21. Kapitel
«No!» Ich entriss mich Noès Griff um mein Handgelenk und blieb trotzig stehen. Wieso mussten wir diesen eher schönen Abend mit so einer Scheiße ruinieren? Ich schüttelte meinen Kopf und kämpfte gegen die Welpenaugen meiner Freundin an.
«Komm schon, Dario. Deiner Großmutter zuliebe.» Diese war mir durchaus egal, wenn es darum ging, einen ganzen Abend am selben Tisch wie Mom und ihrem Typen zu sitzen. Ich blieb stur und wollte gehen, doch Noè umarmte mich von hinten und streichelte mir über meine Brust, die innerlich zu explodieren drohte.
«Nur 5 Minuten. Danach gehen wir wieder und dann wir können unsere Zweisamkeit genießen, einen Film am Laptop gucken oder auch einfach schon schlafen gehen.» Ich hatte die Augen zu und versuchte, meinen Puls zu regulieren. Das würde nicht gut gehen. Ich wollte keine Therapiestunde mit meiner Mutter haben. Ich wusste, dass ich sie danach nur noch stärker hassen würde.
Ich seufzte und langte zitternd nach Noès Händen, um mich sie haltend zu ihr umdrehen zu können. Ich blickte runter in ihre Augen und hoffte, dass sie mich und meinen Ausdruck verstehen konnte. Ich wollte das gerade nicht. Ich trug einen feinen Schweißfilm und war etwas an der Grenze, was meinen Geduldsfaden anging.
Ich hatte heute Mittag den letzten Joint geraucht und nun auch kein Geld mehr für mehr Weed. Noè würde mir niemals Geld leihen, damit ich mir Drogen kaufen konnte. Ich brauchte was zum Rauchen und keine Sprechstunde mit meiner Mutter und meiner Großmutter.
«Noè, bitte. Ich will das heute nicht.» Sie musterte mich und ließ die Schultern in sich zusammenfallen. Ich war ehrlich und versuchte ihr klarzumachen, was ich jetzt im Moment für richtig hielt. Und ich wusste, dass es falsch wäre, runter in die Küche von Nella zu gehen. «Okay... Ist okay. Ich verstehe dich. Lass nach oben gehen. Film?»
Ich konnte wieder durchatmen und nickte erleichtert. «Was wollen wir schauen? Ich könnte dir einen guten Anime zeigen, wenn du willst? Demon Slayer. Kennst du den schon?» Ich schüttelte meinen Kopf und lief mit Noè zusammen zurück zu den Treppen, die uns nach oben führen würden, doch Antonella tauchte höchst erfreut vor uns auf und klatschte laut in die Hände.
Ich begann gleich den Kopf zu schütteln, um ihr klarzumachen, dass Noè und ich nicht kommen würden, doch nichts half. «Ihr beide müssen kommen! Ich habe leckere Tiramisu gemacht! Und Noè, ich musse dir zeigen, wie gute Cappuccino gehen.» Ich konnte ihr sagen, was ich wollte, sie ließ unsere Hände nicht mehr los und zog uns runter in ihre kleine Küche, in der meine Mutter und der andere am Tisch saßen und leise miteinander redeten.
Ihre Blicke landeten auf uns und Theo lächelte vorsichtig. Er war der Erste, der sich zu rühren wagte, während meine Großmutter Stühle und Teller zurechtschob, damit es für jeden was zum Sitzen und Essen gab. Das waren ihrer Meinung nach die wichtigsten Dinge im Leben... «Kommt, setzt euch. Wollt ihr auf die Sitzbank?»
Noè winkte ab und zwang mich in den Stuhl vor Mom. Gute Wahl. Dieser Theo brauchte keinen Meter näherzukommen. «Wart ihr schon was essen?», fragte dieser Dude nach und Noè bejahte. Sie hatte uns oben was Kleines gekocht. War okay... Viel hatte ich nicht gegessen, aber genug für heute. Mir war eh übel, weil es mir in den Fingerspitzen kribbelte und ich eigentlich auf Reserve lief.
