23. Kapitel
Dads Stimme war, was mich aufweckte. Sie war laut, gefüllt mit Stress und Sorge und nach einem Blick auf mein Handy hatte ich dann auch realisiert, dass etwas passiert sein musste, wenn mein Vater um 3 Uhr morgens wie ein wild gewordenes Huhn durchs Haus jagte und ich ihn bis in mein Zimmer hören konnte.
«Ist Rosie informiert? Und Giorgia? Santiago muss auch informiert werden!» Ich setzte mich auf und strich mir verschlafen meine Haare aus dem Gesicht und anschließend meine Augen.
«Rosie ist bereits bei ihm. Giorgia wird erst informiert, wenn wir mehr wissen, um ihr nicht unnötig Angst machen zu müssen und Santiago ist momentan in Italien. Der Zeitunterschied macht ihn unerreichbar, aber ich werde daran arbeiten.» Moms Stimme.
Ich hörte, wie Dad die Schlafzimmertür zuschwang und hastig den Flur runter hetzte. Er trug bereits Schuhe, was die Lautstärke seiner Schritte erklärte.
Was war verdammt nochmal los? Vorsichtig wagte ich es, meinen Eltern nach unten zu folgen. «Okay, gut. Und weiß man schon mehr?»
Ich schaute schüchtern hinter einer Ecke hervor und sah meine Eltern vor der Eingangstür stehen. Mom auch noch im Pyjama.
«Sein Körper konnte nicht mehr mithalten. Er hat sich wieder rausgeschlichen und war unterwegs und Rosie meinte, sie mussten seinen Magen pumpen. Er hat sich Pillen eingeworfen und darauf getrunken. Anscheinend nicht gerade wenig.»
Dads Seufzer und das langsame Kopfschütteln zeigten mir, wie sehr er sich Sorgen machte.
Es ging hier um Dario, oder? Verdammte Scheiße, was hatte er getan? Warum hatte er sich Pillen eingeworfen? «Weiß man, ob er-»
«Es war kein Suizidversuch, Marco. Er ist nicht suizidgefährdet und hat auch noch nie den Anschein gemacht. Darios Körper kann im Moment allgemein nicht mehr mithalten. Die Drogen haben es ihm nur noch schwerer gemacht.»
Aber Dario meinte doch, dass er nicht feiern gehen würde. Ich dachte, er ginge nur zu Gio. Hatte er mich angelogen? Aber warum?
«Okay, ich fahre jetzt zu ihm ins Krankenhaus. Ich werde mich bei dir melden, wenn ich mehr über seinen Zustand weiß, okay?» Dad verabschiedete sich mit einem schnellen Kuss und verschwand dann draußen in der Dunkelheit.
Und mein Versteck verlor an Wirkung, als Moms Augen meine trafen und sie schnell auf mich und meinen angsterfüllten Blick zukam. «Was ist passiert? Warum hat er Pillen genommen?»
Sie umgriff meine Schultern und sah mich liebevoll und mit einer Art Ruhe an, die sich langsam in meine Adern schlich und meine Glieder etwas entspannen ließ.
«Ein Kollege von Dario hat den Krankenwagen gerufen, weil Dario zusammengebrochen ist. Der Hauptgrund war sehr wahrscheinlich seine Unterernährung, aber man hat auch Drogenkonsum festgestellt, weshalb sein Magen zur Sicherheit gepumpt wurde. Er ist jetzt mit Rosie im Krankenhaus und er wird sicher wieder.»
Ich schluckte. «Kann ich zu ihm?» Ein Kopfschütteln. «Er wird jetzt wahrscheinlich gar nicht ansprechbar sein. Vielleicht morgen Mittag, okay?»
Froh, darüber, dass meine Mutter kein Biest war und mir nicht alles verheimlichte und verbat, nickte ich und schritt etwas wackelig auf den Beinen einen Schritt zurück Richtung Treppen.
Aber Dario und ich hatten noch geschrieben. Er hatte so gute Laune und schien offen und gesprächig. Warum hatte er nach Pillen und Alkohol gegriffen?
Oder hatte er das bereits vor unseren Nachrichten getan? War er genau deswegen so guter Laune gewesen?
Hatte ich ihn heute zu sehr unter Druck gesetzt? War es meine Schuld gewesen?
Oder nein, stopp! Ich brauchte jetzt nicht anfangen, mich selbst und meine Taten zu hinterfragen, denn hier ging es eigentlich gar nicht um mich und meine Komplexe. Es ging um Dario.
