24. Kapitel
Ich hob meine linke Hand an. Also, nur so weit, wie es diese leicht gepolsterten Handschellen zuließen.
Ich war an der Bank hier im Flur von der psychiatrischen Abteilung festgekettet worden, weil ich vielleicht oder vielleicht auch nicht mehrmals versucht hatte, mich vom Acker zu machen.
«Happy?», fragte ich etwas genervt und schaute rüber zu Noè, die gegenüber von mir saß und mit mir zusammen wartete, bis Amallia mit dem Arzt fertig war. Noè seufzte und rieb sich nervös über die Oberschenkel. «Nicht happy, aber etwas erleichtert.»
«Dein Ernst jetzt?! Die haben mich hier festgekettet!» Sie zuckte nur mit den Schultern und lächelte unbeholfen. «Es ist das Richtige. Du bist suizidal.» Ich ließ mich zurück gegen die Wand fallen und lehnte seufzend an ihr an.
Neue Notiz an mich: Wenn du dir das Leben nehmen willst, sag es niemandem, Dario.
«Das, was du hier machst, ist nicht richtig, Noè. Du versaust alles. Nach der ganzen Sache hier, werden wir uns wahrscheinlich nie mehr sehen.» Sie verzog ihr Gesicht und gähnte gleichzeitig, weil wir schon mehr als 20 Stunden hier waren.
So lange hatte es gedauert, bis man Noès Geheule am Empfang ernst genommen hatte und um ehrlich zu sein, war ich schon vor 12 Stunden einmal hier gesessen, aber hatte es dann rausgeschafft.
«Lieber sehe ich dich nicht mehr, anstatt dein verdammtes Grab besuchen gehen zu müssen.» Ich lachte leise auf und schüttelte meinen Kopf. «Als ob ich ein Grab bekäme...»
Noè ging nicht auf mich ein und schaute den Flur runter, wo ein kleiner Mann im Kittel mit einer Frau aus dem Zimmer kam. Ich wusste, dass sie nichts verstehen konnte, doch ich konnte heraushören, dass es um eine Entlassung und Medikamente ging.
Der einzige Grund, warum ich hier so ruhig saß, war, weil die mir eine Spritze in den Oberschenkel gejagt hatten, die mich beruhigen sollte. Endlich konnte Noè sehen, wie mental kranke Leute behandelt wurden.
Selbst hier in Italien galt ich offiziell als verrückt. Entscheidungen durfte ich keine mehr treffen. Kontrolle hatte ich keine mehr. Verdammt, ich trug Handschellen. Und mir wurde was gespritzt, von dem ich keinen Schimmer hatte, was es eigentlich war.
«Es tut mir leid, dass du das jetzt durchmachen musst, aber es ist wichtig für deine Zukunft. Du wirst irgendwann hier zurückblicken und darüber lachen.» Ich verdrehte meine Augen. «Ich kann jetzt schon darüber lachen. Die Einzige, die es kaum verkraftet, bist du. Du zitterst am ganzen Körper und pisst dich gleich ein. Du hast um einiges mehr Angst davor, was nun mit mir passieren wird, als ich es tue.»
Sie biss sich auf der Unterlippe rum und mied meinen Blick. «Du wirst hier sein, bis du wieder stabil genug bist, um zurück nach Marble zu fliegen.» Ich schmunzelte, sagte aber nichts mehr.
Wenn Noè das so wollte... Meine Güte, dann konnte sie das so haben. Mein Handeln war eh noch nie in meinen Händen gelegen. «Lio, ich liebe dich. Das weißt du.» Ich seufzte und atmete tief ein und aus. «Liebst du mich oder die Tatsache, dass man mich noch retten könnte?»
Ich fand ihre Augen und sie begannen zu tränen. Sie schüttelte den Kopf und strich sich die Haare hinter die Ohren. «Wieso holst du immer den Tod meiner Mutter mit dazu?!» «Weil du seit ihm an meinem Leben klebst. Du bist nicht mehr dieselbe Noè. Du verlierst dich.»