Ich brauchte irgendetwas, was mich von der Kippe riss und mich davor abhielt, so eine kurze Zündschnur, was meine Nerven anging, zu haben. Meine Großmutter war die Glücklichste von uns allen, doch sie realisierte schnell, dass die Luft hier drin ziemlich dick war. Die kleine Küche drohte zu zerbersten.
Ich fühlte mich richtig unwohl und hörte einfach Noè zu, die versuchte Smalltalk zu führen. Ich denke, ihr Ziel war es so lange zu reden, bis man uns wieder gehenlassen würde. Und zusätzlich bewahrte sie mich vorm Sprechen, was sicherlich auch nicht verkehrt war.
Ich hatte nicht viel zu sagen, doch das, was mir auf der Zunge lag, war alles andere als freundlich und gut für meine Beziehung mit meiner Mutter. «Und du, Dario? Alles gut?» Ich schaute rüber zu Theo und zuckte mit den Schultern. «War alles akzeptabel, bis ihr aufgetaucht seid.»
Meine Mutter ließ ihre Hand mit dem kleinen Löffel auf den Tisch knallen und sah mich warnend an. «Dario...» «Was? Kelly meinte, ich soll ehrlich sein. Dass ihr hier seid, ist verdammt rücksichtslos und scheiße.» Noè seufzte und sank tiefer in ihre Lehne.
«Du kannst aber auch verstehen, warum ich hier bin, oder? Meine Mutter ist hier und ich weiß nicht, wann ich sie das nächste Mal wiedersehen werde.» Ich verdrehte meine Augen und nickte widerwillig. Das konnte ich schon verstehen. Schließlich war ich kein Kleinkind mehr, doch ja...
«Vielleicht ist ja auch was Gutes, wenn wir uns hier mal unterhalten», fügte der Spast meiner Mutter hinzu und ich sah rüber zu Noè, die unsicher mit den Schultern zuckte. «Ich meine, klar. Aber im Moment ist es vielleicht eher ungünstig.» «Wieso?» «Na ja... Dario und Samantha sind beim letzten Gespräch ja nicht wirklich gut auseinander gegangen.»
Mom wirkte verwirrt und sah mich verwundert an, doch ich ließ meinen Blick sinken und biss mir beschämt auf der Unterlippe rum, bis Noè mich sanft stoppte. Theo hatte einen anderen Eindruck gehabt wie Noè: «Echt? Also ich habe es so mitbekommen, dass Dario sich aussprechen konnte und Sam ihm einfach mal nur zugehört und ihm einen Ratschlag gegeben hat.»
Ich rückte unbeholfen in meinem Stuhl hin und her und verzog meinen Mund. Genau das wollte ich nicht. Darüber wollte ich gerade ganz und gar nicht reden. Noè zögerte, doch ich nahm ihr die Entscheidung ab und ging den Schritt selbst. «Vielleicht war das so für Mom, aber definitiv nicht für mich...»
Mom drehte sich energisch zu Theo. «Siehst du?! Ich wusste, dass diese Art von Vorgehen bei meinem Sohn nicht die richtige ist!» Jetzt war es Noè, die das Gesicht verzog und Luft holte. «Heißt das, du befolgst ein Lehrbuch, um mit deinem Kind umgehen zu können?»
Mom stockte, schüttelte dann aber hastig den Kopf. «Ich dachte, es sei das Richtige, Dario diesen Freiraum zu lasse- Dario, ich wollte dir zeigen, dass ich deine Worte ernst genommen und in mir aufgenommen habe. Wie kam es denn rüber?» Ich schwieg und mied ihren Blick.
«Dario?» Ich wollte ihr nicht sagen, dass es mich zu Grund und Boden gerissen hatte. Noè blieb auch still und aß etwas von ihrem Tiramisu. «Dario, was ist nach unserem Telefonat geschehen?» Ich zuckte mit den Schultern und deutete meiner Freundin, dass wir gehen würden, doch meine Mutter tat wieder dasselbe wie immer. Sie wurde gefährlich aufdringlich und nervig.
«Dario, hast du dich danach verletzt?» Ihre Frage war wie ein Schlag in die Magengrube. «Nein! Nein, habe ich nicht! Komm, Noè! Ich habe keinen Bock mehr!» Ich stand auf, doch Noè blieb sitzen und schaute kurz rüber zu Theo, der ebenso sitzen geblieben war. Nicht deren ernst...