«Und informiert ihr seine Mutter?» Meine Mutter hörte kurz auf zu atmen und sah mich dann etwas verkrampft an. Was hatte ich verpasst?
«Samantha wurde vorgestern eingewiesen. Unfreiwillig. Dario weiß das aber nicht, also shh.» Sie hielt ihren Zeigefinger an ihre Lippen und alles, was ich wieder einmal zustande brachte, war ein einfaches Schlucken. Mehr nicht.
Es nervte mich, so lange warten zu müssen, bis ich mehr erfahren können würde und vor allem sehen würde.
Ich hatte die letzten Stunden versucht zu schlafen. Bei vielleicht knapp 3 davon hatte ich es hinbekommen, aber ich mir juckte es unter den Fingernägeln, mehr über Dario und seinen Zustand zu erfahren.
Das Einzige, was wir von Dad zu hören bekommen hatten, war, dass Dario schlief und aus diversen Gründen die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses hinzugeholt wurde.
Mom fuhr, da ich zu nervös war und die Zeit, die ich brauchte, um Darios Zimmer zu finden, hätte benotet werden sollen, denn sie hätte meinen Notendurchschnitt definitiv wieder in die Höhe gezogen.
Dad wartete vor dem Zimmer und tappte nervös mit dem Fuß auf dem Boden rum. Seine Stirn lag in Falten und sein Blick war ernst und müde. «Hallo, Schatz. Geht es dir gut?»
Mom griff nach seiner Hand, als er sich von seinem Stuhl erhob. Die Rollläden waren unten, aber Licht schien durch sie hindurch. Rosie war bei Dario drinnen.
«Hey, ja. Nur- Es war eine lange Nacht. Der Junge wird hierbehalten, bis sie ein Bett in der psychiatrischen Abteilung freihaben.» Ich spielte mit meinen Ärmeln und biss unsicher auf meiner Unterlippe rum.
Sollte ich überhaupt hier sein? Gio wäre viel angebrachter. Dario hatte mich angelogen. Das sagte mir, dass er mir vielleicht gar nicht so sehr vertraute wie ich dachte und mich nicht in einer Situation wie dieser zu sehen brauchte.
«Wie geht es ihm allgemein? Ich nehme an, er ist nicht gerade erfreut darüber.» Dad lachte kurz auf und stimmte dann nickend zu. «Er ist alles andere als happy, aber auch sehr erschöpft.»
Ich konnte nicht wirklich mitreden oder war zu sehr von der Tatsache, dass Dario nur einen Raum weiter war, abgelenkt, weshalb ich einfach eintrat und ihn dann zu Gesicht bekam.
Er hatte sich in die andere Richtung gedreht, zog an seinen Ärmeln, die ihm anscheinend zu kurz waren und die ganzen Armbänder, die Pflaster abdecken sollten, nicht mehr vor uns verbergen konnten, und er schob, was auch immer für einen Smoothie man ihm gebracht hatte, zur Seite.
Rosie bemerkte mich zuerst. «Noè?» Und da drehte er sich zu mir. Sein Gesichtsausdruck strahlte Verwirrung aus und meiner nahm an Schocktage zu. Sie hatten ihm eine Nasensonde eingeführt.
Mit einem dünnen, hellblauen Klebestreifen hatten sie den dünnen Schlauch, der aus seiner Nase kam, an seiner rechten Wange befestigt.
Er wurde also künstlich ernährt, um seine Werte wieder zu erhöhen. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Nasensonde zu Gesicht bekam. Auch Marla hatte für kurze Zeit eine gehabt, aber definitiv aus anderen Gründen als Dario.
Die Verwirrung wich aus seinem Blick und veränderte sich zu Scham. So kam es für mich rüber, aber ob ich ihn richtig las, wusste ich nicht.
Schließlich hatte ich es schon mal auf die Reihe bekommen, ihn falsch zu verstehen.
Sein Blick sank und er schob seine Arme unter die Decke, die, als ich näherkam, so aussah, wie eine Heizdecke.
«Normalerweise hätte ich dir was zum Essen mitgebracht, weil es im Krankenhaus nur Scheiß gibt, aber ich nehme an, das passt nicht wirklich, huh?» Ich zuckte unsicher grinsend mit meinen Schultern und Rosie schmunzelte anhand meines Auftretens.
«Kein Ding. Ich bekomme gerade mehr als genug.» Dario deutete augenverdrehend auf den dünnen Schlauch, der von seiner Wange weiter hinter sein Ohr ging und dann nach oben zu einem aufgehängten Beutel, der gefüllt mit, ich nehme an Flüssignahrung, die ihn mit allem nötigen vollpumpte.
