Ich war wieder vollkommen nüchtern und hatte Dads böse und strenge Worte einigermaßen unversehrt überlebt, doch ich hatte einen riesigen Dorn im Auge. Und der hieß Harmony. Das ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Vor allem nicht mehr, seit ich letzte Nacht komplett Revue passieren lassen hatte und endlich verstand, was passiert war und was Dario herausgefunden hatte.

Das Schlimmste von allem war, dass ich verdammte Minuten davor entfernt war, es Dad einfach zu sagen. Ich hatte eben gegoogelt und gelesen, dass sexueller Missbrauch auch von Drittpersonen gemeldet werden konnte, doch ich hatte Angst, Dario so zu verlieren.

Ich meine, Harmony musste gemeldet werden und er wieß keinerlei Anzeichen auf, es melden zu wollen. Aber warum?

Ich- Ich musste das mit ihm besprechen. Mein Handy hatte ich nur mit Mühe und Not behalten dürfen. Hausarrest hatte ich trotzdem wieder. Aber damit würde ich schon klarkommen. In erster Linie war Dad einfach nur froh darüber gewesen, dass ich heil nach Hause gekommen und nicht komplett allein unterwegs gewesen war.

Ich hatte ihm auch klipp und klar gesagt, dass die passierten Dinge von letzter Nacht, allein meine Schuld waren und ich Dario in den Mist mithineingezogen hatte. Dad hatte mir geglaubt. Er hatte sich schwergetan, aber mir schlussendlich geglaubt.

Ich rief Dario an. Erstens, um zu schauen, ob er noch lebte und zweitens, weil ich das mit ihm wirklich besprechen wollte und vor allem musste. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, ehrlich mit ihm zu sein. Er musste wissen, dass ich es melden wollte.

«Micina, jetzt ist gerade schlecht», waren die ersten Worte, die ich zu hören bekam und im Hintergrund hörte ich Giorgias aufgebrachte Stimme. Dario klang müde. Schwach... «Alles okay?» «Ja ja... Spüre bloß ein bissen, was ich letzte Nacht angerichtet habe.»

Ich verzog mein Gesicht. Übergeben hatte ich mich vor Kurzem auch noch, doch Dad hatte mir was gegeben, was mir helfen sollte und ta da, I'm feeling better.

«Kannst du jetzt also nicht reden?» Ich hörte Dario seufzen und Sekunden später die Tür zu knallen. «Jetzt schon. Ist etwas passiert? Wie sehr hasst mich dein Dad jetzt?» «Gar nicht. Er weiß, dass das alles auf meinen Mist gewachsen ist.»

Kurze Stille. Ich konnte lauschen, wie Dario etwas auspackte. «Was machst du?» «Kaugummi auspacken.» Ah okay. Moment... Kaugummi? «Kaugummi?» «Ja, ein neuer Anlauf, mich ans Essen zu gewöhnen.» Ach echt? Und das könnte funktionieren? «Habe es noch nicht versucht, aber wird wohl an der Zeit. Sonst streicht Kelly meine Kippenpausen.»

Ich hatte sein Schmunzeln und das leichte Augenverdrehen vor Augen. «Gib mir dann aber Bescheid, wie es läuft, okay?» «Klar, aber worüber willst du reden?» Ich wandte mich an meine Zimmertür und versicherte mir, dass ich sie eben zugemacht hatte. Ich hatte den Schlüssel gedreht. Daran konnte ich mich erinnern.

«Über Harmony. Das lässt mich nicht mehr in Ruhe, Dario.» Das Rascheln hörte auf. Er musste in seiner Bewegung innegehalten haben. «Was willst du wissen?» Ich seufzte und hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich dieses Gespräch ins Rollen bringen sollte. «Weißt du noch, was du an diesem Abend anhattest?» «Ja...» «Und wurden die Klamotten gewaschen?» «Nein, die liegen in meinem alten Zimmer bei Santiago. Waru-» Ich biss mir in meine Unterlippe.

Wenn sie ungewaschen waren, hatten wir ein Beweismittel mehr, mit dem wir Harmony umzingeln konnten. Vor allem, weil es schon etwas länger her war. An seinem Körper würden wir keine DNA mehr finden können. «Noè, vergiss es.» «Dario, du musst das melden!» «Muss ich nicht! Weißt du, wie verdammt peinlich das ist?! Ich, ein Typ, misshandelt von einer Frau. Am Schluss heißt es noch, ich kann mich glücklich schätzen. Du weißt, wie das läuft.»

Er übersah einen sehr wichtigen Punkt. «Du warst zu dem Zeitpunkt 14, oder?» «Es war vielleicht ein Tag vor meinem 14. Geburtstag, Noè... Ich bin mir nicht mehr sicher, aber sicher zu dieser Zeit.» Mir kam's hoch, doch ich versuchte mich zu beherrschen.