Meine Mutter war aufgesprungen, um mich vorm Flüchten zu stoppen. «Was dann? Rede doch verdammt nochmal mit mir!» «Ich will nicht reden! Verstehst du das denn nicht?!» «Dario, ich versuche das Richtige zu tun! Was muss ich tun, damit du dich mir einmal richtig öffnest?» «Verschwinden. Lass mich einfach in Ruhe. Ich bin verdammte 15 Jahre ohne dich klargekommen. Ich brauche dich nicht mehr.»
Ich versuchte das ruhig und nicht allzu laut zu sagen. «Und komm mir ja nicht mit dem Familienscheiß und so! Ich hatte verdammte 13 Familien und alle haben mich nach mindestens 2 Wochen zurück zu Rosie gebracht! Sowas wie Familie und familiäre Zuneigung gibt es nicht!» Meine Mutters Miene zerfiel. Sie war eben etwas wütend gewesen, doch diese Wut war verflogen.
«Niemand wollte mich, also warum zum Teufel sollte sich heute etwas geändert haben? Du hast verdammte 15 Jahre gebraucht, um zu raffen, dass deine Kinder keine Mutter haben, und jetzt denkst du, du kannst auf einmal die geborene Erzieherin sein, weil du einen Typen mit zwei anderen Kinder aufgegabelt hast und seine Kinder auf dich hören, oder was?!»
«Gib mir doch eine Chance, Dario... Ich habe dich immer geliebt und tue es jetzt immer noch. Du kannst von mir nicht verlangen, direkt alles zu können und alles zu wissen.» «Ich verlange gar nichts von dir. Ich will einfach, dass es aufhört. Ich krieg's ja nicht einmal hier in Tropea auf die Reihe, besser zu werden. Und dann kommst du und legst noch einen drauf. Willst du, dass ich zugrunde gehe?» «Nein, will ich nicht. Es tut mir leid.»
Ich winkte ab und anstatt hoch in unser Appartement zu gehen, lief ich den Flur runter und verschwand im Badezimmer von meiner Großmutter, wo ich mich einsperrte und mir das Gesicht wusch, bis die Hitze von meiner Stirn wich.
Meine Mutter klopfte an die Tür und bat darum, sie reinzulassen, doch ich ignorierte sie. Mich hier einzusperren, war nicht wirklich meine Art, doch ich wollte einfach weg von ihr. Ich stand unter enormen Strom und wollte nichts tun, was ich später bereuen würde.
Ich wollte einfach, dass es leise wurde. Die Stimme meiner Mutter musste verstummen. Genauso, wie diese in meinem Kopf, die mir vorwarfen, gerade alles falsch zu machen und ein Monster zu sein.
Mir ging die Pumpe und ich musste mich schwer atmend, fast schon hechelnd, auf den Boden neben die alte Badewanne setzen und die Ohren halten. Vielleicht würde das Rauschen dann leiser werden. «Samantha, das, was du jetzt machst, macht's nicht gerade besser.» Noès Stimme drang durch dieses Chaos hindurch und ich versuchte, mich an ihr festzuhalten, um jetzt ja nicht die Fassung zu verlieren.
«Er hat angefangen. I-Ich will für ihn da sein! I-ich-» «Dario?» Ich lauschte und hielt mich doller an ihrer Stimme fest. «Lio, alles okay?» «Mhm», gab ich von mir, um Noè zu zeigen, dass ich noch lebte. «Lio?» Meine Mom. «Du nennst ihn Lio?» Es riss an mir rum, wenn sie Lio aussprach.
Sie katapultierte mich damit zurück in die alte Drogenhütte, in der ich zur Welt gekommen war. Dieses Lio war das einzige Licht in meinem Leben gewesen. «Eh- Spielt das eine Rolle?» Noè wirkte verwirrt, wartete aber nicht wirklich auf meine Antwort.
Antonella kam dazu. Das konnte ich an ihrem speziellen Gang heraushören. Sie fragte, was los war und kapierte dann schnell, dass jemand in ihrem Badezimmer mit einer schwachen Panikattacke zu kämpfen hatte. Ich hatte mich im Griff. Ich musste sie einfach aussitzen und schauen, dass es keine schwere wurde.
