
24. Kapitel
Kein verdammter Tag verging, ohne, dass ich Dario eine Nachricht schrieb. Doch bekommen tat er sie eh nicht. Handy weg... Allgemein waren die Tage so verdammt lang, dass ich mich zum Kotzen schlecht fühlte und mir durchgehend schwindelig war. Fühlte sich so wahre Schuld an?
Taby hatte mich vorgestern krampfhaft aus der Hütte gezogen und ins Dorf geschleppt, damit ich wieder einmal etwas anderes machte, als mir Gedanken über mein Wiedersehen mit Dario zu machen.
Und heute... Na ja, Dad meinte eben, dass Dario mittlerweile komplett clean war und bis jetzt kein einziges Mal rückfällig geworden war, was in einer Geschlossenen aber auch nicht schwer war. Sie hatten einen durchgehend im Blick. Wie konnte man da konsumieren, ohne gleich gepackt zu werden?
Und ja. Er nahm bereits seit 10 Tagen ein neues Medikament, was anscheinend erste, positive Wirkungen zeigte. Sie hatten so schnell wie möglich nach einem passenden gesucht und so weit ich das mitbekommen hatte, sich für etwas sehr starkes, vor allem Gefühls-dämpfendes entschieden, damit Dario keine emotionalen Zusammenbrüche mehr erleiden musste - oder zumindest weniger fatale. Sprich, es gab für ihn kein Tief, aber auch kein Hoch mehr. Er wurde auf Deutsch gesagt neutral gestellt. Er lief im Leerlauf.
Bald durfte er wieder raus. Bald gleich morgen. Ich hatte Angst. Laut Dad ging es Dario körperlich um einiges besser. Er aß vereinzelt wieder und der Körper konnte sich nun langsam, gegen Ende seines Aufenthalts anfangen zu erholen, was die Drogen und so anging.
Doch mental machte er anscheinend keine großen Fortschritte. Kooperation fehlte ihm im Wortschatz. Kelly kam kaum mehr zu ihm hindurch und somit auch die ganzen Übungen, die ihm beim Klarkommen mit seinen Gefühlsausbrüchen helfen sollten, nicht. Ich meine, wie auch? Sie hatten den Jungen komplett betäubt. Klar, kam da kaum mehr eine Reaktion. Kurz und simpel: Er lebte. Nein, er überlebte.
Soweit ich mitbekommen hatte, hatte Kelly nun auch schon mit ihm über Harmony gesprochen. Sprich, es war kein Geheimnis mehr und was das alles mit ihm innerlich angestellt hatte, traute ich mir nicht vorzustellen. Wieder: Kontrolle. Sie war weg. Weg aus seiner Greifweite und vor allem aus seinem Leben.
Die letzten 13 Tage hatten mir Zeit gegeben, darüber nachzudenken, was es wohl sein musste, was Dario am meisten begehrte und es war einfach die verdammte Kontrolle, die er niemals hatte und haben durfte. Und in einer Geschlossenen schon gar nicht. Da drin werden einem alle Schutzkleider vom Leib gerissen, bis man nicht mehr kann und von allein um Hilfe bittet. Er hatte es aber nicht getan. Bei gewissen Dingen hatte er keine andere Wahl gehabt, doch bei Vielem war er standhaft geblieben, was ihm jetzt half, aber seiner Zukunft nicht.
Ja, er war nun clean und hatte weitere 7 Kilo zugenommen. Aber nicht, weil er das wollte. Clean war er nur, weil er keinen Weg fand, zu rauchen oder konsumieren. Und zunehmen tat er, weil man ihn dazu zwang zu essen. Ich war mir sicher, dass es Zwang war und man darauf hoffte, die innere Angst und den Reiz des Erbrechens so zu zerstören, aber ob sie zeitgleich am Trauma arbeiteten, wusste ich nicht.
Um es wieder einmal kurzzuhalten: Ich hatte das Gefühl, sie trieben seinen Körper weiter an, obwohl es der Kopf nicht hinterher schaffte. Oder nein. Den Kopf hatten sie ausgeschaltet. Besser konnte ich das nicht formulieren.
Eigentlich stand es mir nicht zu, über die Ärzte und Fachleute zu meckern. Schließlich war Dario dort drinnen, weil ich es auch nicht besser auf die Reihe bekommen hatte. Unser Wiedersehen... Ich hatte keine Ahnung, wie es ablaufen wurde. Sollte ich ihn überhaupt direkt besuchen gehen? Was, wenn ich ihn so wieder zur Weißglut trieb oder einen schlimmen Streit provozierte? Wollte er mich überhaupt noch?