«Du übersiehst, dass du mit 13 oder 14 ein verdammtes Kind warst, Dario. Und, wenn Ronan heute 18 ist, dann ist Harmony nun 21. Das heißt für mich, dass sie zu diesem verdammten Zeitpunkt 18 oder sogar schon 19 war, Dario!» Ich musste aufstehen und im Kreis gehen, sonst würde ich noch den Verstand verlieren.

«Na und! Ist trotzdem verdammt peinlich!» War es nicht! Es war nicht peinlich! Es war falsch, unmoralisch und verdammt nochmal eine Straftat. Sie hatte ein Kind missbraucht! Sie galt zu diesem Zeitpunkt schon als Erwachsene, oder?

«Dario, das war nicht nur sexueller Missbrauch zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Kind und Frau! Und selbst wenn, beides ist schlimm und muss bestraft werden!» Ich hörte ihn seufzen und ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er sich seine Stirn und dann seine Augen rieb. «Ich will das nicht melden, Noè.»

«Dario, du wurdest von Harmony misshandelt. Es tut mir leid, aber wenn du das nicht melden willst, dann werde ich das irgendwann tun. Ich weiß, du hast Angst und du schämst dich, aber denk doch auch mal daran, dass sie das mit anderen machen könnte. Was, wenn sie das noch mit vielen anderen Jungs tut und so immer mehr Leben zerstört?!»

Ich schaute aus dem Fenster und erschrak mich zu Tode, als ich Dad in der Reflexion sehen konnte. Er stand im Türrahmen und sah mich aus schockierten Augen an.

Mir blieb die Luft weg und ich verpasste sogar Darios Antwort. Oh nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Ich hatte die Tür doch abgesperrt! Sie war zu. Zu 100%! Hatte Dad nun mitbekommen, was ich eben gesagt hatte?

«Noè?» «Hmm? Ja?» «Ich weiß, dass ich sie melden soll, aber ich brauche noch Zeit. Gib mir diese bitte. Und sag es bitte niemandem. Bitte. Es schauen mich eh schon alle so an, als hätte ich die Hölle gesehen und sei ein kleiner Schwächling. Da brauche ich diesen Blick nicht auch noch.»

«Eh, ja. Klar, tut mir leid. Mich nimmt das halt auch sehr mit. Ich will, dass du einen Abschluss und Neustart bekommst. Ich will, dass sie Konsequenzen für ihre Taten bekommt.» Dario stimmte mir kleinlaut zu, doch ich musste ihm dann sagen, dass mein Dad mich gerufen hatte, ich mich aber später nochmals bei ihm melden würde.

Und diese 10 Sekunden nachdem ich aufgelegt und Dad einfach nur stumm angeschaut hatte, waren der pure Horror gewesen. Er hatte es gehört, nicht wahr? Mist. Verdammter Mist. Und genau dann sagt mir Dario auch noch, dass es niemand sonst wissen durfte. Ich steckte in der Scheiße. Und zwar verdammt tief, denn ich wusste, dass Dad nun Antworten wollte.

Er zog meine Zimmertür zu und dirigierte mich auf mein Bett. Er machte es sich an meinem Schreibtisch bequem und rieb sich geschaffen das Gesicht, bevor er irgendwie versuchte, dieses Gespräch zu starten. «Ich- Ich habe dich eben schon richtig verstanden, oder?»

Ich zuckte mit den Schultern und mied den Blick meines Vaters. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht lügen. «Kommt darauf an, was du gehört hast.» «Noè, wir beide wissen, was du gesagt hast und ich will jetzt klipp und klar von dir hören, worum es geht!» Ich schluckte und verzog mein Gesicht schmerzverzerrt.

Scheiße, ich durfte Dad das nicht sagen, aber er wusste es doch nun eh schon, oder? Er hatte mich gehört und er wusste, um wen es ging. «Dad, das darfst du niemandem sagen, okay? Dario will das nicht. Er braucht Zeit.» Dad schüttelte seinen Kopf und rückte mit dem Stuhl näher an mein Bett heran. «Er wurde misshandelt?!» Es fiel mir schwer, doch ich nickte ganz, ganz leicht. Es war kaum sichtbar. Scheiße. Wirklich. Verdammte Scheiße.

«Du erzählst mir jetzt alles, Noè. Ich werde Dario nicht darauf ansprechen, aber ich muss so etwas wissen.» Ich schüttelte meinen Kopf und seufzte, «Warum musst du das wissen? Ob du das wissen musst oder nicht, liegt in Darios Händen, Dad.»

«Sag mir, wer Harmony ist und wann das passiert ist, Noè. Mehr nicht.» Mir wurde schlecht. Das konnte Dad nicht von mir verlangen. Ich konnte Dario nicht so hintergehen. Bei Kelly war es etwas anderes gewesen. Sie hatte ärztliche Schweigepflicht. Bei ihr waren meine Worte und Geheimnisse sicher. Doch bei Dad war ich mir da ehrlich gesagt nicht so sicher. «Noè! Jetzt! Sag es mir!»

