warmen Locken und der kurze Haaransatz, der zum Streicheln fein war. «Ich werde dich wieder anlügen und enttäuschen.»
Die Uhr hinter Dario schlug 5. «Das verdienst du nicht.» Ich kämpfte mich auf und fand mich nahe vor ihm sitzend wieder.
«Und du verdienst es nicht, deswegen allein zu sein.» Ich wusste, worauf ich mich einließ. Dario hatte mich in der letzten Woche oft angelogen.
Er verbarg Dinge vor mir, doch ich wusste es. Er schützte sich selbst vor anderen. Was er nicht kapierte, war, wie sehr ich dazu bereit war, von ihm angelogen zu werden, wenn es für ihn bedeutete, sich besser zu fühlen.
Das klang dumm und selbstzerstörend, denn gesund war er für mich keineswegs, doch für ihn hatte ich diese Kraft, dies mit ihm zusammen durchzumachen.
Ich war dazu bereit, für ihn und seine Besserung zu kämpfen. Und selten fiel ein Kampf ohne Wunden aus. Er musste verstehen, wie willig ich war, für ihn verwundet zu werden. «Und es ist okay», atmete ich.
Meine Nasenspitze streifte seine. «Du darfst mich verletzen.» Er schüttelte seinen Kopf und wollte aufstehen, doch ich packte seine Hände, zwang ihn dazu, bei mir zu bleiben. «Und enttäuschen kannst du mich nur, wenn ich das zulasse. Egal, wie oft du von vorn anfangen musst oder ein Versprechen brichst, ich werde dies nie als Enttäuschung wahrnehmen, denn das alles ist Teil deines Weges.»
«Du sagst das jetzt alles, aber du wirst es dir anders überlegen, wenn ich immer und immer und immer wieder Scheiße baue. Ich werde nie mehr gesund, Noè. Ich will dich nicht auch krank machen.»
Das spielte keine Rolle, denn ich war sowas von bereit dazu, dies in Kauf zu nehmen. «Warum schreibst du dein Ende vor, wenn im Laufe deiner Geschichte ein ganz anderes zustande kommen könnte? Wer sagt, dass es dir nie mehr besser gehen wird?»
Daraufhin hatte er keine Antwort, denn alles, was er auf die Reihe bekam, war ein schwaches Schulterzucken und ein schweres Seufzen.
Ich machte es ihm schwer, mich wegzuschieben, weil ich mir sicher war, dass er sich so nur noch mehr zu zerstören versuchte.
Seine Dämonen befahlen ihm, langsam zugrunde zu gehen und das am besten allein, umgeben von reiner Leere. Sie zogen ihn immer tiefer ins schwarze Loch hinunter, bis er die Kraft zu atmen und kämpfen verlieren würde und wir um ihn herum keinerlei Möglichkeiten mehr hatten, ihm helfen oder ihn aufbauen zu können.
Sie versuchten ihn so sehr zu quälen, bis er nur noch einen einzigen Ausweg als Erlösung anerkannte. Und dieser Ausweg, war, was mich davon abhielt, ihn jetzt flüchten und mich wegschieben zu lassen.
«Hey, lass etwas schlafen, okay?», streichelte ich seine Wange und befreite seine Augen von den schwarzen Locken. Er nickte, auch wenn nur zögerlich.
Wir machten es und eng aneinander liegend wieder auf dem Sofa bequem.
Und eigentlich hatte ich nicht eingeplant einzuschlafen, denn ich hatte Angst, Dario würde doch das Weite suchen, doch seine Nähe und sein Atmen, das leider nicht gleichmäßig und ruhig war, ließen mich schneller einschlafen als erhofft.
Was ich noch wahrnahm, war wie Dario mit meinen Fransen spielte und sie immer wieder um seine zitternden Finger wickelte. Ich wusste, dass er meine schlafende Miene beobachtete und ich konnte spüren, ich wusste es einfach, wie er sanft und schwach, beinahe traurig lächelte.
Ihn bei mir zu haben, war, was mich endlich entspannen ließ. Ich konnte meine Augen schließen, ohne mich wundern zu müssen, wo er war, ob er wirklich da war, wo er sein sollte und was er tat.
Und jetzt war er hier, genau neben mir, seine Brust hob sich unter meiner Hand an und sank dann wieder. Er war sicher.
Ob er schlafen konnte, wusste ich nicht, doch er schien unruhig. Ich lag nicht sehr komfortabel, weshalb der Lockenkopf mich langsam in die Rückenlehne des Sofas einkuscheln ließ und mir mein Haar, das sich aus meinem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr strich.
Die kühlen, wunderschönen Lippen, die meine Stirn berührten, zauberten mir selbst im Halbschlaf ein Lächeln auf meinen Mund.
Von ihm berührt zu werden, war, wonach ich mein ganzes Leben lang gesucht und jetzt endlich gefunden hatte.
Ich suchte nach seiner Hand. Ich wollte sie halten, doch alles, was ich fand, war ein Kissen, welches eben noch von ihm warmgehalten wurde.
Ich hörte unsere Haustür zufallen und setzte mich langsam und verschlafen auf.
Das war, wovor er mich gewarnt hatte. Doch es tat nicht weh. Ich war nicht enttäuscht.
Alles, was ich verspürte, war Besorgnis. Ich zückte mein Handy und begann zu tippen: «Pass auf dich auf <3»
Denkt ihr, würdet ihr mit Dario klarkommen?
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