Sie schmunzelte halb weinend und deutete auf mich. «Ich wollte auch vor dem Tod von Mom bei dir sein und dir helfen.» Ich richtete mich auf und zog ein Knie an meine Brust, um mein Kinn drauflegen zu können. «Ich weiß... Und deswegen fühlst du dich auch schuldig. Und wenn du mich nicht mehr reparieren kannst, hast du den Suizid von deiner Mutter für rein gar nichts übersehen. Du machst das alles längst nicht mehr für mich.»
Ich legte meinen Kopf schief. «Und es tut mir leid, aber ich will nicht gerettet werden. Wenn ich es wollte, wäre ich bestimmt schon mehrere Monate clean und selbständig in einer Klinik in Marbelhead.»
Noè konnte mich nicht verstehen. «Wieso nicht? Wieso willst du nicht?!» «Wofür?» Sie stockte und sah mich verständnislos an. «Was wofür?! Gibt es denn nichts, was du erreichen willst oder wofür du kämpfen möchtest?» «Ich will Ruhe. Ich möchte, dass es aufhört.» «Dann nimm Hilfe an!»
Ich wusste nicht, was ich kontern konnte. Ich meine, Noè ergab Sinn und ich wusste auch, dass ich es nur mit Hilfe schaffen würde, doch ich war so müde und lustlos. Ich wollte es gar nicht mehr versuchen. «Dario, mit deinem Tod tötest du mich. Wenn du gehst, werde ich dir hinterherkommen.» Sie sah mich todernst an.
«Bluff nicht.» «Unterschätze mich nicht. Aber wenn ich dich verliere, brauche ich morgens nicht mehr aufzustehen. Wofür auch?» Ich sah sie einfach nur an und versuchte, ihren Ausdruck zu lesen.
«Du brauchst genauso Hilfe, Noè. Das, was du von dir gibst, ist mindestens genauso suizidal, wie meine Worte von gestern früh...» Sie schwieg und dachte wahrscheinlich nach.
Aber es stimmte. Noè brauchte Hilfe und ich wusste, dass sie sie annehmen konnte. Wenn es jemand tun konnte, dann sie. Sie war schlau und stark genug. «Ich arbeite mit Kelly daran.» «Gut, bleib dran.»
Sie verdrehte ihre Augen und stand auf. Sie setzte sich zu mir auf die kleine Bank und lehnte ihren Kopf an meiner Schulter an. «Das alles ist einfach so verdammt abgefuckt. Es ist alles außer Kontrolle geraten.» «Nein... Ist es noch nicht.»
Sie wollte nachfragen, was ich meinte, doch ein gestresster Marco kam den Flur runter gejagt und im Schlepptau hatte er die liebe Kelly. Beide übermüdet und viel zu warm angezogen für Tropea.
Mir fiel es schon mein ganzes Leben lang schwer, Stress und allgemein Angst beschreiben zu können, doch ich denke, Marco verkörperte beides perfekt. Er kniete sich vor Noè und langte nach ihren Wangen. «Hey, Mäuschen. Alles okay?» Sie nickte erschöpft und sah dann zu Kelly, die mich anschaute.
Als ich das bemerkte, konnte ich nicht anders, als kleiner zu werden. Ich mied jedes verdammte Augenpaar, das meines suchte. Auch Marco blickte zu mir und fragte nach, ob alles okay war, doch... Ich wollte nichts sagen. «Haben dir die Ärzte schon was gegeben? Weißt du, was es war?»
Ich zuckte nur mit den Schultern und regte mich innerlich darüber auf, dass Noè alles raushaute. Sie erzählte ihnen alles. Wieso hinterging sie mich? «Sie haben ihm was gespritzt, damit er ruhiger ist.»