Tief in mir drinnen, wusste ich, dass ich dieser Situation nicht mehr entkommen konnte, doch ich wollte dagegen ankämpfen. Ich musste Dario schützen.

Doch egal wie lange ich schwieg, Dad blieb vor mir und wartete, bis ich brach und ich tat es nicht gerne, doch dieser Mann vor mir gab mir keine verdammte andere Wahl und ich hoffte zutiefst, dass Dario dies dann auch verstehen würde.

«Er wurde kurz vor seinem 14. Geburtstag auf einer Party sexuell missbraucht. Er war so betrunken und high, dass er sich erst wieder vor Kurzem durch seine Alpträume daran erinnern konnte. Und letzte Nacht habe ich ihn aus Versehen getriggert und er konnte sich nun endgültig an die Täterin erinnern. Harmony Mercy. Ronan Mercys große Schwester. Ronan ist Giorgias Exfreund. Zurzeit vom Übergriff war Dario 13 oder 14 und diese Harmony 18 oder 19.»

Dad schwieg. Er sah mich einfach an und dann auf einmal sackte er in die Lehne meines Stuhls und hielt sich zusammengekauert das Gesicht. «Lieber Gott, warum gibst du diesem Jungen keine Pause? Was kommt noch?» Dad sprach mir aus der Seele.

«Wer weiß das alles, Noè?» «Ich, Kelly vereinzelt und halt Dario selbst. Plus, du jetzt noch. Das darf wirklich niemand wissen. Dario will das eigentlich gar nicht melden. Er schämt sich dafür.» «Was? Warum?» «Weil er ein Junge ist.» «Das ist Schwachsinn. Er war zu dieser Zeit doch ein verdammtes Kind. Verdammt, in meinen Augen ist er jetzt noch eins.»

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen oder denken sollte, weshalb ich mich in die Matratze fallen ließ und meine Arme von mir streckte. «Weißt du, was wir jetzt machen, Noè?» Ich hievte mich hektisch hoch und verneinte direkt alles, was Dad sagen wollte, doch er stoppte mich. «Wir sagen es niemanden. Das liegt Dario zu. Aber wir sammeln verdammt nochmal alles, was wir über diesen Vorfall noch finden können. Kleider, Fotos, Zeugen und so weiter. Und dann, wenn Dario sich dazu bereit fühlt, schlagen wir zu.» Ich nickte zögerlich. «Die Kleider, die er getragen hat, liegen in seinem alten Zimmer bei Santiago. Ungewaschen.»

Dad zeigte auf mich und schnippte mit dem Zeigefinger. «Unser zweitstärkstes Beweismittel. Die können DNA und Haare von dieser Harmony drauf haben. Auch noch nach fast 2 Jahren.» «Zweitbestes?» «Dario selbst ist, so dumm und gemein es nun auch klingen mag, unser stärkstes Beweismittel. Er leidet unter PTSD und schlimmen Alpträumen, oder?» Ich nickte und Dad landete wieder in der Lehne meines Stuhls.

Ich denke, er hatte gerade realisiert, was sonst noch alles in Dario vorging. Noch viel mehr. Ich denke, Dad fragte sich gerade dasselbe, wie ich schon seit Wochen tat: Wie viele Traumata wollte man einem einzelnen noch Jungen geben?

Irgendwie war es verdammt scheiße, dass Dad nun davon wusste, doch auch einfacher für mich. Dad wusste, wie man vorgehen musste und was es bedeutete, jemanden mit sexuellem Missbrauch zu beschuldigen. Es mochte nun schlimm klingen, doch dies war nicht der erste Fall in Dads Akte, wo er sexuelle Übergriffe an Minderjährigen zu rächen versuchte. Es passierte leider viel zu oft. Allgemein passierten diese Dinge zu oft.

Ich fühlte mich unwohl. Allein das Schreiben mit Dario fühlte sich auf einmal falsch an. Und das nur, weil ich ihn irgendwie hintergangen hatte, oder? Aber es war ja eigentlich nicht direkt meine Schuld gewesen, oder? Verdammter Mist. Ich musste mit Dario nochmals darüber sprechen und ehrlich sein.

Ich war mir sicher, dass er meine Ehrlichkeit schlussendlich schätzen würde. Und da ich Hausarrest hatte und ihm das nur schwer persönlich beibringen konnte, plagte mich die Angst, ihn stinksauer zu machen. Und dann würde er mir nicht mehr antworten oder komplett allein sein.

Ich hatte Angst. Aber ich hatte irgendwie gar keine andere Wahl mehr. Ich hatte ihn darum gebeten, mit mir ehrlich zu sein. Da musste ich genauso ehrlich mit ihm bleiben.

Ich zitterte, aber wählte seine Nummer dann doch. Es klingelte wenige Male, bis er dann ans Handy ging. «Noè, was ist jetzt schon wieder?» Ich versuchte nicht lange um den Brei herumzureden. «Mein Dad hat uns darüber reden hören.»

Wie Dario wohl reagieren wird?
Was denkt ihr?