«Dario? Ciccino?» Ich verzog mein Gesicht und wimmerte leise auf. Ich wollte gerade einfach allein sein. Diese Leute da draußen verdienten es nicht, jetzt mit mir klarkommen zu müssen. Die Bombe tickte und ich wollte sie vorm Hochgehen bewahren.
«Iche gehen rein. Ihr essen in der Küche fertig.» Nein, nein, nein. Keiner durfte reinkommen. «Mamma, fammi entrare per vederlo.» «No, tu è l'ultima persona che vuole vedere in questo momento. Andate ora!»
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und versuchte, tief durchzuatmen. Ich bekam gar nicht mit, wie die Badezimmertür von außen aufgesperrt wurde und plötzlich meine Großmutter vor mir am Boden saß und mich besorgt musterte.
«Avete un attacco di panico?» Ich schüttelte meinen Kopf, doch das Zittern meiner Finger war kaum mehr zu verstecken möglich. Nella grummelte etwas, rackerte sich mühevoll vom Boden hoch und machte etwas beim Waschbecken. «Sei raggiante. Lo fate spesso?»
Ich konnte nicht antworten und sah nur zu, wie sie mir einen nassen Lappen auf den Nacken legte. Ihr Blick blieb an mir kleben und sie bemerkte die bebenden Lippen, die rot unterlaufenen Augen und den trocknen Hals. «Sei in astinenza?» Ich wollte verneinen, doch sie war sich bereits sicher.
«Suo nonno ha avuto problemi simili. Con lui è stato l'alcol.» Ich schloss meine Augen und ließ meinen Kopf nach vorn fallen. Der ganze Stress mit meiner Mutter machte es nur noch schlimmer. Ich hatte richtig krassen Drang.
Und die Tatsache, dass ich so instabil unterwegs war, machte mich fertig. Wie nervig musste das bitteschön für andere sein? Einmal so und dann gleich wieder so. Vor zwei Stunden hatten Noè und ich gelacht und gemeinsam geduscht und jetzt schon wieder so eine Scheiße. Klar, mochte mich niemand, wenn ich so war.
«Ero dipendente dalle pastiglie, ma ora non più. Al momento fumo marijuana e sì... Non ho fumato nulla per qualche ora...» Meine Großmutter sah mich bemitleidend an und langte nach meinen Haaren, um sie mir von der verklebten Stirn zu streichen.
«Ne ha passate tante, vero?» Ich blieb still und schämte mich dafür. «Sono cose che succedono. Non dovete vergognarvi di questo. Potete gestire tutto.» Wenn sie meinte. Ich holte verkrampft Luft und bemerkte eine kleine Statur im Türrahmen. Noè...
«Hi», hauchte sie sanft, als sie sich zu mir hinkniete und nach meiner Wange langte, um sie vorsichtig zu halten. «Wie wäre es, wenn wir jetzt wirklich nach oben gehen?» Ich nickte erschöpft und nahm mir den Lappen vom Nacken. Nella langte danach und legte ihn ans offene Fenster.
«Passe auf ihne auf, ja?» Noè lächelte vorsichtig und nickte, als sie mich auf die Beine zog. «Iche gleich hier unten, wenn ihr wasse brauchen.» Noè bedankte sich bei ihr und lief dann mit mir nach oben. Meine Mutter war weg. Nichts Neues, oder?
Oben warf ich mich Kopf voran ins gemachte Bett und grummelte nur irgendwas rum, wenn Noè mir Fragen stellte. «Morgen mieten wir ein Boot und gehen einfach den ganzen Tag raus aufs Meer. Und übermorgen fliegen die beiden schon wieder zurück. Dann sind sie weg», meinte sie nur und setzte sich zu mir ans Bett.
Ich winkte genervt ab und kuschelte mich tiefer ins Bett, bis mich die Klauen endlich zurück in die Realität fallen ließen und ich wieder komplett durchatmen konnte. Die Angst war weniger geworden. Der Stress hatte sich zurückgezogen. Es waren wieder nur ich und Noè. Ein sicheres Umfeld. Mein Umfeld. Mehr brauchte ich nicht...