«Wie schmeckt's?» Er zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung.» Stimmt, die Nasensonde ging bis in seinen Magen runter. Alles, was er also wirklich mitbekam, war wohl nur das unangenehme Gefühl eines Schlauches in sich drinnen.
Hier konnte ich nicht mitreden, ich wusste nicht, wie sich das anfühlte. «Und der?» Ich zeigte auf den noch unangerührten Smoothie.
«Den sollte er versuchen zu trinken, aber der Liebe sträubt sich.» Ich traute mich an Darios Bettrand, gegenüber von Rosie, die mich und Dario mit einem Blick, der mir nicht gefiel oder mich eher verdammt verunsicherte, beobachtete, zu setzen.
Schweigend langte ich nach dem hellgrünen Smoothie und roch daran. «Was hat der drinnen?»
«Wahrscheinlich was Verdorbenes. Riechen tut er grässlich.» Ich roch daran und lachte leise auf.
«Das nennt man den Geruch von gemixtem Gemüse und wahrscheinlich noch Proteine. Ich kenne mich da zu wenig aus.»
Vorsichtig, weil ich nicht wusste, was tatsächlich in dem Becher drin war, nippte ich daran und ließ die Flüssigkeit etwas in meinem Mund zergehen und schluckte dann.
«Ist definitiv nicht verdorben, aber lecker auch nicht.» «Wusste ich es doch.» Dario wandte sich an Rosie, die entsetzt dreinschaute. «Sie meinte, er schmeckt genial.»
Ihre Hände auf die Matratze fallenlassend atmete sie empört aus, «Mir schmeckt er.»
Dario nahm den Becher zu sich und gab ihn dann Rosie weiter. «Dann guten Appetit. Ich schenke ihn dir.»
Sie nahm ihn entgegen, aber nur, weil ihr der Grünäugige keine andere Wahl ließ.
Ich grinste in mich hinein und lehnte mein Kinn auf meinen Unterarmen auf, während ich Dario und Rosie beim Diskutieren zuschaute.
Dario schien mehr als nur eine Infusion bekommen zu haben und vielleicht fuhr der künstliche Energieschub bereits ein, denn ihn so wach und gesprächig zu sehen, war mir neu.
Obwohl, reden konnte er schon immer viel. Man musste nur wissen, wie man es aus ihm herausbekam.
Nur traute sich ja niemand mehr, irgendetwas zu sagen, weil ein falscher Versuch unschön enden könnte. Wutausbrüche oder ganzes Verschwinden waren bei Dario keine Seltenheit mehr.
Im Allgemeinen war der Junge vor mir eine Matheformel, die ich nie zu verstehen lernen konnte.
Aber versuchen würde ich es trotzdem und ich war mir sicher, Geduld würde sich schlussendlich auszahlen. Vor allem bei Dario.
Rosie stoppte in ihren Worten, als sie mich und meinen verträumten Blick zu bemerken schien, weshalb ich mich schnell selbst aus der Trance holte, bevor Dario es auch bemerken konnte.
Nur leider hatte es die liebe Rosalia bereits erkannt und tief in ihrem Kopf eingespeichert.
Sie lächelte mich zwinkernd an und erhob sich dann inmitten ihres neckischen Streits mit Dario, der nicht ganz verstand, warum er nicht mit ihr zu Ende streiten durfte.
«Deine Eltern sind noch draußen, oder? Ich geselle mich mal zu den beiden und schaue, was der momentane Stand ist. Baut kein Blödsinn, ihr zwei.» Sie zeigte vor allem auf Dario, der ihr den Smoothie hinterher hielt. «Nimm den mit.»
Kopfschüttelnd und luftig auflachend nahm sie den Becher entgegen und trank einen Schluck.
Und als sie den Raum verlassen hatte, fiel mein Blick wieder auf Dario, der mir schweigend entgegensah.
Er schluckte und verzog sein Gesicht. Das konnte nicht angenehm sein. Dieser Schlauch.
Und sicherlich tat ihm die Kehle auch weh, weil sie den Magen pumpen mussten. «Warum hast du mich angelogen?», fragte ich dann ganz leise und sanft nach, weil ich nicht wütend oder vorwurfsvoll rüberkommen wollte.
Ich sah zu, wie Dario schwer ein- und ausatmend tiefer in die Matratze sank und seinen Kopf in den Nacken legte. «Wollte dich nicht enttäuschen.» Mich? «Du warst so happy, nachdem ich diese dumme Gurke gegessen habe.»