Kelly bemerkte die Handschelle und verzog das Gesicht. Dasselbe war vorm Einweisen in die Geschlossene in Amerika passiert. «Hat er sich was angetan?» «Seit sicher einer oder zwei Wochen nicht mehr.» Marcos Kopf knallte hoch. Er schaute Noè verwirrt an. «Du hast mir am Telefon gesagt, dass es gut läuft.»
Sie presste die Lippen fest aufeinander und ihre Augen wurde wieder glasig. «Ich dachte, ich habe es im Griff.» Kelly seufzte und verschränkte die Arme auf der Brust. «Noè, du bist keine Ärztin.» «Ich weiß! Aber ich war der Meinung, ihm hier helfen zu können. Doch es wurde alles nur noch schlimmer. Ich weiß nicht mehr weiter! Ich habe Angst!» Sie begann sich wieder in das Ganze hineinzusteigern.
Ich hasste es. Ich hasste mich dafür, sie in solche Rage zu bringen, doch zugleich hasste ich auch sie, weil sie mich einfach aufgab. Ich hatte tatsächlich gehofft, sie würde bleiben.
«Dario, es ist klar, dass die letzten Wochen einiges passiert ist. Darf ich mit euch beiden zusammen reden? Erzählt mir, was im Moment los ist.» Ich schüttelte meinen Kopf. «Gibt nichts zu erzählen. Das Übliche.»
Noè stand auf und langte nach der Hand ihres Vaters, der uns beide schon seit einigen Minuten musterte. Als er Noè zum ersten Mal stehen sah, zog er scharf Luft ein. Keine Ahnung, wieso. «Noè! Du- Du hast extrem viel abgenommen!» Er langte nach ihren Unterarmen und strahlte Sorge aus.
Sie trug ein weites Shirt und Shorts. Ich schaute mir nur ihre Beine an und zum ersten Mal fiel mir auch auf, dass sie dünner war. Meinetwegen? Der Stress? Sie winkte ab. «Ist nicht schlimm. Ich habe immer gegessen. Ich bin einfach etwas gestresst.»
Kellys Augen lagen auf mir und ich schluckte die Schuld verkrampft runter. Meine Faust zitterte und ich konnte spüren, wie mich eine Hitze einnahm, die ich so verdammt krass hasste, dass es mir nur noch heißer wurde.
«Wie wärs, wenn du, Noè und ich uns mal kurz zusammensetzen?» Ich schloss meine Augen und verneinte. Gleichzeitig hob ich meine Hand an und deutete auf die Handschelle, «Komme hier nicht wirklich weg.»
Kelly ignorierte mich und bat Marco darum, etwas auf Abstand zu gehen, doch der Mann blieb stur bei Noè, die Tränen verlor. Ich konnte sie nicht mehr anschauen. Dass es ihr so ging, war meine Schuld. Ich hatte monströsen Mist gebaut. Sie hing an einem toten Jungen. Sie hielt sich an einer Leiche fest und traute sich einfach nicht, sie loszulassen.
«Es ging anfangs saugut. Wir hatten es echt im Griff, bis an dem Abend, wo du mit ihm telefoniert hast. Wir haben uns falsch verstanden und Dario hat sich selbstverletzt und von mir distanziert.» Sie zeigte auf meine mittlerweile gut verheilte Schulter.
Kelly sah mich wissend an. Sie wusste ganz genau, welcher Abend gemeint war. «Und später ging alles den Bach runter.» Ich biss mir auf meine Unterlippe und riss einmal an der Handschelle. Ich wollte hier weg, doch so doll ich auch an ihr zog, lösen würde ich mich nicht können. «Stopp!», warnte ich Noè und sah ihr giftig entgegen.
Sie zuckte zurück und Marco legte einen Arm um ihre Schultern. «Nein, sie müssen es wissen!» Sie schaute zu Kelly und begann zu schluchzen. «Er hat nach einem Messer gegriffen und wollte sich umbringen! Er- Er wäre nicht mehr hier, wäre ich nicht dazwischen gegangen!» Marco bemerkte Noès kleine Schnitte an ihrer Hand und schaute dann unsicher zu Kelly.