«Danke...» Ich drehte mich zu Noè um und sah sie verwirrt an. Warum bedankte sie sich? «Ich bin dir so verdammt dankbar dafür, dass du nicht aufgibst. Ich könnte das nicht...» Ihre Stimme wurde immer brüchiger. «Ich könnte das überhaupt nicht. Du musst mit so vielen Dingen klarkommen und du bist noch da... Du bist verdammt stark und ich bin so froh darüber.»
Sie lächelte traurig und legte sich zu mir ins Bett, wo sie federleicht nach meiner Wange griff und sie sachte streichelte. Ihr plötzliches Geständnis warf mich etwas aus der Bahn, doch ich schätzte es sehr, wie ehrlich sie gerade war. Sie musste nicht immer verstecken, dass sie Angst hatte oder sich große Sorgen machte.
Wenn sie diese Sachen mit mir teilte, fühlte ich mich wahr- und ernstgenommen. Noè tat das nicht immer. Manchmal trug sie diese selbstsichere und zielstrebige Maske, die mir das Gefühl geben sollte, dass sie wusste, was sie tat und tun musste. Doch das tat sie nicht. Sie wusste nicht immer, was das Richtige war. Sie musste nicht immer die Starke von uns beiden sein.
Und irgendwie... Ihre Ehrlichkeit gab mir den Mut, den ich brauchte, um Dinge sagen zu können, die ich eigentlich nicht aussprechen wollte. «Noè...» Sie blinzelte mir müde entgegen und ließ meine Wange wieder los, um sich tiefer ins Kopfkissen kuscheln zu können. «Ich habe auch Angst... Sehr große sogar. Denn ich bin jetzt zwar noch da, aber ich habe keine Ahnung, was ich morgen von der Sache halten werde oder was sonst noch passieren wird.»
Ich seufzte und drehte mich auf den Rücken, um an die Decke schauen zu können. «Es fühlt sich mittlerweile so an, als wäre ich gar nicht mehr ich selbst. So, als würde ich von außen zuschauen und es gar nicht mehr selbst erleben.» «Das ist dein Schutzmechanismus. Den habe ich auch...»
Ich schaute zu ihr rüber. «Schutzmechanismus», murmelte ich dann und lachte leise auf. «Fühlt sich nicht so an.» «Same...» Noè kuschelte sich tiefer ins Kissen und zog sich die Decke bis übers Kinn hoch. Ich konnte nicht anders und erblickte den auf einmal verdammt traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht.
Noè war nicht okay, doch ich hatte keine Ahnung, was ich tun musste, um ihr eine Hilfe und Stütze zu sein. Ich konnte mich nicht einmal selbst halten und das allein regte mich zutiefst auf. Klar, ich war ein Suchti, hatte Borderline, eine Essstörung und PTSD, aber... Das machte Noès Schmerz nicht minder als meinen.
Sie hatte ihre Mutter verloren. Ich wünschte, ich könnte sie verstehen und ihr wirklich helfen können. Mehr als für sie da zu sein, lag nicht in den Karten. Ich wünschte, es gäbe mehr, doch... Ich meine, allein, dass ich da war, war nicht die ideale Situation für sie. Ich war nur ein weiterer Stressfaktor, der sie davor abhielt, in der Trauer um ihre Mutter, unterzugehen.
«Wie fühlst du dich?», fragte ich leise und buddelte sie wieder aus der Decke aus. Ich befand mich hier in komplettem Neuland, doch diese Frage hatte ich meiner Freundin, glaube ich, noch nie direkt gestellt. Es war an der Zeit, dass ich ihr auch einmal zuhörte.
«Etwas müde, aber ansonsten geht es mir gu-» «Noè...» Ich strich ihr sanft, aber auch etwas traurig lächelnd, die Haare aus dem Gesicht. «Sei ehrlich.» Sie schaute zu mir auf. Unsicherheit. Sie war unsicher und irgendwie auch verwirrt. «Du kannst mir nicht sagen, dass es dir gut geht... Nicht jetzt. Ich bin zwar nicht mehr ganz dicht, aber nicht dumm.»