Den Druck, den ich auf ihn ausgeübt hatte, hatte so viel angerichtet. Er musste meinetwegen in eine Geschlossene und dort drinnen das Mensch-Sein abgeben... Ich hatte einen Riesenmist gebaut. Wie konnte ich ihm, dem Jungen, den ich so verdammt fest liebte, sowas antun?
Ich zuckte zusammen. Dad kam nach Hause. Er war auf der Arbeit gewesen, was gleichzeitig auch hieß, dass er den Termin mit den Fachärzten in der Geschlossenen für Dario gehabt hatte. Er wusste, dass er mir alles erzählen musste, weshalb er sogar leicht grinste, weil ich wie eine gespannte und hoch interessierte 3-Jährige auf dem Sofa hockte und mit der Fernbedienung spielte. Ich war vorlauter Nachdenken nicht dazu gekommen, den Kasten einzuschalten.
«Er darf morgen sicher raus. Er hat enorme Fortschritte gemacht.» Echt? Stimmte das wirklich? Oder war das nur wieder ein Schauspiel von Dario? Er wusste, was er tun musste, damit sie ihn wieder gehenließen. Der Junge war zwar ein wortwörtlicher Sturm und unberechenbar, doch keineswegs dumm. Überhaupt nicht.
«Ich konnte ihn heute ganz kurz aus der Ferne sehen. Er sieht anders, vor allem wieder gesünder, aus.» Hatte er ihm denn auch die Augen schauen können? Die sagten viel mehr über seine Gesundheit aus als sein Körper, der dem Normalgewicht näherkam. «Ich glaube das Ganze erst, wenn ich von Dario selbst gehört habe, dass es ihm besser geht.» Dad zuckte nur mit den Schultern.
Er musste verstehen, dass ich misstrauisch war. Schließlich wusste ich, dass Dario gerne Masken trug. Manchmal war er der liebe Engel, der mit vollem Elan versuchte, immer das Richtige zu machen, dann gab es noch den Gleichgültigen, der weder anderen noch sich selbst irgendwie helfen wollte und zum Schluss gab es noch den gereizten, mit den Nerven am Ende und kochenden Dario, der anderen und sich selbst nicht nur nicht helfen wollte, sondern sie in gewisser Hinsicht sogar versuchte zu zerstören.
Plus, zwei Wochen in einer Geschlossenen waren zu kurz. Egal, für wen. Es war einfach zu kurz. Mal sicher für Dario. Zwei Wochen reichten, um ihn zu entgiften und unter Kontrolle zu kriegen, aber in den kommenden Wochen würden dann aber erst die ersten großen Hürden kommen: Clean bleiben, Dinge aufarbeiten und tiefer verarbeiten etc.
Und, dass sie ihn jetzt wieder rausließen, tat meinem Herzen vielleicht gut, doch meinem Kopf ganz und gar nicht. Und ich war nicht blöd. Sie ließen ihn nicht wieder raus, weil er Fortschritte machte, sondern, weil der Platz, den sie ihm gegeben hatten, jetzt für den eigentlichen Patienten gebraucht werden musste.
Sie hatten Dario mit Mühe und Not einweisen können, doch ohne fixem Bett und Aufenthalt. Er musste wieder raus, weil sie keinen Platz für ihn hatten und er in erster Linie nicht über Monate hinweg eingewiesen wurde.
Also schon wieder ein Wechsel für ihn. Zwei Wochen da, dann wieder paar Wochen hier und dann irgendwann ein wirklicher, langer Aufenthalt in einer Klinik oder Geschlossenen. Wenn überhaupt... Ein endloser Zyklus vom Hin- und Herschieben. Genauso, wie in seiner Kindheit. Vom einten verdreckten Haus, auf die Straße, dann ins nächste Haus, danach auf die Station und dann hin und her zwischen Station und Pflegefamilien, bis Santiago ins Spiel gekommen war und Dario endlich ein fixes Zuhause hatte.
Doch, an einem Ort zu bleiben, lag ihm doch gar nicht mehr. Das Geld bei Santiago, die Tabletten und Drogen im alten Haus von seiner Mom, Schulsachen auf der Station und Zuneigung und Sicherheit bei Giorgia im Zimmer.