Diese schaute wieder einfach nur mich an. Sie war enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass ich keine einzige ihrer Übungen oder Mantras befolgte.
Amallia kam mit dem Arzt raus und entspannte sich beim Anblick von Kelly und Marco. Ganz im Gegenteil zu mir. «Oh Gott. Zum Glück seid ihr da.» «War eine stressige Reise, aber jetzt sind wir da. Was meint der Arzt?» Meine Tante seufzte, «Dario weist kein aktives suizidales Verhalten auf, weshalb sie ihn nicht länger festhalten dürfen. Er hat keine offenen Wunden und hat gegen Ende auch kooperiert.»
Ich legte meinen Kopf schief und stieß die Luft aus. «Was eine Schande...», seufzte ich gespielt enttäuscht auf. Noè schaute mich böse an.
Ich wusste von Anfang an, dass sie mich nicht hierbehalten würden. Gestern, ja. Heute nicht mehr. Ich war wieder etwas klarer im Kopf. Kurz: Ich war keine Gefahr mehr für andere oder mich selbst.
«Okay, das ist okay. Wir fliegen morgen zurück und dort gehst du ins geplante Wohnheim, wo du mit anderen Jugendlichen leben wirst. So wie es von Anfang an geplant war.»
«Wieso?!» Der Arzt wollte mich von der Bank losmachen, doch mein bissiger Unterton stoppte ihn wieder davor. «Dario, du-» Ich konnte nicht glauben, dass die mich wieder an einen anderen Ort weiterschieben wollten. «Schon wieder ein neues Zuhause?! Dein ernst, Marco?!»
Er zuckte unbeholfen mit den Schultern. Es ging hier nicht nur um mich. Ich konnte ihm ansehen, dass es auch noch eine andere Absicht hatte. «Du brauchst ein organisiertes und sicheres Umfeld und ich will dich verdammt nochmal nicht mehr in der Nähe von meiner Tochter haben.»
Ich wurde noch nie direkt angeschossen, doch ich war mir sicher, dass sich so ein Schuss mitten ins Herz anfühlte. Noè wollte etwas einwenden. «Ich weiß, dass du ein guter Junge bist und dass Noè dir sehr wichtig ist, aber dein gutes Herz reicht jetzt im Moment nicht mehr, Dario.»
Er kam auf mich zu und kniete sich vor mich hin. «Du brauchst Hilfe. Professionelle Hilfe und-» Ich starrte ihm direkt in die Augen und krallte mich an ihnen fest. Den Hass, den ich in ihnen trug, brachte den Mann vor mir zum Schlucken und Räuspern.
Mein Blick trug Wut und Verabscheuung. Ich wusste, dass ich ihn gefährlich böse anschaute. Gerne. «Geh dorthin, werde wieder etwas stabiler und dann schauen wir weiter.»
«Dad, ich will das aber nicht.» Er seufzte und versuchte meinen stillen, einbrennenden Augen standzuhalten. Auf Noè ging er nicht mehr ein. «Ich kann sehen, dass du mich gerade abgrundtief hasst, und ich kann dich vollkommen verstehen, aber-»
Ich ließ meinen Kopf zur Seite fallen und forderte ihn so dazu heraus, fertig zu reden. Er stockte und rieb sich den Nacken. Er suchte die richtigen Worte. Doch was war im Moment das Richtige, was man mir sagen konnte?
Er entschied sich schlussendlich für die Wahrheit. «Ich kann dich nicht sterben lassen, Dario.» Er rieb sich die Augen. «Ich kann nicht.»
Schon wieder ein Tapetenwechsel für Dario... Und ein Noè-Entzug... Vielleicht ist ja auch das Richtige?
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