Sie grinste aufgrund meiner Wortwahl auf, doch wurde gleich wieder ernst. «Vielleicht bin ich im Moment etwas verloren. Neben der Spur.» «Seit wann?» «Weiß nicht... Irgendwie immer wieder ein bisschen, aber seit dem Abend, an dem du dich umbringen wolltest, habe ich einfach durchgehend Angst-» «Dass ich wieder so ausraste?» «Nein, dass ich dir nicht im richtigen Moment helfen kann.» Sie bekam glasige Augen.
«Deine Loyalität ist deine beste, aber auch deine schlechteste Eigenschaft an dir.» Ihre Loyalität mir gegenüber zwang sie nach und nach immer weiter in die Knie. «Ich weiß, wieso du das sagst und nein, ich bin stolz darauf, so loyal zu sein. Ich kann und werde die Leute, die ich liebe, nicht einfach fallen lassen. Dich schon gar nicht.»
Ich seufzte und befeuchtete mir meine Lippen. «Du wirst es schaffen, Dario. Ich weiß das und glaube auch fest daran.» «Vertausche Loyalität nicht mit Naivität, Noè.» Sie wollte nachfragen, was ich meinte, doch ich war schneller.
«Wenn's für mich besser werden sollte, dann wäre das schon lange passiert. Kralle dich nicht daran fest. Das ist naiv. Ich bin nicht die Art von Person, die das ewig mitmachen wird. Ich kenne mich selbst nicht wirklich gut und habe keine Ahnung, wer ich bin und was ich werden soll, doch ich höre die Bombe ticken. Irgendwann werde ich komplett durchbrechen und mich vollkommen verlieren und ich will nicht, dass du dir das mitansehen musst.»
Dieses Gespräch war anders. Noè und ich hatten unsere Schleusen unten und wir redeten dem anderen nicht gut zu und versuchten, ihn zu trösten. Wir waren ehrlich miteinander. «Denkst du denn, dass es noch tiefer geht als jetzt?»
Ich zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht, wie tief ich fallen kann, doch ich will nicht, dass du noch weiter fällst als du eh schon bist. Das ist es für dich nicht Wert. Ich weiß, dass du stark bist und deine Mutter stolz machen kannst, obwohl sie es schon immer war und immer noch ist.» «Ich werde dich nicht fallen lassen, Dario.» Sie langte nach meiner Wange und streichelte sie mit Tränen in den Augen.
«Micina, du musst nicht alles auffangen, was man dir entgegenwirft... Auch mich nicht. Und-» Ich schluckte verkrampft und wand mich aus ihrer warmen, weichen Handfläche. «Ich muss mich selbst auffangen und das kann ich noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich es jemals schaffen werde. Ich-» Ich traute mich das fast nicht auszusprechen, doch vielleicht brauchte ich doch Hilfe, die ich bis jetzt nie annehmen wollte.
«Ich glaube, ich brauche wieder Medikamente. Wenn wir wieder in Amerika sind, brauche ich dringend neue Medikamente. Nicht nur für mich, sondern auch um die Leute um mich herum zu schützen. Solange ich keine Stabilität finden kann, muss ich sie mir bei den Tabletten holen und-» «Es ist nicht schlimm, Medikamente zu brauchen.»
«Lo so, doch ich beginne schnell, sie dann zu missbrauchen.» «Dafür gibt es auch eine Lösung. Es muss nicht immer alles unbeantwortet bleiben...» Ich verzog mein Gesicht und drehte mich wieder auf den Rücken. «Du verstehst mich gerade nicht.»
«Dann erkläre es mir. Was willst du mir sagen?» Ich schloss kurz meine Augen. Ich denke, niemand konnte mich und meine ausgesprochenen Worte durchschauen. Und die Angst davor, sie zu sprechen, war immens. Ich-
Ich fühlte mich leer und ich hasste mich dafür, Noè nicht helfen zu können. Es killte mich innerlich und ich wollte es töten. Es musste verschwinden und bis jetzt hatte es nur eine einzige Sache geschafft, mir meinen Frieden zu bringen... «Ist egal...»
Was für eine Sache er wohl meint...
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