Er lachte an die Decke blickend auf, doch ich hatte noch nie so ein unechtes, trockenes Auflachen zu Gesicht bekommen, wie das gerade. Und das Trockne kam sicherlich nicht nur von seinem gereizten Hals.
«Und du gibst dir ja allgemein so viel Mühe, mir zu helfen.» Er drehte seinen Kopf in meine Richtung und kam an der Nasensonde an, was ihn hustend zurückließ. «Und-» Weiteres Husten.
Ich hielt ihm sein Wasserglas hin, das auf dem kleinen Tablett neben seinem Bett stand, doch er wies ab und rieb sich kurz seine Augen. «Bei den anderen ist es mir irgendwie egal, weißt du? Aber dich möchte ich nicht enttäuschen. Du glaubst so sehr daran, dass alles wieder gut werden kann. Ganz egal, worum es geht. Ich wollte dir diesen Glauben nicht nehmen, in dem ich dir sage, wie sehr mich diese dumme Gurke belastet hat.»
«Aber, genau sowas müsstest du mir oder sonst jemandem doch sagen. Ich meine, es ist doch klar, dass dich sowas belastet. Schließlich ist dein Trauma alles andere als harmlos.»
«Nenn es bitte nicht Trauma. Es gibt andere, die Schlimmeres erlebt haben. Die haben ein Trauma. Nicht ich.»
Ich schloss meine Augen und schüttelte meinen Kopf. «Dein Vater hat dich so lange vergiftet, bis du nicht mehr essen konntest. Das ist schlimm, Dario.»
Mich auf die Matratze setzend, konnte ich hören, wie Mom sich draußen von Rosie und Dad verabschiedete, um sich zu Dario und mir zu gesellen.
Auch er hörte es und sah mich beinahe schon flehend an, das Thema fallen zu lassen, denn im Moment wusste noch niemand anderes als ich von dem Grund seiner Essstörung.
Die Tür ging vorsichtig auf und Mom trat leise ein. So als hätte sie Angst etwas zu unterbrechen, aber dies war nicht Fall.
«Wie geht es dir?», fragte sie nach und hockte sich auch auf die Matratze.
Ich konnte ihr ansehen, wie gerne sie ihm die Locken, die seine Augen verdeckten, wegstreichen würde.
Doch ihre Entscheidung, es nicht zu tun, war definitiv die bessere. Das gab mir die Möglichkeit, es vielleicht später selbst zu machen.
«Fühle mich gut.» Mein Herz klopfte dreimal so schnell, als ich seine Hand neben meinem Bein spürte.
Mein Blick blieb an den Stoffarmbändern hängen. Ich wusste nicht, dass Dario Armbänder trug.
Ein paar sahen wie Eintrittsbänder für Partys und Raves aus. Andere waren einfach geflochtene Armbänder, die einige in der Station immer gerne in der Therapie machten. Xenia und Marla mussten ihm wohl ein paar geschenkt haben.
«Und mental?» Mom legte eine Hand auf seinen rechten Unterarm und hoffte auf eine ehrliche Antwort.
«Habe keine Schmerzen», kam es bloß von Dario, während er zu mir schielte, da ich mich nicht beherrschen konnte und mit den Enden, die bei seinen Armbändern abstanden, zu spielen begann.
Seine Hand verkrampfte sich und ich konnte förmlich sehen, wie die Sehnen in seinem Handgelenk hervorragten. Es passte ihm nicht.
Dafür brauchte ich kein Bachelor in Psychologie oder was auch immer.
Das konnte ich ihm auch einfach so ansehen, weshalb ich aufhörte und einfach die Spannung aus seinen Fingern zu nehmen versuchte, in dem ich unauffällig nach seiner Hand griff.
Warum verstecken, dass ich ihn mochte, wenn es verdammt nochmal jeder hier wusste? Sogar er selbst wusste es ja.
«Das Toledo Center hat sich gemeldet und aufgrund deines Zustandes abgelehnt. Sie empfinden einen fixen medizinischen Aufenthalt hier im Krankenhaus für sinnvoller.»
Mom legte ihre zitternde Hand um Darios Armbänder und griff sanft zu. Ihr Daumen strich über die Innenseite, die der Italiener dann schweigend an sich heranzog und rieb.
Ein beschämter Blick. Mehr nicht.
Hmm... Jetzt kann es eigentlich nur noch besser für Dario werden, oder? Was denkt ihr?
Ey, krass. Das Buch hat schon die 7k geknackt!
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