So war Darios Zuhause aufgeteilt gewesen. Nicht anders. Und jetzt hatte er die Drogen nicht mehr, zur Schule musste er auch nicht mehr, Santiagos Geld auch nicht und letztens wurde er meinetwegen noch von Giorgias Zimmer weggerissen.
So wie ich es wahrnahm, schwebte Dario im Moment orientierungslos umher und hatte keine Ahnung mehr, was er machen sollte oder wollte. Ich musste irgendwie die ganze Nacht darüber nachdenken.
Kein verdammtes Auge hatte ich zugekriegt, aber wenigstens hatte ich so gefühlt länger Zeit gehabt, um mich auf den nächsten Morgen vorzubereiten. Es war Samstag. Zwei Wochen von heute, hatte ich Dario in die Geschlossene gedrängt und um ehrlich zu sein, wusste ich mittlerweile nicht mal mehr, ob wir noch zusammen waren oder nicht.
Seine letzten Worte, die er über mich gesprochen hatte, hatten sehr viel Abscheu und Schmerz in sich getragen. Es würde mich nicht überraschen, wenn ich nie mehr etwas von ihm hören würde. «Nervös?» Ich nickte und band mir mein Haar zu einem Zopf.
Ehrlich, die letzten zwei Wochen waren der Horror gewesen. Ich war zwar nicht allein gewesen, hatte mich aber so gefühlt. Jetzt immer noch. Kelly war öfters hier gewesen und hatte mit mir geredet, doch egal wie sehr ich sie über Dario ausgefragt hatte, eine Antwort hatte ich nie bekommen.
Doch heute... Vielleicht würde ich ihn heute wieder sehen. Ich meine, er wurde entlassen. Innerlich hoffte ich sogar, dass er sich bei mir melden würde, doch na ja... «Du musst nicht nervös sein.» Ich zuckte mit den Schultern. Ich war nicht mehr und nicht weniger nervös, wie die letzten 14 Tage.
Das Herz in meiner Brust war schwer. Es rackerte sich mit letzter Kraft durch den verdammten Tag hindurch und als ich sah, dass meine Nachrichten endlich gelesen, aber nicht beantwortet wurden, brach es in zwei Hälften.
Er war draußen, doch noch immer außer Reichweite. Für mich zumindest. Vielleicht war es ja auch etwas Gutes, oder? Vielleicht brauchten wir diesen Abstand, aber ich wollte nicht so von ihm wegtreten: zerstritten und bis zum Rand nach oben gefüllt mit Schuld.
Wenn es ein Ende nehmen musste oder wir eine Pause einzulegen brauchten, wollte ich das auf guter Ebene machen. Nicht so, wie wir auseinandergegangen waren. Ich wusste, dass es naiv und obsessiv von mir war, doch ich schrieb ihm. Wie immer. Ich rannte ihm endlos hinterher.
Ich sah langsam ein, dass ich verdammt doll an ihm hing. Klar, hing man an der Person, in die man verliebt war, doch er war so ziemlich das einzige, worüber ich mir richtige Gedanken machte. Vor allem seit Moms Tod. Ich klammerte mich an ihm und seinem Leben fest, weil ich von meinem nichts mehr wahrnehmen wollte und das war genauso gesund, wie sich täglich Tabletten reinzuhauen oder Alkohol zu trinken.
«Können wir reden?» Zwei Häkchen. Ich hatte es getan und ihm geschrieben, aber die Furcht vor unserem Aufeinandertreffen war riesig. Ich wusste, dass wir darüber reden und klar kommunizieren mussten, was im Moment richtig war und was jeder allein für sich brauchte.
Ich weiß, wonach es klang. Und das tat es auch zurecht. Es klang nach dem Ende unserer Beziehung. Ob es jemals eine weitere geben würde, wusste nur die Zukunft. Aber im Moment schien es mir doch am sinnvollsten, einander Zeit und Raum zu geben, bis wir wieder wussten, wer wir waren, was wir wollten und wieso wir hier waren.
«Marble. 15 Minuti.» Immerhin. Eine Antwort. Mein Herz begann zu rasen. Und obwohl, ich mich auf meine andere Hälfte zubewegte, vergingen diese 15 Minuten viel zu schnell. Ich war noch nicht bereits dazu. Vor allem... Was würde dieses Gespräch mit ihm anstellen? Ich wollte seinen Fortschritt nicht wieder vernichten. Nicht so, wie ich es sonst immer getan hatte.
Ich war vor ihm da und hüpfte auf einen Stein, um aufs Meer hinauszuschauen. Die Sonne schien und ließ den letzten Schnee schmelzen. Es war erst Anfangs Februar, doch der Frühling war nicht mehr weit entfernt. Das war hier immer so. Ich traute mich nicht, mich direkt umzudrehen, als ich Schritte hörte. Ich blieb so stehen und biss mir verkrampft auf meine Unterlippe, als die Schritte hinter mir verstummten. Er war hier.
Innerlich auf drei zählend, drehte ich mich um und sah ihm entgegen. Ein Blick voller nichts. Gleichgültigkeit und Langeweile. Mehr nicht. Mehr war in seinen Augen nicht zu sehen. Die Nasensonde war weg und die Augenringe auch. Seine Wangen waren etwas voller und die Haut nicht mehr so blass. Er sah eigentlich wirklich gesünder aus, wenn da nicht dieser verdammte leere Blick wäre.
«Hi», kam es leise von mir und Dario verstaute seufzend die Hände in seinen Hosentaschen, bevor er näher an mich herantrat. «Hi.» Ich verlor ein trauriges Lächeln. Es fühlte sich an als stünde eine dicke unüberwindbare Wand zwischen uns. War Dario überhaupt hier? Er sah nicht so aus...
Er trug einen Pullover. Wie immer. Die dunkelgraue Jeans stand ihm und seine dreckigen und halb kaputten Vans waren durch neue ersetzt worden. Vans im Winter. Dario halt. «Ich wollte dich nie unter Druck setzen.» Er nickte und schaute kurz hinter mich aufs Meer. «Hast du aber», konterte er monoton und sah mir dann wieder in die Augen.
«Das tut mir sehr leid. Ich wollte dich nie so weit treiben, dass sie-» «Hast du aber, Noè.» Diese Kälte drohte mich zu töten. Wieso war er so anders? Ich kannte ihn so nicht. Wo waren die Emotionen hin, die er nie zu verstecken gewusst hatte? Waren das die neuen Medikamente?
«Ich weiß. Es tut mir leid und ich habe die letzten zwei Wochen realisiert, dass ich im Moment nicht gut für dich oder allgemein andere Leute bin.» Ein neutraler Blick. «Vielleicht-» Ich musste schwer schlucken. «Vielleicht brauchen wir eine Pause... Also, ich meine, die Beziehung war in erster Linie schon verdammt riskant, als ich noch einigermaßen okay war, aber seit dem Tod von Mom bin ich kaum mehr ich selbst und das habe ich an dir und anderen rauslassen.»
Dario schwieg. «Wir sollten fürs Erste vielleicht einfach Freunde bleiben und erstmals schauen, dass wir unseren eigenen Kram in den Griff bekommen. Ich meine, du hast jetzt die besten Voraussetzungen dafür und da will ich dir nicht im Weg stehen. Plus, ich muss das ganze mit meiner Mom auch nochmals aufarbeiten und dann einigermaßen verarbeiten.» Es fiel mir schwer, mehr zu sagen. Und Dario machte es mir nicht einfach.
Er nickte nur und rieb sich dann einmal übers Gesicht. Die erste verdammte Geste heute, die mir zeigte, dass es wirklich Dario war, der vor mir stand. «Klingt sinnvoll. Die packen mich eh bald wieder in die nächste Klapse.» Darauf hatte ich keine Antwort, doch ich zuckte dann einfach verloren mit den Schultern, weil es doch verdammt wehtat, loszulassen. «Wir können uns dann ja trotzdem noch ab und zu sehen...»
«Mhm», kam es von ihm und er befeuchtete sich die Lippen. Tat es ihm nicht weh? Was für Chemikalien warfen sie ihm bitteschön ein, dass er so wurde?! «Weißt du, du bedeutest mir noch immer genauso viel wie ganz am Anfang», versuchte ich ihm klarzumachen, damit es ja nicht so rüberkommen würde, als wolle ich diesen Weg freiwillig gehen. Ich wollte ihn mit ihm gehen, aber die Gefahr, hier alles in die Luft zu jagen wuchs immer weiter an.
Wieder nur ein Nicken und er schaute kurz um sich, bevor er noch etwas näherkam. «Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Die Pause ist das Richtige. Was danach kommt, werden wir ja sehen. Vielleicht soll es auch einfach nicht sein.» Und mit diesen Worten ging er wieder.
Richtige Entscheidung?
Was haltet ihr von Darios Auftreten?
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